Indischen Einwanderern ist es zu verdanken, dass die Produktion des weltberühmten Parmesans aus der Poebene gerettet werden konnte. Ein Beispiel dafür, dass Globalisierung und Tradition nicht unbedingt Gegensätze sind.
Es ist kurz nach 18 Uhr 30 an einem Donnerstagabend Ende Juli, als der 47 Jahre alte Sikh Parmjit Saini in Gummistiefeln und Schürze, eine Mütze bedeckt den gelben Turban, den Stallboden mit einem Wasserschlauch von Kuhkot befreit und damit auch ein italienisches Kulturgut rettet.
Vorher hat er zum zweiten Mal an diesem Tag die 400 milchprallen Euter zuerst mit einem Tuch geputzt, dann an die Melkmaschine gehängt. Er hat pulsierend die Milch aus ihnen saugen lassen und anschliessend die Euter mit einer beruhigenden Paste eingerieben. An manchen zeichnen sich auch nach dem Melken noch tiefe blaue Adern ab.
Tara schaut verdutzt, ihre Augen tränen, sie streckt die lange Zunge nach auf dem Boden liegendem Heu aus. Olympia ist sichtlich müde, kein Wunder, vor ein paar Stunden erst hat sie Nachwuchs gekriegt. Mita indes sabbert, heute Abend hat sie 11,36 Liter Milch gegeben.
Parmjit Saini greift sich über den ergrauten Bart und kontrolliert die Angabe auf dem Melkgerät. Dann gibt er Mita mit einer unerschütterlichen Ruhe einen Klaps auf den Hintern, und mit deutlich vernehmbarem indischem Akzent feuert er die elf Damen vor ihr auf Italienisch an, das Melkkarussell zu verlassen: "Via, via, via!" Und: "Avanti, avanti, avanti!" Mit schweren Stampfern schreiten die Viecher voran.
Die roten Kühe, um die sich Parmjit Saini seit 16 Jahren kümmert, Tag für Tag, sind nicht irgendeine Rasse. Sie sind eine ganz besondere, die sogenannte Vacche Rosse Reggiane. Eine autochthone Art, von der es nur noch 3000 Tiere gibt, obwohl sie mit der Region um Parma so eng verbunden ist wie das, was man mit ihrer Milch produziert: den Parmesankäse.
"Die Sikhs haben unseren Sektor unterstützt, als sich nur noch wenige dafür interessierten."
Ein Teil der italienischen Poebene ist die Geburtsstätte der beiden, vor über 800 Jahren haben hier Benediktinermönche damit begonnen, den Parmesan als haltbares Lebensmittel herzustellen. Ein jahrhundertealtes Qualitätsprodukt, ein Grundnahrungsmittel beinahe, auf das die Italiener stolz sind. Doch gäbe es die indischen Einwanderer wie Parmjit Saini nicht, es wäre schlecht bestellt um den Parmesan.
Lange schon wird das Traditionsprodukt, das laut Regeln des Konsortiums für Qualität nur in den Provinzen Reggio Emilia, Modena, Parma und Teilen von Bologna und Mantua hergestellt werden darf, nicht mehr vor allem durch italienische Hände fabriziert.
Weil viele junge Einheimische lieber in die Städte auswanderten und in den Industriesektoren arbeiteten als in den ländlichen Ställen und Käsereien, weil sie die Orte mieden, an denen man dreckig wird, an denen es stinkt, haben die Einwanderer die Posten übernommen. Die meisten stammen wie Parmjit Saini aus dem indischen Gliedstaat Punjab und gehören der Religionsgemeinschaft der Sikhs an.
Bereits in den neunziger Jahren kamen die Ersten von ihnen nach Italien, mit der Hoffnung, in der Landwirtschaft irgendeine Arbeit zu finden, und bald zogen auch ihre Familien nach. Schnell fanden sie sich in der Po-Gegend zurecht, auch weil die alte Heimat, das "Fünfstromland", der neuen geografisch durchaus ähnelt. Weite Flächen, rote Erde, viele Kühe. Zu Hause hatte ein jeder mindestens ein Vieh im Stall stehen gehabt. "Die Sikhs", sagt Graziano Salsi, Präsident der Cila, der Interkommunalen Kooperative der Landarbeiter, "haben unseren Sektor unterstützt, als sich nur noch wenige für ihn interessierten."
Vor über hundert Jahren wurden die Vorläufer der Cila gegründet, damals war die wirtschaftliche Situation in der Poebene miserabel und der Zusammenschluss lebensnotwendig. In der politisch roten Emilia-Romagna sind Kooperativen häufige Geschäftsmodelle. Die Cila hat keinen Chef, Besitzer sind die 60 Arbeiter. Nur dass sie heute, anders als zur Gründungszeit, oft indische statt italienische Namen tragen.
1200 Hektaren Land gehören zur Cila, 800 davon sind in Eigenbesitz. Darauf wird Viehfutter und Getreide angebaut. Zur Kooperative gehören 10'000 Schweine und rund 1200 schwarz-weisse Milchkühe der gängigen Rasse Holstein-Friesian. Auch ihre Milch fliesst zu 100 Prozent in die Parmesanproduktion.
Genaugenommen fliesst sie in die Käserei San Giovanni, Gründungsjahr 1904, wenige Autominuten von der Kooperative entfernt. In Jeans und hellblau gestreiftem Hemd führt Graziano Salsi, der auch Präsident der Käserei ist und Mitglied im Qualitätskonsortium für Parmesan, frühmorgens durch die Produktionshallen. Zwölf Angestellte verarbeiten hier im Jahr 10 Millionen Kilogramm Milch von 15 Milchproduzenten, Cila ist dabei der bei weitem grösste. Die Käserei stellt 35'000 Laibe Parmesankäse her, von denen einer um die 38 Kilogramm wiegt. Die Gesamtproduktion des Parmesans beläuft sich auf 3,3 Millionen Laibe im Jahr, über 2 Millionen bleiben im Inland, der Rest wird exportiert.
365 Tage im Jahr wird in der Käserei San Giovanni produziert. Marco Capiluppi, 53, Käsermeister in zweiter Generation, der Opa hat im Stall gearbeitet, sagt: "Die Parmesanherstellung ist ein Handwerk, das früher nur innerhalb der Familie weitergegeben wurde." Seit halb sieben ist er an diesem Morgen hier. Ein hart arbeitender, zufriedener Mann, dessen Gesicht sich verfinstert, verwechselt man den Parmesankäse mit dem Hartkäse Grana Padano.
Anders als für diesen werde für den Parmesan nur die beste Milch verwendet. "Die Kühe werden nach strengen Vorschriften gefüttert, zulässig sind ausschliesslich Gras und Getreide aus der Ursprungsregion." Jede Art von Silage, fermentiertes Futter oder Futtermittel tierischen Ursprungs sind untersagt.
"Wir haben in Erziehung und Öffnung der Gesellschaft investiert. Das hat sich gelohnt."
In der Käserei San Giovanni füllen sich wie jeden Morgen 24 Kupferbecken zur Hälfte mit frisch gemolkener Milch und der Milch vom Vorabend, die über Nacht in grossen Aufrahmbecken ruht und am Morgen entrahmt wird. 1100 Liter, die am Ende zwei Laibe Parmesankäse ergeben, werden erwärmt. 40 Milliliter des hinzugegebenen natürlichen Enzyms Lab leiten die Gerinnung ein. Marco Capiluppi sieht mit wachem Auge auf die Arbeit seiner Mitarbeiter, darunter sind auch zwei Sikhs. Beide sind nicht auf Anhieb als solche zu erkennen, sie tragen die Haare kurz und weder Bart noch Turban.
Als der 40 Jahre alte Singh Jaswinder vor 18 Jahren nach Italien kam, weil ihm sein Onkel von der Gegend vorschwärmte, hat er beides abgelegt. Aus hygienischen Gründen wären Turban und Barthaare bei der Arbeit in der Käserei ohnehin nicht gestattet. Bereits seit 15 Jahren stellt Singh Jaswinder Parmesan her, es ist zu seiner täglichen Routine geworden.
Er möge seine Arbeit, sagt er. Und mittlerweile auch den Parmesan, anfangs empfand er ihn als sehr salzig. Während er erzählt, zerteilt er mit einer sogenannten Käseharfe die geronnene Milch in kleine Teile. Eine Kochphase mit einer Temperatur von 33 bis 34 °C entzieht den Bruchkörnern das Wasser, das Käsegranulat sinkt auf den Kesselboden.
Mit grossen Tüchern hebt Singh Jaswinder es heraus, die überschüssige Molke, die abtropft, wird als Futtermittel zur Schweinemast für den ebenso bekannten Parmaschinken verwendet. Dann teilt er die Käsemasse entzwei, "Trennung der Zwillinge" nennt sich dieser Arbeitsschritt in der Fachsprache etwas pathetisch. Nachher werden die beiden Teile in die dafür vorgesehenen Formen gegeben. Marco Capiluppi sagt: "Die Parmesanproduktion ist reine Handwerksarbeit vom ersten bis zum letzten Schritt." Singh Jaswinder nickt. 98 Laibe produzieren die Käser täglich.
In einer gesättigten Salzlake lagern die fertigen Laibe 22 Tage, "das ist vor allem wegen der Konservierung notwendig und nicht wegen des Geschmackes", sagt Capiluppi. Im klimatisierten Lager reift der fertige Parmesanlaib für mindestens zwölf Monate, am häufigsten für zwei Jahre. Im Lager der San-Giovanni-Käserei stapeln sich 53'000 Laibe. Während der Reifung werden sie immer wieder gedreht und gewendet. Nach einem Jahr wird jeder einzelne Laib von unabhängigen Experten überprüft. Nur einwandfreie Laibe landen als Parmigiano Reggiano in den Verkaufsregalen.
Die Käserei San Giovanni und die Kooperative Cila gehören zur Gemeinde Novellara. Einen Tag später im Rathaus des beschaulichen Städtchens eine halbe Autostunde von Reggio Emilia entfernt: Die Bürgermeisterin Elena Carletti, 41, vor gut zwei Jahren ins Amt gewählt, empfängt in ihrem Büro. 13'700 Menschen leben hier, 16 Prozent davon sind Ausländer. Neben den Chinesen sind die Inder die grösste ausländische Gemeinschaft. Novellara gilt als Ort der gelungenen Integration. Im März erst wurde Elena Carletti in den Europäischen Rat eingeladen, um davon zu erzählen.
Das gute Verhältnis sei auch Frucht der Willkommenskultur, die die Stadtverwaltung von jeher pflege, sagt sie. "Wir haben in Erziehung und die Öffnung der Gesellschaft investiert, das hat sich gelohnt." Die Vertreter der grösseren ausländischen Gemeinden holt sie regelmässig zu einem runden Tisch in das Rathaus. Über die Sikh-Gemeinde sagt sie: "Sie leisten eine hervorragende Arbeit und sind heute aus Novellara nicht mehr wegzudenken."
Und: Sie hätten das identitätsstiftendste Produkt der Region gerettet. Für die Aufnahmebereitschaft haben sich die Sikhs mehr als einmal bedankt. Als die Gegend 2012 ein Erdbeben erschütterte, haben sie dem Roten Kreuz ein Auto gestiftet. Im Katastrophenschutzteam der Stadt ist jeder Vierte Inder.
Elena Carletti ist in Novellara geboren und aufgewachsen. Ihre Stadt hat sie für das Studium der englischen und deutschen Literatur, für einen Master in europäischer Kultur und diverse Reisen kurzzeitig verlassen. Sie ist zurückgekehrt, weil sie hier ein Potenzial sieht, das auch die indischen Einwanderer gesehen haben.
In Novellara haben die Sikhs einen Ort gefunden, in dem sie ihr Wissen und ihren Fleiss einbringen und trotzdem die Traditionen aus der alten Heimat leben können. Anfang der 2000er Jahre hat Carlettis Vorgänger ihnen erlaubt, im Industriegebiet einen Tempel zu bauen. Er gilt als einer der grössten Sikh-Tempel auf dem europäischen Festland, manche sagen, es sei der imposanteste.
Parmjit Saini kommt regelmässig zum Beten in den Tempel Gurdwara, auch an diesem Dienstagabend. Gemeinsam essen die Männer im Gemeinschaftssaal zu Abend. Aus grossen Schüsseln schöpfen freiwillige Helfer Löffel voll Dhal in Teller, teilen Fladenbrot aus. Bevor sie den Gebetsraum betreten, ziehen sie die Schuhe aus und waschen sich die Hände.
Die meisten hier arbeiten in den Ställen oder Käsereien der Umgebung, andere in Fabriken, die Melkgeräte oder Traktoren herstellen. Alle tragen Turban und Bart. In Indien wurden Parmjit Saini und seine Freunde deshalb verfolgt, in Italien hat er wieder angefangen, sich die Haare wachsen zu lassen, "niemanden hier hat es je gestört". Nicht nur die Sikhs haben den Parmesankäse gerettet, die Rettung hat auf gewisse Weise auch umgekehrt stattgefunden.
Parmjit Saini kam 2000 nach Italien, zwei seiner Schwäger waren damals schon in der Gegend angesiedelt. Im Familienbetrieb der Brüder Prandi fand er Arbeit. Sein Chef Marco Prandi, 53, erinnert sich an die Anfangsjahre, als Parmjit Saini kein Italienisch verstand und gemeinsam mit Familie Prandi wohnte, aber nie meckerte und immer verlässlich war.
Von den vier Angestellten, die sich um seine Kühe kümmern, sind drei Inder. "Es ist toll, wie sie sich mit dem Produkt identifizieren." Neben der besonderen, autochthonen Rasse, deren Milch mehr Kasein - der Proteinanteil der Milch, der zu Käse weiterverarbeitet wird - enthält als die anderer Kühe, hat Prandi Exemplare der Holstein-Friesian-Rasse im Stall. 99 Prozent des gesamten Parmesankäses werden von ihrer Milch hergestellt, ein Prozent von der autochthonen Kuhrasse.
An einem Abend im Juli, die Sonne steht tief über den fruchtbaren Feldern der Poebene, ist Parmjit Saini schon früher zu Hause, er hat heute ausnahmsweise frei. Gemeinsam mit seiner Frau, dem Sohn und der Tochter wohnt er auf einem alten Bauernhof.
Er liegt etwas ausserhalb von Reggio Emilia und ist heute in Besitz der Familie Prandi. Bilder von Verwandten aus Indien zieren neben Sikh-Gurus die Wände, Nachrichten auf Englisch laufen über den Fernsehschirm. Im Raum ist auch sein Sohn Harpreet, 24, schwarzer Bart, dunkelblauer Turban.
Zwei Generationen von Einwanderern sitzen sich am Wohnzimmertisch gegenüber und schlürfen Fruchtsaft, zwei unterschiedliche Geschichten. Der Vater spricht gebrochen Italienisch, benützt meist den Infinitiv, der Sohn unterhält sich fliessend auf Italienisch, Englisch und Panjabi. Der Vater hat kaum italienische Freunde, der Sohn schon. Der Vater kümmert sich um Kühe, der Sohn arbeitet seit Oktober 2015, zwei Wochen nachdem er sein Informatikstudium mit 108 von 110 möglichen Punkten abgeschlossen hat, in einem Startup-Unternehmen an der Universität von Parma.
Dort entwickelt er mit seinen Kollegen eine App zur Prüfung der Qualität von Lebensmitteln wie Wein, Bier und Oliven. Sie richtet sich an Unternehmen, die ihre Produktion überprüfen, und an Studenten, die im Labor Proben entnehmen. Auch er arbeitet damit für die Agrarwirtschaft, indirekt. Während der Studienzeit hat Harpreet im Stall ausgeholfen, drei Jahre lang - die Arbeit zu seinem Beruf machen wollte er nicht.
Als er mit 13 Jahren nach Italien kam, bereitete ihm die Sprache noch Schwierigkeiten. Er lernte länger als seine italienischen Mitschüler, nahm nach der Schule Privatunterricht. Seine Professorin riet ihm, lieber nicht eine Universitätslaufbahn anzustreben. Er hörte nicht auf sie. "Zum Glück", sagt er heute.
Die Entwicklung, die Vater und Sohn durchgemacht haben, sie ist exemplarisch. "Den indischen Einwanderern ergeht es wie uns Italienern", sagt Graziano Salsi, Präsident der Kooperative Cila und der Käserei San Giovanni. "Nur geschieht die Entwicklung bei ihnen eine Generation später." So wie sich die Kinder der Sikhs nun abwendeten von der Landwirtschaft, von den körperlich harten Arbeiten in den Ställen, den Käsereien, so haben die Italiener das zwanzig Jahre vorher getan.
Langsam ist eine neue Entwicklung erkennbar: Die Kinder der indischen Einwanderer, die einst die Wirtschaft ankurbelten, verlassen die Poebene. "Wir haben sie aufwachsen sehen, nun ziehen sie aus Novellara fort", sagt die Bürgermeisterin Elena Carletti nicht ohne Sorge.
Die anhaltende ökonomische Krise in Italien lässt sie attraktivere Orte für ihre Zukunft wählen, allen voran englischsprachige Länder wie England, Kanada, die USA. 2012 lebten noch 552 indische Staatsbürger in Novellara, 2015 waren es nur mehr 464.
"Wer wird ihren Platz einnehmen?", fragt sich Elena Carletti manchmal. Graziano Salsi hat da eine Vorahnung. Es sind die Italiener selbst, sagt er, die wieder verstärkt bemerkt hätten, welchen Schatz sie unweit von sich haben. Die Krise habe erkennen lassen, dass kaum eine Arbeit, wenn auch beschwerlich, so beständig und erfüllend sei wie die Landwirtschaft. "Der Parmesan hat eine tausendjährige Geschichte hinter sich." Der Präsident der Käserei San Giovanni ist überzeugt, dass er auch eine tausendjährige Zukunft haben wird.
Nicht nur die Schweizer, auch der Rest der Welt würde es vermutlich sofort glauben, dass der Käse hierzulande erfunden wurde. Doch damit lägen alle falsch. Der Käse wurde, wie englische Forscher offenbar eindeutig festgestellt haben, schon vor 7000 Jahren im heutigen Polen erfunden. Fettrückstände in Gefässen aus der Steinzeit sollen es bewiesen haben. Bei der Erfindung des Fondues gibt es leider auch Konkurrenz. Wenn auch von keiner Seite wissenschaftlich belegt, wollen nicht nur die Schweizer, sondern auch die Franzosen und Italiener die Ersten gewesen sein.