Tausende Freiwillige springen seit vergangenem Sommer in der Flüchtlingsbetreuung ein, wo der Staat versagt. In die Euphorie, gebraucht zu werden, mischen sich nun Zweifel – auch an sich selbst.
Im Keller des Flüchtlingsheims in der Siemensstraße in Wien, 21. Bezirk, kniet eine erkältete junge Frau. Bianca Lackner, blauschimmriger Lidschatten und abperlender Nagellack in ebendieser Farbe, sucht in Spenderboxen nach Acrylfarben. In den Osterferien will die 29-jährige Wienerin mit den Kindern basteln, die in den ehemaligen Büroräumen von Siemens leben. Will den Syrern, Afghanen, Irakern die Bedeutung des Festes erklären.
Lackner ist mindestens dreimal die Woche da, zum Plaudern, zum Blödeln, um Spenden zu sortieren. Als eine Angestellte des Arbeiter-Samariter-Bunds, der das Heim betreibt, sie bittet, eine Gruppe von Flüchtlingen nach Schönbrunn zu begleiten, sagt sie sofort zu: "Sagt mir nur, wann." Seit September arbeitet Lackner als Flüchtlingshelferin. Ehrenamtlich. Zeitlich geht es sich aus, weil sie seit zweieinhalb Jahren arbeitslos ist. Nur: "Seit ein paar Monaten fühlt es sich nicht mehr so an." Bianca Lackner hat, wie viele Freiwillige, in der Flüchtlingskrise eine neue Aufgabe gefunden.
Mit den Menschenströmen, die im vergangenen Sommer auch Österreich erreicht haben, entstand eine Welle der Hilfsbereitschaft. Tausende Freiwillige sind aktiv geworden auf den Bahnhöfen, an den Grenzen, in Notquartieren. Menschen, die Transporte erledigen, Deutsch unterrichten, mit dem Innenministerium telefonieren. Die Flüchtlinge zu Arztterminen begleiten oder sie gleich bei sich aufnehmen. Sie haben Vereine aus dem Boden gestampft, Eigeninitiativen gestartet, sind Aufrufen großer Organisationen gefolgt. Frauen wie Männer haben sich mobilisiert, Obdachlose, Blinde, Richter, Studenten.
Damit hat die Zivilgesellschaft Aufgaben des Staates übernommen, aus einem Impuls heraus, einem Verantwortungsgefühl. Aber aus der Ausnahmesituation ist längst Alltag geworden und aus der Euphorie des Helfens oft Ernüchterung. Statt die Freiwilligen zu unterstützen, tritt die Politik mit Ideen wie der Umleitung von Spendengeldern in die Staatskassa auf. Es geht aber auch um das, was mit den Einzelnen in diesen Monaten geschehen ist: um Idealismus und Desillusionierung, um Selbstwahrnehmung und Selbstüberschätzung, um das Gebrauchtwerden und um Überforderung.
Montag, 18 Uhr in der Sport- und Funhalle Donaustadt. Junge Burschen aus Syrien, dem Irak, Palästina haben sich Fußballtrikots angezogen und laufen neben ein paar gleichaltrigen Österreichern einem Ball hinterher. Ein Foul, der Schiedsrichter pfeift. Er heißt Joe Schramml, ist Psychotherapeut. Der 59-jährige Rapid-Fan ist Initiator von Play together now, einem Verein, der über Fußball Integration ermöglichen will. Dreimal wöchentlich spielen, Kräfte messen, Deutsch üben: "Fußball hat eine therapeutische Wirkung, wenn auch nicht im klassischen Sinn", sagt er. "Es braucht keine Sprache, die Regeln sind überall dieselben."
Es war im letzten Spätsommer, als Schramml aus dem Urlaub nach Wien zurückkam und mitten in der Flüchtlingskrise landete. Monate zuvor hatte er für eine Jugendgruppe Hallen zum Fußballspielen gemietet, spontan holte er nun Flüchtlinge dazu. "Das positive Feedback, das wir am Anfang bekamen, war überwältigend."
Die Bestätigung von außen pusht jeden Freiwilligen. "Bei der Ehrenamtlichkeit geht es auch um Selbstaufwertung", sagt Dominique Schnötzinger. Auch er sei nicht gefeit davor gewesen, gesteht der Psychologe. Er war beim Train of Hope, einem spontan organisierten Zusammenschluss von vielen Hunderten von Freiwilligen am Wiener Hauptbahnhof, für die Vermisstensuche zuständig. Und er war stolz, als die Initiative im Dezember den Menschenrechtspreis erhielt: "Eine Rückmeldung und eine Bestätigung zu wollen, das ist urmenschlich." Allerdings sei Selbstdarstellung oft nicht fern, sagt er. Menschen, die vor Flüchtlingsbooten Selfies machen, die stolz darauf sind, dass sie 24 Stunden nicht mehr geschlafen haben.
"Hätte mir jemand vor fünf Jahren gesagt, dass ich je so tief eintauche, ich hätte ihn ausgelacht", sagt Bianca Lackner. Die Helfergeschichte der früheren Biologiestudentin, die mit der Schwangerschaft das Studium abbrach, in Büros jobbte und derzeit arbeitslos ist, gleicht vielen anderen: Auf Facebook sieht sie den Aufruf, am Wiener Hauptbahnhof zu helfen. Ihre neunjährige Tochter ist gerade in der Schule, spontan fährt sie zum Bahnhof.
Schon am nächsten Tag übernimmt Lackner die Teamleitung des Vorratslagers. Rekordwoche: 80 Stunden. Der Regelfall: 16 Stunden am Stück. Einmal ist sie doppelt so lange da, als um halb zwölf Uhr nachts fünf syrische Familien vor ihr stehen und eingekleidet werden müssen, aber niemand außer ihr sich im Lager auskennt. Ihre Tochter ist in dieser Zeit beim Vater oder bei der Großmutter, die beide das Engagement unterstützen. Die Sätze, die Lackner damals am häufigsten sagt, sind: "Hast du ...?" und "Bringst du mir ...?" Es ist wie im Rausch: Sie schleppt Kisten, rennt viele Kilometer, führt in den drei Monaten am Bahnhof kein Privatleben mehr. Nimmt vier Kilo ab.
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