Neulich sitze ich mit ein paar Leuten zusammen, als einer von einer Freundin erzählt: „Sarah hat gerade ihren Job verloren, jetzt ist sie in einem tiefen Loch. Sie fühlt sich, als wäre sie auf voller Linie gescheitert." „Aber sie ist doch nicht gescheitert, Tausende verlieren jeden Tag ihren Job. Sie hat ja keine Millionen in den Sand gesetzt." An diesem Punkt hake ich ein: „Scheitern ist doch ein sehr persönliches Gefühl - und jeder setzt den Maßstab seines Scheiterns anders." Nicken in der Runde, dann betretenes Schweigen. Wie oft war Sarah wohl in der letzten Zeit gesagt worden, dass sie nun mal echt nicht traurig sein brauche?
Scheitern, auf die Nase fliegen, etwas in den Sand setzen, das ist etwas sehr Persönliches. Und vor allem etwas sehr Privates. In Zeiten, in denen wir unsere Müslischüssel so perfekt für ein Foto drapieren, ist das Scheitern im privaten und beruflichen Umfeld nicht gern gesehen. Schwäche zeigen, einmal nicht funktionieren können gilt als Versagen, in einer Gesellschaft, in der nach Perfektion und Karriere gestrebt wird. Es geht immer höher, immer weiter. Jedoch niemals nach unten. Und wer doch auf die Nase fliegt, bleibt für sich.
Die große Trauer um eine gescheiterte Liebe. In den ersten Tagen wird geweint, getröstet und geflucht. Doch bitte, irgendwann ist damit aber auch dann mal Schluss. Es muss doch weitergehen. Dass das Verlieren der großen Liebe aber seine Zeit braucht, die auch jeder für sich persönlich definiert, wird in einer Leistungs- und Funktionsgesellschaft wie unserer vergessen. Irgendwann dreht sich die Welt weiter - der, der schwach bleibt, robbt am Ende seiner Kräfte hinterher.
Genauso der Verlust des Traumjobs. Die Befristung zu Ende, der Vertrag wird nicht verlängert. Und plötzlich steht man da. Die Kollegen bemitleiden einen, sind aber schon bald wieder in ihrer eigenen Welt, in der man nicht mehr existiert. Das Loch wird groß und größer. Das Gefühl des Scheiterns schleicht sich langsam ein. Wenngleich man vielleicht nicht 10 Millionen an die Wand gefahren hat. In der Relation ist das eigene Leid immer kleiner, aber eben auch zehnmal näher.
Ehrlich gesagt: Ich wusste lange nicht, ob ich es aufgrund meines selbstständigen Arbeitspensums überhaupt schaffe, mein Magisterstudium ernsthaft zu beenden. Immer wieder kam etwas dazwischen, die fehlenden Scheine rückten in weite Ferne. In manchen Nächten schnürte es mir den Hals zu, wenn ich daran dachte, das Studium zu schmeißen. Was würden die Leute denken? Wie schwachsinnig eigentlich. Einzig mein doch minimal vorhandener Ehrgeiz und mein Stolz trieben mich die letzten Monate an, doch noch irgendwie das Ganze hinzukriegen. Mit der Abgabe der Magisterarbeit fielen damit aber auch zentnergroße Steine von meinen Schultern. Vorerst das Scheitern abgewendet. Drückt die Daumen, dass es gereicht hat und meine Prüfungen auch gut hinhauen.
Dafür scheitere ich immer wieder im Kleinen im Alltag. An meinen Ansprüchen, meinem Zeitmanagement und an meinen Ängsten. So viel zu erledigen, so wenig Zeit. Aber der Tag hat nun mal nur 24 Stunden. Manchmal verplane ich Treffen, weil so viel zu erledigen ist, und ich muss absagen. Nicht nett, und am meisten ärgere ich mich dann über mich selbst. Genauso wie es mir die Luft zu schnürt, wenn die U-Bahn länger als eine Minute im Tunnel steht. Für viele Leute ein Klacks, für mich definitiv unangenehm , sodass ich jedes Mal aufatme, wenn sie weiterfährt. Ist das schon Scheitern? Zumindest eine Schwäche. Ein Scheitern in seiner kleinsten Möglichkeit. Auch wenn ich bisher Glück hatte, beruflich wie privat, das große Scheitern blieb aus. Trotzdem spreche ich ungern über die kleinen Schwächen, meine Angriffsflächen.
Wenn wir neue Menschen treffen, fragen wir immer: Und, was machst du so? Wo geht es für dich hin? Ganz nach dem Motto: meine Familie, mein Haus, mein Hund, mein Garten, mein Auto, mein Traumjob, meine Mega-Karriere. Die Frage „Und was hast du zuletzt so richtig versemmelt?" stellt sich nie. Wer dann sagt: „Ich habe gerade keinen Job, denn es geht mir schlecht", erntet Schweigen, betretene Gesichter. Ein „Das kenn ich. Mir gings vor sechs Monaten auch richtig dreckig." würde helfen. Entspannen. Hemmschwellen senken.
Wenn Sarah jemanden erzählt hätte, sie hat den Job verloren und ihr wäre entgegengekommen: „Oh shit, das kenn ich. Gehts dir auch so mies? Die ersten Monate waren Horror, aber dann gings langsam." Ich denke, es wäre ihr besser gegangen. Ein verständnisvolles Umfeld gibt Kraft, ein verständnisloses raubt sie. Nach dem Gespräch war mir bewusster als je zuvor, dass man sich kein Urteil über die Schwächen anderer erlauben darf. Jeder empfindet anders. Während ich keinen Stress habe mit beruflichen Unsicherheiten zu leben, kann der andere dafür stressfrei Stunden im U-Bahn-Tunnel stehen. So ist das eben. Wir alle sind anders. Genauso wie jeder Mensch mal in seinem Leben am Punkt des Scheiterns steht. Wie groß und klein das ist, definiert jeder für sich. Was bei allem hilft: sich gemeinsam unterstützen. Auch in schwachen Zeiten. Sich zeigen, dass in unserer Instragram-Ästhetik-perfektionierten Welt nicht alles so perfekt ist - und vor allem perfekt sein muss.
Und deswegen frage ich euch: Was habt ihr zuletzt so richtig versemmelt? Wie sind eure Erfahrungen mit dem großen Wort des Scheiterns? Und welche kleinen Schwächen habt ihr so im Alltag?
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