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Kurzgeschichte von Heinrich Böll - Erzählung
Suchanzeigen — Novelle von Heinrich BöllSuchanzeigen — Novelle von Heinrich Böll


Ich suche ein Mädchen, zehn Jahre alt, wahrscheinlich blass, dunkelhaarig, mit sehr großen, zur Melancholie neigenden dunklen Augen. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie schön ist. Ich kenne ihr Geburtsdatum, den Geburtsort, die Orte ihrer Kindheit und Jugend: Düren, Heisberg, wahrscheinlich Palenberg, Aachen. Ich suche das Mädchen in einem bestimmten Jahr, im Jahr 1887. Sie ist unterwegs auf der Landstraße zwischen Düren und Golzheim, ob nach Golzheim gehend oder von Golzheim kommend, weiß ich nicht. Wenn sie nach Golzheim geht, trägt sie eine leere Waschschüssel; wenn sie von Golzheim kommt, trägt sie eine Waschschüssel voll Rübenkraut. Die Entfernung Düren Golzheim beträgt sieben Kilometer, der Gesamtweg des Mädchens also vierzehn Kilometer. Ich weiß nicht, wie lange ein zehnjähriges Mädchen braucht, um diese Strecke zurückzulegen, auf einer Straße, von der ich nicht weiß, ob sie damals schon baumlos war. Wollen wir mindestens drei, höchstens sechs Stunden zubilligen? Wollen wir ihr ebenfalls zubilligen, dass sie hin und wieder die leere und die volle Schüssel absetzen muss, um ihre Arme zu entlasten? Ich weiß nicht, wie viel Pfund Rübenkraut sie da bei Verwandten oder Bekannten abholte, weiß nicht, ob das Rübenkraut geschenkt oder nur verbilligt war. Drei Stunden? Vier oder sechs? Acht Pfund, zehn oder sieben? Ich weiß nicht. Ich weiß auch nicht, wie viel Geld bei dieser Aktion gespart wurde. Zehn Pfennige? Dreißig oder nur sieben? Ich weiß nicht. Das Mädchen ist unterwegs, und ich suche es. Sie heißt Maria und wurde ein paar Jahrzehnte später meine Mutter. Das ist uninteressant, über meine Mutter weiß ich einiges, über das Mädchen nichts.


Fünfundachtzig Jahre später fahre ich oft durch Golzheim, vor Golzheim schnell, durch Golzheim manchmal schneller als zulässig, hinter Golzheim wieder relativ schnell. Mit dem Auto. Nehmen wir an, ich fahre hundert. Ich brauche für die sieben Kilometer drei, vier, höchstens sechs Minuten; es kommt darauf an, wie viel landwirtschaftliche Fahrzeuge gerade unterwegs sind, wie ich sie überholen kann, wie der Gegenverkehr ist. Mehr als sechs Minuten brauche ich keinesfalls. Fähre ich die ganze Zeit, die das Mädchen unterwegs ist, mit dem Auto so weiter, so wäre ich in drei Stunden ungefähr in Darmstadt, in sechs irgendwo zwischen Augsburg und München, während das Mädchen immer noch unterwegs ist. Und wie oft ging das Mädchen diesen Weg? Einmal? Mehrere Male, jedes Jahr wieder? Wie hießen die Leute, bei denen sie das Rübenkraut holte, um sieben oder dreißig Pfennige zu sparen?


Ich weiß das alles nicht. Sieht das Mädchen fünfundachtzig Jahre später auf dieser selben Landstraße Autos fahren, und in einem dieser Autos einen ihrer Söhne? Sieht sie mich? Ich sehe sie nicht, obwohl ich immer wieder nach ihr Ausschau halte. Ich weiß nichts von ihr, jedenfalls nicht viel. Sie hat eine strenge Mutter, fünf Schwestern, zwei Brüder, einen, gelinde gesagt, leichtsinnigen Vater, der, gelinde gesagt, gern einen trinkt. Was kostet ein Glas Bier, was kostet ein Kognak? Gewiss mehr, als das zehnjährige Mädchen durch den drei- bis sechsstündigen Gang mit der leeren und der vollen Waschschüssel spart. Ich würde so gern mit ihr sprechen, versuchen, sie auszufragen, herauszubekommen, was sie sich denkt. Ich kenne von zwei, drei Fotos das bittere, säuerliche Gesicht der Mutter des Mädchens. Ich weiß ein paar Anekdoten über sie. Sie war das klassische betrogene Mündel des Schauerromans, wurde um Grundstücke, Häuser, nach einer anderen Anekdotenversion um eine Brauerei betrogen. Man sieht dem bitteren Gesicht noch an, dass sie einmal schön war. Das klassische Mündel mit klassischem Gesicht. Katholisch mit stark jansenistischer Einfärbung. Freudlos, puritanisch, kirchgängerisch, verbittert.


Ich würde so gern mit dem Mädchen auf der Landstraße sprechen. Nicht mit meiner Mutter, mit ihr habe ich oft gesprochen, aber nie mit dem zehnjährigen Mädchen. Was denkt sie, was fühlt sie, was weiß sie, was gesteht sie sich ein, was verbirgt sie vor sich und den anderen? Was denkt sie über ihren, gelinde gesagt, leichtsinnigen Vater, der innerhalb von zwei Minuten mehr vertrinkt, als sie bei diesem Drei- oder Sechsstundenmarsch «verdient» oder nur erspart. Fünfundachtzig Jahre später würde ich gern die Chronologie auseinandernehmen, durcheinanderbringen, um mich mit dem Mädchen zu unterhalten. Ich würde sie mitnehmen, aber vielleicht bleibt sie lieber auf der Landstraße, als zu ihrer bitteren, säuerlichen Mutter zurückzugehen, die sparen muss, weil da einer verschwendet? Da gab's viel zu erzählen über die fünf Schwestern und die zwei Brüder, über den, gelinde gesagt, leichtfertigen, verwöhnten Vater, über die aufrechterhaltene Fassade, über zusammenbrechende Fassaden. Das ist uninteressant für mich. Ich suche das kleine Mädchen, das viel später meine Mutter sein wird.


Was ich mir denken, was ich mir vorstellen, was ich kombinieren, sogar recherchieren könnte, ist mir langweilig, weil ich weiß, wie es gemacht wird. Gut. Schlecht. Nicht so schlecht. Nicht so gut. Mit einer ziemlichen, mit einer gewissen, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zutreffend. Ein bisschen interpoliert, so oder so. Literatur. Die suche ich nicht, ich suche ein zehnjähriges Mädchen, von dem ich nichts weiß. Ich fahre fünfundachtzig Jahre später über dieselbe Landstraße und sehe sie nicht, höre sie nicht, weiß nichts von ihr. Ich kann mir viel vorstellen, fast alles, aber wie schon gesagt das interessiert mich nicht. Ich suche ein zehnjähriges Mädchen, blass, mit dunklen, zur Melancholie neigenden Augen, die überraschenderweise voller Humor sind.


Ich suche nicht ihre Erinnerung, nicht die Erinnerung an sie, ich suche sie selbst.


Ich suche einen wahrscheinlich rothaarigen mageren, sommersprossigen zehnjährigen Jungen, der im Jahr 1880 morgens von der Schwanenkampstraße in Essen aus zur Schule geht. Er heißt Victor und wird viele Jahre später mein Vater sein. Über meinen Vater weiß ich einiges, über diesen zehnjährigen Jungen weiß ich nichts. Ich weiß ein paar Anekdoten, ich kenne einige seiner Erinnerungen und Erinnerungen anderer an ihn, aber ihn selbst kenne ich nicht. Ich würde so gern die Chronologie zerstören, ihn für ein paar Minuten lebend vor mir haben, bevor seine konventionellen und seine unkonventionellen Erinnerungen in den Kreislauf der Anekdotenkonvention geraten. Ich möchte seine Tafel oder seine Hefte sehen, seine Brote, sein Taschentuch, möchte sehen, ob er damals schon eine Brille trug. Es ist einiges überliefert, in einigen Variationen verbürgt, es ließe sich viel recherchieren, kombinieren, interpretieren, vorstellen und mit einer ziemlichen oder gewissen oder gar bestimmten Wahrscheinlichkeit ließe sich ein Genrebild erstellen von dem wahrscheinlich rothaarigen mageren Jungen, der da an der Mauer der Kruppschen Fabrik entlang zur Schule geht. Details genug, aber ich will nicht die Erinnerungen des Jungen und nicht die Erinnerungen anderer an ihn, ich will ihn selbst, ihm ins Auge blicken, sein Taschentuch, seine Hefte oder seine Tafel sehen. Der Junge heißt Victor, ist im Jahre 1880 zehn Jahre alt und wird später einmal mein Vater sein.


Ich suche mich selbst, zehnjährig, mit dem Fahrrad zur Schule unterwegs. Nicht meine Erinnerung, nicht, was andere zu erinnern glauben. Meine Frau suche ich, zehnjährig, meine Kinder, Freunde, Geschwister. Ich möchte die verfluchte Chronologie zerstören, die eine 1923, die andere 1935 oder 1917 sehen, auf dem Schulweg, auf der Straße spielend, in der Kirche, im Beichtstuhl. Ich möchte die Beichten all dieser Zehnjährigen mithören; ich kann mir viel vorstellen, fast alles: den einen zehnjährig auf einem Trümmergrundstück 1957, den anderen zehnjährig 1958 auf dem Schulhof eines Gymnasiums, einen anderen 1960 zehnjährig in einem Park. Es wird viel erzählt, viele erinnern sich an vieles, es gibt da Fotos, verschiedene Perspektiven, Interpretationen, Milieudetails, alles vorhanden, Schulzeugnisse, Wehrpässe, Gebetbücher, Kinderzeichnungen, Briefe, sogar Tagebuchblätter; es ließe sich alles verwenden, ergänzen, vorstellen mit ziemlicher, annähernder, mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Ich möchte mehr, ich möchte das Feuchte in ihren Augen sehen, ihnen die Hand vor den Mund halten, um ihren Atem zu spüren, das Brot sehen, in das die einen, den Apfel, in den die anderen beißen, 1930 oder 1935; den Ball in der Hand, die Kreidestriche auf dem Pflaster; die Musterung auf der Waschschüssel, in der Maria das Rübenkraut trug, und die Schuhe des wahrscheinlich rothaarigen zehnjährigen mageren, sommersprossigen Jungen, der Victor hieß. Ich will nicht das Unvergängliche, das Gegenwärtige will ich, das vergangen ist. Nicht das Erzählte, nicht einmal das Wahre und schon gar nicht das Ewige. Ich will die Gegenwart des Vergangenen. Einsteigen und aussteigen, wo ich möchte. Das Sprungseil vom Leipziger Platz und die Brote, die in der Machabäerstraße auf dem Schulhof gegessen wurden; Kreidestriche auf dem Trottoir der Teutoburger Straße, Sägemehl auf dem Hof des Hauses an der Schwanenkampstraße; das Bier, das auf dem Pflaster der Pletzergasse verschüttet wurde, im Krug geholt, damit der Alte einmal zu Hause blieb; die Klinker aus der Kreuzmacherstraße. Den Apfel, in den ein Mädchen 1940 biss, oder den anderen, den ein anderes Mädchen 1935 pflückte. Nicht als Andenken, nicht als Anekdotenvehikel, nicht als Vitrinenfetisch, nein, weil es da war, nicht mehr ist und nie mehr sein wird. Ich will das Haar, das vom Haupt gefallen ist.


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