In Bogotá gilt Du bist, wo du wohnst, denn in Kolumbien gibt es das sogenannte Estrato-System, einzigartig auf der Welt.
Die Städte wurden damit formal in soziale Schichten geteilt. Von eins, der niedrigsten Schicht bis sechs den Zonen mit den höchsten Einkommen. Das Estrato-System wurde in den Neunzigern im gesamten Land eingeführt, um den ärmsten zu helfen. Die reichen zahlen mehr für Wasser, Strom und Gas. Die Armen werden subventioniert. Doch das System hat die soziale Segregation verschärft.
Camilo León, Buchhalter: " Als ich gesagt habe, dass ich mein Büro in der 81. habe, sagten meine Bekannten. Glückwunsch, sehr gut, du hast dir wirklich was aufgebaut. Das war anders mit dem Büro, das ich vorher hatte, im Estrato 3. Das war normal. Aber wenn einer in diesem Estrato ein Büro hat, dann heißt das, dass man es geschafft hat."
Camilo Leòn arbeitete bis vor kurzem im angesagten Stadtteil El Retiro. Der selbstständige Buchhalter stammt aus einem Armenviertel am Rande der Stadt. Er hat sich bewusst ein Büro in einem teuren Viertel genommen, denn er weiß: Nur mit der richtigen Adresse kann man zahlungskräftige Kunden anlocken. León war stolz auf sein Büro in dem teuren Viertel. Doch auf Dauer konnte er sich die Miete und die hohen Nebenkosten nicht leisten. Für ihn ein Abstieg. Der Standort hatte ihm Anerkennung gebracht. Das Estrato-System wirkt auch in den Köpfen der Bevölkerung. Menschen aus niedrigen Estratos wird weniger vertraut. Auch León kann sich dem Einfluss nicht entziehen.
Camilo León, Buchhalter: " Es gibt Firmen, die Sicherheitschecks von potenziellen Arbeitnehmern durchführen. Wenn jemand aus einem bestimmten Estrato stammt, würde man sich vielleicht eher dafür entscheiden, einen Lügendetektor Test durchführen zu lassen, bevor man ihn einstellt. Aber wenn ich eine Frau einstellen würde, die hier in der Umgebung lebt, wäre es mir peinlich, bei ihr so einen Test machen zu müssen. Camilo León kommt ursprünglich aus El Codito, einem Stadtteil der Estrato Kategorie 1 am Rande der Stadt."
Der Strompreis einer durchschnittlichen Familie liegt hier bei umgerechnet circa sieben Euro. In den niedrigen ist Estratos 1 und 2 leben gut 50 Prozent der Bewohner. Bogotás. Hier wohnt auch die Diana-Isabel Reyes mit ihrer Familie. 24 Menschen leben unter einem Dach. Diana ist 33, letztes Jahr hat sie ihren Schulabschluss gemacht. Um ihre Kinder zu ernähren, putzt sie Häuser in einem Wohlhabenden Estrato. Die Vorurteile gegenüber ihrer Herkunft spürt sie jeden Tag.
Diana Isabel Reyes, Reinigungskraft: " Die Leute aus höheren Estratos denken häufig, dass wir unehrlich sind und ihren Häusern Schaden zufügen."
Die Familie Reyes hat keinen Wasseranschluss. Von den Subventionen des Estrato-Systems profitiert sie deshalb nur eingeschränkt, obwohl sie finanzielle Unterstützung für Gas und Strom erhalten. Konnten Sie ihre Rechnungen nicht bezahlen. Mittlerweile schulden sie dem Gasanbieter umgerechnet etwa 150 Euro, auch weil sie wegen der Corona-Pandemie keine Arbeit mehr finden. Viele Familien in der Nachbarschaft haben rote Tücher ausgehängt. Damit zeigen sie, dass sie Hunger leiden.
Das System der Umverteilung ist auch deshalb schwierig, weil die Zuteilung zu Estratos nach Häuserblocks funktioniert. So gehören alle Häuser eines Blocks zu einem Estrato, das Familien innerhalb eines Blocks unterschiedlicher Einkommen haben, wird nicht berücksichtigt. Ein Aufstieg in eine höhere soziale Zone gelingt den wenigsten Bewohnern von Estrato 1. Neben den eigenen höheren Lebenskosten müssten sie dort auch Subventionen für niedrige Estratos bezahlen. Eine zweifache Hürde, die dem sozialen Aufstieg entgegenwirkt. Jonathan Cordoba arbeitet für eine Hilfsorganisation. Er beobachtet einen Teufelskreis, der kaum Aufstiegschancen armer Kinder zulässt.
Jonathan Cordoba, Stiftung "Ayuda por Colombia": " Die Estratos sind so in den Köpfen drin, dass wir hier schon sagen: Das Kind aus diesem Estrato hat Chancen im Leben und das andere nicht. Aber es sind doch einfach Kinder. Aber sie haben unterschiedliche Voraussetzungen, weil das Estrato-System sie von klein auf verschiedenen Schichten zuteilt."
Von El Codito sind es nur rund zehn Kilometer bis nach La Carolina, einem der begehrtesten Stadtteile Bogotás. Der Strompreis einer durchschnittlichen Familie liegt hier bei umgerechnet zirka 29,50€. In diesem Stadtteil wohnt Juan Sebastian Cantillo gemeinsam mit seiner Mutter.
Er hat von klein auf in Estrato sechs gewohnt und an der angesehenen Rosario Universität studiert. Der 27-Jährige arbeitet heute in einer internationalen Firma im Bereich Videospiele. Im Monat verdient er umgerechnet rund 1250 Euro. Cantillo sieht die Ungerechtigkeiten des Systems, fühlt sich jedoch auch selbst dadurch benachteiligt.
Juan Sebastian Cantillo, Betriebswirt im Bereich Videospiele: " Es geht um die Verteilung der Güter. Es wäre doch besser, wenn wir alle das Gleiche bezahlen, also wenn wir das bezahlen, was wir konsumieren. Aber nur weil du mehr verdienst, solltest du nicht mehr bezahlen müssen. Sonst gibt es ja direkt eine Verzerrung."
Cantillos ist Großeltern, waren einflussreiche Militärs. Seine Mutter arbeitet in der Staatsanwaltschaft, sein Vater ist Firmenbesitzer. Die Estratos habe ihn unter seinesgleichen aufwachsen lassen, Verbindungen geschaffen.
Juan Sebastian Cantillo, Betriebswirt im Bereich Videospiele: " Ich denke, die kolumbianische Gesellschaft erzieht einen dazu, die anderen Schichten auszublenden, ein Schuldgefühl zu unterdrücken."
In Bogotás Zentrum ändert sich an beinahe jeder zweiten Straßenecke, alle Zonen sind hier vertreten. Ein Flickenteppich, der manchmal wenig Sinn ergibt. Trotzdem sei das System in den Neunzigern sinnvoll gewesen, meint Juan Yunda, Stadtplaner. Damals hätte man keine genauen Daten über das Einkommen der Familien gehabt. Heute sei das anders.
Juan Yunda, Stadtplaner, Päpstliche Universität Xaveriana: " Das System der Estratos ist heute obsolet.Wir haben viel detailliertere Informationen über die Einkommen von Familien. Wir können die Subventionen viel eher davon abhängig machen. Das Problem ist, wenn sich das nicht mit einer Stadtplanungspolitik verbindet, werden die Zonen mit wenig Einkommen im Zentrum der Stadt verschwinden."
Denn das Zentrum in Bogotá ist wie in vielen anderen Großstädten der Welt auch attraktiv. Durch das Estrato-System haben sich hier jedoch Zonen mit niedrigen Einkommen bewahrt, die wie ein Schutzwall gegen Gentrifizierung wirken. Ohne sie stünde der Verdrängung nichts mehr im Weg. Stadtteil Kennedy Estrato 3. Der Strompreis einer durchschnittlichen Familie liegt hier umgerechnet bei zirka 14,50€. Nach der Aufgabe seines Büros arbeitet Camilo León in seiner Wohnung. Die Kosten hier kann er mit seinen Einnahmen decken. Auch wenn er das Büro im Estrato 6 aufgeben musste. Sein Umzug von Estrato 1 nach 3 ist eine Ausnahme. Das hat er dem Zufall zu verdanken. León konnte nur studieren, weil er von einem Golfklub ein Stipendium erhalten hatte. Dort hatte er als Caddy gearbeitet. Beinahe hätte sein Leben aber eine ganz andere Wendung genommen.
Camilo León, Buchhalter: " Als meine Mutter gestorben ist, hat mein Vater mich ins Departamento Putumayo geschickt. Dort musste ich Coca-Blätter ernten. Das war eine so traumatische Erfahrung, dass ich gedacht habe, dass zur Schule gehen doch besser ist. Ich konnte dann studieren, und das hat den Unterschied gemacht. Damit konnte ich einen richtigen Beruf erlernen und mein Leben verändern."
Menschen leben in Estratos, obwohl sie es sich nicht leisten können. Andersherum nutzen viele Menschen mit höheren Einkommen niedrige Estratos etwa für Produktionsstätten, um Kosten zu sparen.
Die Stadtregierung Bogotás will die Bevölkerung befragen und Einkommens-Bescheide einfordern und so ein genaueres System für offizielle Hilfen schaffen. Sollen, die Estratos abgeschafft werden.
Adriana Cordoba, Planungsekretärin Bogotá: " Es gibt viele Nöte, und die Mittel sind beschränkt. Wir müssen die Haushalte identifizieren, die Subventionen erhalten, obwohl sie sie nicht brauchen. Und andersherum die Familien ausfindig machen, die in einem höheren Estrato leben und eigentlich hilfsbedürftig sind. Die soziale Segregation überwinden, die Mittel gezielter einsetzen und den Missbrauch der Estratos einzuschränken. Das sind die Hauptpunkte des neuen Plans."
Doch um die Pläne umzusetzen, braucht es unter anderem die Zustimmung im Nationalkongress. Ob und wann sich etwas ändert, ist unklar. Camilo León will darauf nicht warten. Er hat einen Plan, um das System des Estratos für sich zu nutzen. Er will ins Umland ziehen. Die Grundstücke dort sind häufig Estrato 1 zugeordnet, obwohl die Lebensqualität hoch ist.
Camilo León, Buchhalter: " Ich will in ein Haus in der Nähe von Bogotá ziehen, auf dem Land leben, aber nah an der Stadt wohnen. Dort hätte ich Platz für eine Familie, für Tiere, vielleicht für ein kleines Gemüse-Feld. Und trotzdem wäre ich schnell in der Stadt."
Mehr als 25 Jahre gibt es das System der Estratos bereits in Kolumbien. Die politische Bereitschaft, es abzuschaffen, wird immer größer. Es aus den Köpfen seiner Bevölkerung zu löschen, wird schwieriger sein.