Der älteste Mensch der Welt Zu Besuch bei Emma Morano
Der älteste Mensch der Welt wird am Dienstag 117 Jahre alt. Ihr Optimismus half Emma Morano, Krisen zu überstehen. Ihre italienischen Mitbürger sind stolz auf sie, auch wenn selbst manche Nachbarn sie noch nie gesehen haben.
29.11.2016, von Astrid Diepes, VerbaniaSie sitzt in ihrer Zweizimmerwohnung, eingehüllt in ihr rotes Dreieckstuch, auf dem Bett. Ihre Nichte Antonietta ist bei ihr, die Großnichte Renata und die kolumbianische Pflegerin Mili. Emma Morano strahlt, als sie unser Geschenk betrachtet. Den Rosenkranz und das Heiligenbild der Madonna küsst sie. Die Votivkerze der Madonna del Sangue di Ré wird neben dem Bett auf der Kommode abgestellt. „Mir geht es gut“, sagt sie, „aber meine Beine sind schwach.“
Kein Wunder, denn an diesem Dienstag feiert Emma Morano im idyllischen Pallanza am Lago Maggiore ihren 117. Geburtstag. Seit dem 12. Mai dieses Jahres ist sie der älteste Mensch der Welt – und der einzige noch lebende Mensch, der im 19. Jahrhundert geboren wurde. Emma Moranos Geschichte bewegt die ganze Welt. Aus vielen Ländern treffen Glückwünsche ein, besonders jetzt, zu ihrem Geburtstag.
Viele Erinnerungen stecken in diesen vier Wänden, schöne und weniger schöne. Neben ihrem Bett hängen Fotos ihrer Eltern, dazwischen ein Bild ihres Bruders, der mit 31 Jahren bei einem Unfall ums Leben kam; das Bild ist mit Edelweiß geschmückt. Auf den Kleiderschränken liegen Koffer, die an die Überseekoffer der Amerika-Auswanderer erinnern.
Am Sonntag stimmen die Italiener über die Reform des Senats ab. Als am 10. März 1946 in Italien erstmals Frauen wählen durften, war Emma schon 46 Jahre alt. Ob sie heute noch wählt und sich für Politik interessiert? Nein, sie wählt nicht mehr.
Als junge Frau erlebte Emma Morano schwere Zeiten
Als erstes von acht Kindern erblickte Emma 1899 in Civiasco in der Provinz Vercelli das Licht der Welt. Als junges Mädchen tanzte sie gerne, mochte Walzer und Tango. Wenn Mili mit dem Smartphone Emmas Lieblingslied „Parlami d’Amore Mariù“ vorspielt, singt sie mit und lächelt verschmitzt bis zufrieden.
Im Bergdorf Civiasco, gut 40 Kilometer von Pallanza entfernt, wo sie geboren wurden, ist es einsam. Es wäre auch still, wenn nicht gerade der Bäcker mit einem dreirädrigen Kastenwagen vorbeiknattern würde. Heute leben hier nur noch 250 Menschen. Viele der Häuser sind mit Madonnenfresken bemalt. Emmas Geburtshaus gibt es längst nicht mehr, sagt eine Gemeindemitarbeiterin. Es stand am Hang unterhalb des Ortskerns und zerfiel, nachdem es von Familie Morano verlassen wurde. In welcher der vier Kirchen Emma getauft wurde, kann niemand mehr sagen. Denn vor mehr als 110 Jahren verließ die kleine Emma mit ihrer Familie das Dorf, weil der Vater Arbeit im Val d’Ossola fand, einem der Täler rund um den Lago Maggiore.
Als junge Frau erlebte Emma Morano schwere Zeiten. Ihr Verlobter musste im Ersten Weltkrieg an die Front. Das war das Ende ihrer großen Liebe. Die beiden sahen sich nie wieder. Emma glaubte, er sei im Krieg gefallen. Vor wenigen Jahren rekonstruierte ein Journalist der Lokalzeitung „L’Alpino“, wie es wirklich war: Emmas Verlobter kehrte zurück und fand die junge Frau nicht wieder, da sie umgezogen war. Es folgte eine unglückliche Ehe mit einem gewalttätigen Ehemann. 1938 fasste Emma Morano einen mutigen Entschluss: Sie trennte sich von ihrem Gatten und entschied, sich nie wieder zu binden. Damals war eine Scheidung in Italien nicht möglich, selbst eine Trennung war ein Skandal. Doch Emma ist stolz, ihr Leben lang selbständig gewesen zu sein. Sie arbeitete erst in einer Jute-Fabrik, später in der Küche des Collegio „Santa Maria“.
© AP Emma Morano mit ihrer Geburtstagstorte
Die 75 Jahre alte Antonietta besucht ihre Tante regelmäßig. Sie ist die Tochter von Emmas Schwester Angela, die 102 Jahre alt wurde. Antonietta telefoniert in der Küche mit Doktor Bava, Emmas Hausarzt, und vereinbart einen Termin zur Routinekontrolle. Emma und ihr Arzt sind ein eingespieltes Team. Wenn er in die Wohnung kommt und Emma fragt, wer da sei, scherzt er und sagt „Berlusconi“ – denn als der Euro in Berlusconis Amtszeit eingeführt wurde, ärgerte sich Emma, nach ihrer Rechnung im Vergleich zur Lira die Rente halbiert bekommen zu haben.
Emma aß täglich zwei rohe Eier mit rohem Fleisch in Brühe
Doktor Bava schreibt Emmas Optimismus einen großen Teil ihres ungewöhnlich langen Lebens zu. Aber vor allem scheint es auch an den Genen zu liegen. Ihre Ernährung muss man in heutiger Sichtweise kritisch sehen: Antonietta erzählt, dass Emma neben ihren täglich zwei rohen Eiern und rohem Fleisch in Brühe früher pro Woche 500 Gramm Nusspralinen aß, dazu gläserweise Honig. Auch Kekse hat sie immer geliebt. Noch heute dürfen ihre liebsten Biscotti nicht fehlen: Mili weicht sie in Wasser ein, damit Emma sie besser essen kann. Jeden Nachmittag gibt es ein Stückchen Banane. Täglich trinkt die alte Dame einen Liter Mineralwasser. Auf Tee und Wein verzichtetet sie. Ihre Lieblings-Fernsehserien sind „Kommissar Rex“ und „Mord ist ihr Hobby“.
Drei Jahrhunderte hat Emma Morano erlebt. Geboren wurde sie im Königreich Italien unter Umberto I. Zwei Weltkriege überstand sie und den Faschismus. Sie bete viel, erzählt Emma, für ihre verstorbenen Geschwister und für ihr einziges Kind Angelo, das nur wenige Monate alt wurde. Vor allem wendet sie sich an die Madonna, an Sant’Antonio, San Giuliano und San Giulio, nach dem die einzige Insel im nahe gelegenen Ortasee benannt ist: „Ich bete immer: San Giulio und San Giuliano, beschützt mich vor den Wölfen, den wilden Tieren, den Schlangen und vor bösen Menschen. Sant’Antonio bitte ich, mich vor den Gefahren zu bewahren.“ Im Piemont sind vor allem im Sommer Bisse durch Giftschlangen nicht unüblich, im Val Grande gibt es heute noch Wölfe. Den Rosenkranz betet Emma täglich.
Die Bewohner von Verbania, zu dem der Ortsteil Pallanza gehört, sind stolz auf sie. Die Stadt widmet ihr ein Musical, das an ihrem Geburtstag im neuen Theater aufgeführt wird. Außerdem ist sie die Symbolfigur des Literaturfestivals „Verbania for Women“. Aber viele Nachbarn haben sie noch nie gesehen, weil sie seit 15 Jahren ihre Wohnung im zweiten Stock direkt an der Kirche San Leonardo nicht mehr verlässt. So sagt Agostino, der Kunstmaler, der seit den achtziger Jahren gleich nebenan wohnt: „Gesehen habe ich sie noch nie, aber ich weiß von der Nichte Rosi, dass es ihr gutgeht.“
Auch Rosi und ihre Tochter Renata sitzen oft an ihrem Bett. Das könnte ein weiterer Grund sein für ihr langes Leben: Obwohl sie keinen Mann hat, keine Kinder, keine Enkel – Emma Morano ist nicht allein. Über ihrem Bett hängt ein Foto mit Widmung ihrer Patentante Martina. Und seit zwei Jahren hat sie Tag und Nacht eine Pflegerin bei sich. Mit Mili versteht sie sich gut. Und wenn sie frei hat, springt Margherita aus Polen ein.
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