Ihre zwei Jahre alte Schwester fällt zu Boden. Aus den Händen ihrer Mutter, die im Schlafzimmer in die Ecke gedrückt und vom Vater verprügelt wird. Seine Hand - zu einer Faust geballt. Die Schläge. Noch heute sieht sie, wie die Faust ihre Mutter trifft. In Zeitlupe. Einmal, zweimal - immer und immer wieder. Die Mutter schreit. Doch keiner hört sie. Keiner wird ihr helfen. Nur Anna❉ sieht alles und vergisst nichts. Damals, vor 24 Jahren - sie war gerade einmal fünf Jahre alt.
"Diese Bilder in meinem Kopf werde ich nie wieder los", sagt die 29-Jährige heute. Im Beratungszimmer des Vereins "Frauen helfen Frauen" versucht sie ihre Tränen zurückzuhalten. Es gelingt ihr nicht. Sie wirkt für einen Moment gefangen in der Vergangenheit. Ihre Kindheitserinnerungen, die für Jahre vergessen schienen, schmerzen noch immer.
Mit 19 zog Anna von zu Hause aus. "Der Stress war unerträglich." Sie wollte weg von den Streits ihrer Eltern, von ihrem Vater, der trank - einfach weg und zur Ruhe kommen. Das war 2006. Sieben Jahre später lernt sie Sven❉ kennen. "Ich war Mitte 20 und habe an die Liebe geglaubt." Für ihn habe sie sogar ihre Stelle als medizinische Fachangestellte aufgegeben. Eine Gemeinsamkeit verbindet die beiden von Anfang an: Sie kommen aus Familien, in denen häusliche Gewalt immer Thema war. Gemeinsam regen sie sich darüber auf, sprechen über die Gewaltszenen, die sie erlebt hatten, und wollen es besser machen. Sie scheitern.
Anna wirkt nicht so, als ob sie sich schlagen lassen würde. Sie ist frech und schlagfertig, wirkt selbstbewusst. "Eigentlich fing alles harmlos an", erzählt sie, während sie nervös an ihren braunen langen Haaren spielt. "Irgendwann sollte ich mich nicht mehr schminken." Sven verbietet es ihr, andere Männer könnten ihr ja hinterherschauen. Schöne Klamotten darf sie auch nur noch für ihn tragen. Und dann die Gewalt. Die Wutausbrüche nehmen mit der Zeit zu. "Dann war es nicht nur einmal im Monat, sondern mehrmals die Woche."
Spucke und Schläge ins Gesicht. Tritte an die Beine. Verdrehte Handgelenke - irgendwann hat sie nur noch blaue Flecken, überall. "Er hat in seiner Jugend viel Prügel bekommen", betont sie, und es scheint fast so, als ob sie ihren Ex ein wenig in Schutz nimmt. Für einen Augenblick. Dann empfindet sie wieder Wut. "Ich hab mich schlagen lassen - drei Jahre lang." Getrennt habe sie sich in der schlimmen Zeit viermal von ihm. Dann sei sie zu Freunden oder zur Familie geflüchtet.
"Irgendwann nimmt dich keiner mehr ernst", sagt sie leise. Denn sie kehrt immer wieder zu ihrem Peiniger zurück.
Er verspricht, sich zu bessern, und bemüht sich - doch dann geht alles wieder von vorn los. Sogar, als sie hochschwanger ist. "Ich dachte, mit dem Kind wird sich sein Verhalten schon ändern", sagt Anna enttäuscht.
"Einmal hat er mich mit voller Kraft in den Unterleib getreten." Sie geht sofort zum Arzt - dem Kind ist nichts passiert. Ein anderes Mal beugt er sich zu ihr und flüstert: "Ich werde dich dorthin schlagen, wo es niemand sieht." Sie stockt, versucht die Bilder der Vergangenheit in Worte zu fassen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. "Er nahm meine Haare und zog daran - dabei riss er mir auch ein paar raus."
Er schlägt sie auch auf den Hinterkopf. Anna fasst reflexartig an ihr Gesicht und sagt: "Das waren höllische Schmerzen." Sie liegt auf dem Boden, weint, im Zimmer nebenan schreit ihr Sohn. Horrorszenarien, die sie nie wieder erleben will. Die sie sogar Selbstmordgedanken verspüren lassen. "Irgendwann hatte ich ein Messer in der Hand - ich hielt es nicht mehr aus." Doch beim Anblick ihres Sohnes legt sie das Messer wieder in die Schublade. Allein will sie ihr Kind nicht lassen.
Sven habe sie irgendwann zu sehr provoziert: "Wieso rufst du nie die Polizei?" Irgendwann, nach Jahren der Demütigung, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Wieso hatte sie eigentlich nie um Hilfe gebeten, nie die Polizei verständigt? "Aus Scham und Stolz" - glaubt sie. "Ich wollte mir nicht eingestehen, dass wir ein Problem haben. Die schöne, heile Welt wollte ich um jeden Preis wahren."
Doch als sie merkt, dass er sich auch durch den Sohn nicht ändert, fasst sie neuen Mut. Der nächste Vorfall soll der letzte sein. Im August 2015 ist es so weit. Sie ruft die Polizei. "Die sollten mal sehen, was bei uns zu Hause los ist." Er bekommt einen Platzverweis. "Meine Einsicht kam spät. Ich wollte doch bloß eine Familie, die ich nie hatte", sagt sie.
Anna zündet sich eine Zigarette an, um sich für einen Augenblick von der Vergangenheit abzulenken. Dabei erzählt sie von ihrem Sohn, zeigt Bilder von ihm. Ihre Augen glänzen. Plötzlich vibriert ihr Handy. "Er versucht mich noch immer zu erreichen", sagt sie und legt das Smartphone zu Seite. Ihr Sohn sei ihre letzte Gemeinsamkeit. "Wir haben uns nichts mehr zu sagen."
Sie habe jetzt noch drei Monate, um die Anzeige gegen Sven wegen Körperverletzung geltend zu machen. "Irgendwie bin ich mir noch unsicher, schließlich soll er sich um seinen Sohn kümmern." Zurück zu ihm will sie aber nicht. "Manchmal ist es einfach zu spät, um etwas wiedergutzumachen."
Anfang Oktober 2015 flüchtet sie mit ihrem Sohn ins Offenburger Frauenhaus. Adresse unbekannt. Zum Schutz der Frauen, die sich dort von ihren physischen und psychischen Schmerzen erholen. "Eigentlich wollte ich nie dorthin. Es kam mir wie ein sozialer Abstieg vor - heute sehe ich das anders", sagt Anna. Doch bei ihren Eltern habe sie es nicht ausgehalten.
Von einer 100 Quadratmeter großen Wohnung zieht sie in eine 20 Quadratmeter große. Anna ist das egal. "Wir sind wie eine große WG", sagt sie und lächelt. "Wir kochen am Abend oder schauen Filme", erzählt sie und wirkt gelassen, fast schon angekommen. Hin und wieder erzählen die anderen Frauen, warum sie hier sind. "Manche Geschichte nimmt mich jetzt noch mit."
In den nächsten Wochen holt sie die restlichen Kisten aus der gemeinsamen Wohnung. Die Frauen vom Verein "Frauen helfen Frauen" unterstützen sie beim Umzug. Ihrem Ex begegnet sie nur, wenn er den Sohn abholt. Dann treffen sie sich auf neutralem Boden - am Bahnhof in Offenburg. Hin und wieder versucht er sie dort zu überreden. "Komm, wir machen uns einen schönen Abend, so wie früher." Von "früher" und von Männern hat sie allerdings erst einmal genug.
"Ich habe einen Mann, er ist eineinhalb Jahre alt und bedeutet mir mehr als alles andere." Finanzielle Unterstützung erhält sie vom "Weißen Ring", einer Organisation, die sich für Kriminalitätsopfer einsetzt. 250 Euro bekommt sie monatlich. Doch auf Dauer reiche das Geld nicht. "Ich werde mich in Krankenhäusern bewerben und meinen Sohn in der Kita anmelden", sagt die gelernte medizinische Fachangestellte. Sie hat keine Angst, als Alleinerziehende ihre Zukunft neu zu gestalten.
Eine Tür schließt, eine andere öffnet sich. Sie ist sich sicher: Schlimmer kann es nicht mehr werden. "Für Euch bin ich geblieben", erinnert sich Anna an die Worte ihrer Mutter, die ihr immer unter Tränen vorhielt, nicht gehen zu können. Heute kann sie sie ein bisschen besser verstehen, empfindet Mitleid. "Noch heute macht mein Vater sie verbal fertig", erzählt Anna mit zittriger Stimme und schüttelt den Kopf. "Sie hat es leider nicht geschafft - ich will es besser machen." Und dennoch, das alles ist Teil ihrer Geschichte. Mit ihrer Mutter fing alles an.