Camilo Prieto ist kaputt. Der 43-jährige Arzt hat am Tag zuvor noch in Bogotá eine Brust wiederhergestellt; nun, eine Nacht, zwei Flüge und eine Bootsfahrt später steht er in einer Kirche in Bazán, einem Dorf mitten im Regenwald.
Keine Straße führt an diesen Ort in Nariño, dem Teil Kolumbiens, der an Ecuador grenzt. Vor Prieto stehen drei Reihen Plastikstühle, fast alle besetzt, dahinter an der weiß getünchten Wand, in bunten Buchstaben "Dios es amor" - "Gott ist Liebe".
"Das Virus ist wie ein Schlüsselbund", sagt Prieto zu den Bewohnern Bazáns, die gekommen sind, um mehr zu erfahren über die Krankheit, die jetzt alle beschäftigt. "Erwachsene haben mehr Schlösser, in die die Schlüssel passen, als Kinder. Die Gesichtsmaske macht, dass die Schlüssel die Schlösser der anderen nicht erreichen."
Kaum jemand im Publikum trägt einen Mund-Nasen-Schutz. Am Ende des Vortrags verteilt Prieto eine Maske an jeden. Dass die Menschen sie aufsetzen, ist sein ganz persönlicher Tagessieg.
Kolumbien ist eines der Länder, das von der Corona-Pandemie bisher am stärksten betroffen ist. Die Regierung setzte auf strenge Ausgangsregeln - auch weil es vor der Pandemie nur 5346 Intensivbetten im ganzen Land gab - bei rund 50 Millionen Einwohnern.
Inzwischen hat die Regierung nach eigenen Angaben die Bettenanzahl auf etwa 10.000 erhöht. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es beinahe 30.000 Intensivbetten bei etwa 83 Millionen Einwohnern.
Die Restriktionen in Kolumbien sollten die Zahl der Erkrankten niedrig halten, sie hatten jedoch noch einen anderen Effekt: einen Versorgungsengpass bei Lebensmitteln und Medikamenten in ländlichen Zonen. Unter anderem, weil Lieferanten den Weg durch unsichere Gebiete während der Pandemie nicht mehr auf sich nehmen wollten.
Denn durch Ausgangssperren und die Aufschiebung des Friedensprozesses in vielen ländlichen Zonen konnten bewaffnete Gruppen in einigen Gegenden ihre Machtpositionen ausbauen. Diese Situation wirkt sich bis heute aus, wie Camilo Prieto berichtet.
Die ohnehin schlechte Versorgung der Landbevölkerung hat sich dadurch verschlimmert. Etwa in Chocó oder Nariño, zwei der am meisten von Konflikten heimgesuchten Departamentos von Kolumbien, oder in La Guajira, das seit jeher mit Wasserknappheit zu kämpfen hat.
Immer wieder kam es im ganzen Land zu Protesten: Menschen in ärmeren Stadtteilen der Großstädte hängten rote Tücher raus, um auf ihren Hunger aufmerksam zu machen. In abgelegenen Gegenden hilft diese Art von Protest wenig - er wird kaum wahrgenommen.
Eine Gruppe aus Ärzten und Privatpiloten hat daraufhin eine Luftbrücke geschaffen. Seit März beliefern sie im ganzen Land abgelegene Dörfer mit Medikamenten, Lebensmitteln - und Wissen über das Virus. Denn in vielen Zonen Kolumbiens wissen noch immer viele Menschen nicht, was es mit der Krankheit auf sich hat.
Direkt neben der Kirche in Bazán steht eine medizinische Versorgungsstation: drei Behandlungsräume, ein Medikamentenlager. July Nelly Ramirez ist die einzige Krankenschwester für 1800 Menschen. Einen Arzt gibt es hier nicht - das nächste Krankenhaus ist 25 Minuten Bootsfahrt entfernt.
Vor einiger Zeit seien Regierungsvertreter aufgetaucht, um die Station von Grund auf zu sanieren, sagt Ramirez. Sie hätten das Dach und den oberen Teil der Wände abgerissen - und seien dann nie wieder aufgetaucht. Sie zeigt nach oben: Deshalb habe sie mit einigen Helfern das Wellblech auf die Station geschraubt.
Prieto reicht Ramirez einen Inhalator, ein Ultraschallgerät und Dutzende Packungen Antipilzmittel. Weil die Menschen hier viel im Wasser arbeiteten, hätten gerade Frauen häufig Probleme mit Haut- und Vaginalpilz, erklärt Ramirez. Es gäbe zwar eine Apotheke im Dorf, doch die Bevölkerung könne sich die Medikamente dort meist nicht leisten. In der Versorgungsstation gäbe es die Mittel normalerweise gratis. Es ist die dritte Ladung, die Prieto gemeinsam mit den Privatpiloten nach Bazán bringt.
Mehr als 17 Tonnen Hilfsgüter hat das Bündnis zwischen Ärzten und Piloten seit Beginn der Pandemie in elf Departamentos Kolumbiens verteilt. Sie werden meist von Firmen gesponsert, die Medizinartikel produzieren, aber auch von Privathaushalten. 1612 Patienten wurden bereits behandelt, einige haben die Ärzte bis zum nächsten Krankenhaus ausgeflogen, etwa weil sie an Blinddarmentzündung oder starken Blutdruckschwankungen litten.
Corona-Patienten gebe es zwar auch in den abgelegenen Regionen, "dass sie schwer zu erreichen sind, ist für sie ansteckungstechnisch aber ein Plus", so Prieto.
Im Wartesaal der Versorgungsstation sitzt Mónica Delgado, Chefin einer Pilotenschule bei Cali. Mit ihrer Piper Comanche, einem Leichtflugzeug Baujahr 1961, fliegt sie regelmäßig Einsätze mit Ärzten wie Camilo Prieto. Auch dieses Mal ist sie mit ihrer privaten Maschine hier - und hat zusätzlich einen zweiten Piloten organisiert, um mehr Fracht transportieren zu können.
Delgado fühlt sich in Kolumbien privilegiert und sieht es deshalb als ihre Pflicht, den Menschen etwas zurückzugeben. Bereits vor der Pandemie habe sie für eine NGO hin und wieder Hilfsflüge geleistet, doch seit Corona sei es eine regelmäßige Aktion geworden. Drei Flotten von Privatpiloten, die sogenannten Patrullas, haben sich zusammengetan, um gemeinsam weite Teile Kolumbiens zu versorgen. Eine in Bogotá, eine in Cali, eine in Medellín.
Ohne die Hilfe der Armada, der kolumbianischen Marine, wäre das ganze Unterfangen jedoch unmöglich, so Delgado. "Sie kennen die Orte, zu denen keine Hilfe kommt, sie gewähren mitunter Schutz in gefährlichen Zonen." Doch gerade der Begleitschutz der Armada werde häufig zum Problem: "Wir haben erlebt, dass Bürgermeister unsere Hilfsgüter nicht annehmen, weil sie glauben, wir kämen von der Regierung."
Die politische Spaltung im Land sitzt tief. Der jetzige Präsident, Iván Duque, steht in der Tradition des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribes, der wegen seiner harten Politik gegen die Guerillagruppen umstritten ist.
Dieser gesellschaftliche Riss führt auch dazu, dass Lokalpolitiker Nahrung und Medikamente für die Bevölkerung verweigern. Gleichzeitig sei es nicht ungewöhnlich, dass die Lieferungen gar nicht bei den Menschen ankommen, sondern in den Taschen lokaler Funktionäre verschwinden, sagt Prieto. "Deshalb versuchen wir, die Lokalpolitik außen vor zu lassen und die Hilfsgüter direkt an Krankenschwestern und Betroffene zu verteilen."
Prieto steigt hinter Delgado in das kleine Boot mit Außenmotor, das sie zurück zu der schmalen Landebahn bei El Charco bringen soll. Von dort geht es zurück nach Cali. In El Charco hält das Boot noch einmal an: Die Reling schlägt gegen die Steinstufen, die von der Promenade bis ins Wasser reichen. Eine Krankenschwester läuft die Stufen hinab, in der Hand zwei Styroporboxen. "Corona-Tests", sagt Prieto, als ein Helfer die Kisten ins Boot hievt. Die Tests kommen nach Bogotá, wo sie ausgewertet werden sollen.
Als Delgados blau-rote Piper abhebt, wird es schon dunkel. Kurz nach dem Start ist Prieto eingeschlafen - auch als Delgado an einem Gewitter vorbeisteuert und die Maschine immer wieder absackt, wacht er nicht auf. Es ist sein zehnter Flug in einer dieser alten, kleinen Maschinen und viele werden folgen: Das Projekt, das in der Pandemie entstand, soll auch danach weiterleben.