Noch einen Kaffee bestellen. Noch einmal die Brasilien-Karte auffalten, die kleinen roten Zahlen am Rand der Straßenlinie addieren und sicher sein: rund 2600 Kilometer bis Cruzeiro do Sul. Warten, wie der Kampf ausgeht, den sich Trägheit und Neugier gerade liefern. Und irgendwann den Rucksack greifen und hinaustreten in die gleißende Mittagssonne. Ein Dutzend Lastwagen parkt auf dem staubigen Rastplatz kurz hinter Cuiabá. Die Reise beginnt. Sie wird weit nach Westen gehen, immer entlang der Brasil-Rodovia 364.
Seit Ende der fünfziger Jahre wurde sie quer durch Regenwald und Indianergebiete geschlagen, mit Weltbank-Krediten ausgebaut, was Umweltschützer wütend protestieren ließ. Die Transamazônica mag bekannter sein, ist aber nie geteert worden und heute kaum mehr befahrbar. Entlang der BR 364 aber wachsen bis heute die Städte. Auf den letzten 700 Kilometern ist die Landstraße eine Erdpiste, die sich bei Regen in roten Schlamm verwandelt; dort, so sagt man, wird die Fahrt zum Abenteuer und der Westen immer wilder. Wie bezwingen die Brasilianer die Weite ihres Landes? Was wurde aus der Euphorie des Aufbruchs in den Amazonas? Und wer nimmt mich jetzt mit?
Die Trucker auf dem staubigen Rastplatz, in Jeans und Badelatschen, reagieren lustlos. Ein freundlicher Herr fährt Zitronen nach Manaus, darf aber keine Anhalter befördern. Ein junger Mann hat keinen Platz im Führerhaus, weil schon Frau und Baby mit ihm reisen; seit drei Wochen sind sie unterwegs. Doch dann nickt ein hakennasiger, grimmig blickender Kerl, und wenig später throne ich neben ihm im Führerhaus und lasse den Bundesstaat Mato Grosso, "Urwald", in langen Einstellungen vorüberziehen.
Es ist Trockenzeit. Die riesigen Weiden rechts und links der Straße sind gelb, das Grün der Büsche ist verbraucht, überall brennen Feuer. Manchmal lecken die Flammen direkt bis an den Straßenrand. Brandgeruch, so wird sich zeigen, ist der ständige Begleiter dieser Reise, und schwelende Felder erinnern fortwährend an die Zerstörung des Regenwaldes. "Gibt es in Deutschland einen Frauenüberschuss?", fragt der Mann am Steuer. Er heißt Ademir Lopes do Silva, raucht Zigaretten der Marke Free, fährt barfuß und hat ein Einschussloch in der Windschutzscheibe. Gleich neben einem Jesus-Aufkleber. Das Loch ist vier Monate alt.
"Ein Wagen fährt neben mir", erzählt Ademir, "und was ist? Ich gucke in einen Revolver. Ich bin nach links gezogen, um die Hurensöhne abzudrängen. Aber dann haben sie mich überholt und dreimal geschossen." Daneben, zum Glück. Zur Polizei ist er nicht gegangen. "Das sind die schlimmsten Banditen." Hier ist die gefährlichste Etappe der Landstraße 364, laufend werden Lkw überfallen und nach Bolivien entführt. Heute ist es friedlich. Ereignislos geradezu. Die Stunden fließen zäh wie Teer, Ademir taktet sie mit Zigaretten. Manchmal, erzählt er, macht ihn die Eintönigkeit so wütend, dass er am liebsten alles kaputtschlagen würde. Aber dann greift er doch nur wieder zum Funkgerät. Oder bremst an einem der Restaurants, wo die Kellnerinnen für fünf Mark mit ins Führerhaus klettern.
Schweigend rauschen wir Richtung Sonnenuntergang. Gegen Mitternacht sind wir in Vilhena. Der nächste Morgen zeigt: Die Stadt ist von deprimierender Hässlichkeit. Die Häuser sind quadratisch und neu, es gibt kein Zentrum, keinen Fluss und kaum Bäume gegen die Sonnenglut. Hundert Meter Brachland säumen die Hauptstraße, alles wirkt eine Spur zu groß. Wem ist hier das menschliche Maß abhanden gekommen? Aymoré Horta Pereira heißt der Mann, ein bedächtiger Rentner, der es sich auf der Veranda seines Holzhauses bequem gemacht hat. 1962, Vilhena hatte 35 Einwohner, und die Landstraße war zwei Jahre alt, kam er als Fluglotse, regelte aber auch Ehestreitigkeiten und zeichnete irgendwann den Grundriss der künftigen Stadt.
"Vilhena sollte modern sein", erklärt Pereira, "es sollte wachsen können, darum habe ich alles so groß angelegt." Natürlich: Platz war im Übermaß vorhanden, Brasilien im Begriff, seine unendlich weiten und menschenleeren Räume zu erobern - da sollten auch Vilhenas Straßen neue Größe widerspiegeln. Es waren euphorische Jahre, erinnert sich Pereira. Wenn er in seinem kleinen Tower saß und den Lastwagen nachschaute, beladen mit Menschen, Möbeln und Tieren, dachte er stolz: Da fährt der Fortschritt. Damals konnte sich jeder ein Stück Land abstecken; sobald er es bebaute, gehörte es ihm. Und es war friedlich damals, familiär. Heute, mit 43.000 Einwohnern, ist Vilhena gefährlicher. Dennoch sagt Pereira: "Ich bin stolz auf diese Stadt."
"Gott ist ein Brasilianer"Der Abschied fällt leicht. Abends klettere ich in den Bus nach Porto Velho. Neben einem Mann mit Kinnbart und Kaffeefleck auf der Brust ist noch Platz. Er heißt Paulo Costa Soeiro, ist 33 Jahre alt und vor drei Tagen in Fortaleza, der Hauptstadt von Ceará im Nordosten Brasiliens, losgefahren. Das sind 4900 Kilometer, addiere ich auf meiner Landkarte, weiter als von Madrid nach Moskau. Es stinkt nach Windeln und Socken, und gleich wird sich eine ältere Dame übergeben und den Kotzbeutel unter ihrem Sitz verstauen. Paulo hat ein dickes Rätselheft durchgearbeitet, "aber man hält so eine Fahrt nur aus, wenn man sich mit den anderen unterhält", sagt er. Doch nach 72 Stunden scheint der Gesprächsstoff endgültig ausgegangen zu sein, die meisten Passagiere dämmern matt in ihren Sitzen. Nur ein Casanova mit Goldkette und in kurzen Hosen redet noch auf eine junge Mutter ein.
Reserve-Busfahrer Geraldo erklärt mir, dass sich auf den meisten Fahrten ein Paar findet. Morgens um fünf wanken wir schlaftrunken aus dem Bus. Es ist Sonntag, Paulos ältere Schwester und ihr Mann warten am leeren Busbahnhof von Porto Velho. Beide bestehen darauf, mich mitzunehmen, und wenig später finde ich mich in einem winzigen Wohnzimmer wieder, habe eine Bierdose in der Hand und blättere in einem Fotoalbum. Mit dem Sonnenaufgang kommen die ersten Verwandten, und gegen zehn Uhr morgens erzittert das kleine Haus vor tobenden Kindern und laut lachenden Erwachsenen.
Paulo ist seit vier Tagen auf den Beinen, geht immer noch nicht ins Bett. Stattdessen organisiert er zwei Autos, und bald sitzen wir am Ufer des mächtigen Madeira-Flusses - länger als die Donau - und nuckeln an gekühlten Kokosnüssen. Paulo, Träger eines Eherings, bringt es sogar noch fertig, eine fremde Frau anzusprechen und sich mit ihr vor den Augen seiner Cousinen zum Abendessen zu verabreden. Welche Energie!
Die nächste Etappe ist kurz. Keine zwei Stunden hinter Porto Velho taucht eine merkwürdige Siedlung am Rand der Straße auf: Hütten aus Palmstroh und Plastikplanen, davor Protestbanner und rote Fahnen. Hier wohnen die Verlierer der Amazonas-Kolonisierung, in zerlumpten Kleidern aus dem Rotkreuz-Sack, mit braunen Zähnen und der geduckten Haltung von Menschen, die immer nur gehorcht haben. Eine früh gealterte Frau in einem Snoopy-T-Shirt führt mich an einen rohen Holztisch. Seit 14 Monaten lagern sie hier, erzählt sie, 30 Familien, angeschlossen einer Untergruppe der mächtigen brasilianischen Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, abgekürzt MST. Sie kämpfen für eine Straße. Land haben sie zwar von der Regierung bekommen, aber es liegt mitten im Wald, acht Kilometer vom nächsten Fluss entfernt. Wie sollen sie da ihre Waren verkaufen?
Der Amazonas wurde auch besiedelt, um den Armen eine Chance zu geben. Doch das misslang, und die sozialen Unterschiede waren bald genauso groß wie im Rest des Landes. Wie groß, sieht man hier. Links der Straße: eine riesige Weide voller Rinder, die den Reichtum eines fazendeiros mehren. Rechts der Straße: Konservenbüchsen dienen als Tassen, drei Männer leiden unter Malaria, Kinder ziehen Plastiktüten hinter sich her, "ihr einziges Spielzeug", sagt die Frau voller Sarkasmus. Aber zumindest in einer der Hütten wird gelächelt, dem kleinen Pablo sei Dank. Der liegt auf dem einzigen Bett und ist so winzig, dass er noch nicht zurücklächeln kann. Vor 16 Tagen wurde er geboren, jetzt umringen ihn seine Mutter und ihre Freundinnen und können den Blick nicht abwenden vor lauter Liebe. Es wird noch einige Jahre dauern, bis der Kleine merkt, in was für eine Welt er da hineingeboren wurde. Bis er weiß, dass eine Schub karre das Wertvollste ist, was seine Eltern besitzen.
Hinter Rio Branco endet der Asphalt, und die rote Erdpiste beginnt. Endlich nimmt auch die Brandrodung ab, und der Wald rückt immer näher. So nahe, bis wir an manchen Stellen durch eine Kathedrale aus Bäumen fahren. Ein Gemisch aus Staub und Schweiß verklebt die Haut, die Schlaglöcher werden tiefer, die Brücken schmaler, man spürt das Nahen der Grenze, die Zivilisation und Wildnis trennt - der Widerstand der Natur gegen unser Fortkommen wächst. Nachmittags türmen sich dunkle Wolken am Himmel auf und werden von uns Passagieren ängstlich beäugt. Bald regnet es.
Keine zehn Minuten später beginnt der Bus in der roten Seife zu schlingern, und als sich der Fahrer einen Hang hinuntertastet, brechen die Hinterräder plötzlich aus. Wir knallen nach rechts gegen eine Böschung, einen Augenblick scheint der Bus umzukippen, begleitet von spitzen Schreien, doch dann fängt er sich und kommt quer zur Piste zum Stehen. Die nächsten Stunden gehören zu den anstrengendsten der Reise. Ich erinnere mich nicht mehr, über wie viele Hügel wir den Bus geschoben haben; ein Dutzend könnten es gewesen sein. Ich weiß jetzt, dass man barfuß den besten Halt im Schlamm hat, dass die gemeinsame Kraft steigt, wenn man sich gegenseitig anschreit, und dass ein Feuerstrahl aus dem Auspuff schießt, wenn der Bus mit Vollgas auf der Stelle rotiert.
Als es dunkel wird, klammern sich die Kinder an ihre Mütter, weil sie Angst vor Jaguaren haben. Irgendwann kommt ein Hügel, der steiler ist als alle anderen - unmöglich, da jetzt hochzukommen, entscheidet der Busfahrer. Und stellt den Motor ab. Keiner meckert. Alle fügen sich in ihr Schicksal, die Nacht in diesem verschlammten Fahrzeug im Nirgendwo zu verbringen. Mich überrascht die Geduld, mit der die Brasilianer reisen, ihre enorme Bereitschaft, noch die widrigsten Umstände fröhlich hinzunehmen. Keine Ahnung, ob das eine gute Eigenschaft ist.
Brasilien ist das fünftgrößte Land der Welt, vor Australien, und das hat Folgen für die Mentalität: Größenwahn - "Gott ist ein Brasilianer"; großes Unwissen darüber, was im Rest Südamerikas vor sich geht; Regionalisierung - jeder Bundesstaat kreist vor allem um sich selbst; Nationalbewusstsein schafft nur der Fußball, vielleicht noch der Karneval. Bald schlafen alle. Draußen wird es immer lauter - die Tiere spielen die Symphonie der Nacht. Tagsüber erschien mir der Wald wie eine Wand aus Bäumen, doch jetzt wirkt er weit und tief. Ich weiß nicht, wer da ruft und schreit und singt. Aber es ist ein wunderschönes Konzert, zumal der Mond sich alle Mühe gibt, für romantische Lichteffekte zu sorgen.
Ein Stück weiter schnarcht der Busfahrer - er hat es sich auf einem Holzstapel bequem gemacht. Am nächsten Morgen, als die Sonne schon hoch steht und der Schlamm eine feste Kruste hat, rutschen wir weiter, schieben uns vorbei an liegen gebliebenen Lkw mit Motorschaden, um knietiefe Schlammlöcher herum. Cruzeiro do Sul ist jetzt nur noch einige hundert Kilometer entfernt. Doch das Wetter bleibt unbeständig, die Straße schlammig, und niemand kann sagen, wann ein anderer Bus geht. Aber das macht nichts, denn mit den Hindernissen steigt die Hilfsbereitschaft.
Die Nacht verbringe ich bei einem schwindsüchtigen Kautschukzapfer, der 19 Kinder hat, aber nur elf Hängematten - und eine schwangere Frau. In der nächsten Nacht schlafe ich in einem Restaurant ohne Namen, neben zwei Krankenpflegern auf Impfkampagne. Vor dem Einschlafen teilen sie ihre "Tigermilch" mit mir und notieren gleich noch das Rezept: Milch, Kakao, Alkohol. In der dritten Nacht bleibt der Bus wieder im Schlamm stecken. Es ist erstaunlich, aber wieder hat die die Symphonie der Tiere einen ganz anderen Klang. Am Morgen darauf, endlich, rumpeln wir zum letzten Mal auf eine Fähre, legen ab, und am anderen Ufer ist schon die fensterlose Kathedrale von Cruzeiro do Sul zu sehen.
56.000 Einwohner, Bischofssitz, die westlichste Stadt Brasiliens und eine der einsamsten dazu. Zwei Äpfel kosten mehr als ein Kilo Rindfleisch, der Zeitschriftenhändler verkauft Magazine, die schon vor Monaten erschienen sind. Meine Karte behauptet, dass die Landstraße 364 noch weiter geht, bis nach Peru hinein - "stimmt", sagt die Frau im Reisebüro, "aber da müssen Sie ein Pferd nehmen." Es ist September. Einige Wochen noch, dann wird die Sonne immer öfter hinter Regenwolken verschwinden, der Staub der Straße sich endgültig in Schlamm verwandeln. Die Landstraße 364 wird unpassierbar werden, ein halbes Jahr lang.