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Deutsche Hausärzte unter Druck: Das Telefon steht nicht mehr still

Die Kinder von Lisa S. sind es gewohnt, dass die medizinische Fachangestellte ihre Sorgen mit nach Hause bringt. Seit über zehn Jahren arbeitet sie in der Hausarztpraxis in einer südhessischen Kleinstadt. Sie kennt die Grippewellen, den Ärztemangel, übervorsichtige Patienten. Arbeitsalltag, nennt die 34 Jahre alte Mutter das.


Seit vier Wochen hat sich die Belastung für Lisa S. und ihre Kollegen jedoch drastisch verändert. „Es ist extrem geworden, so etwas hatten wir noch nie", sagt die medizinische Fachangestellte. Obwohl die Praxis selbst keine Corona-Tests durchführt, steht das Telefon nicht mehr still: Patienten rufen an, sie haben Fragen zu Vorerkrankungen und zum eigenen Risiko. Viele wollen wissen, ob und wie sie sich testen lassen können - oder sich telefonisch vergewissern, dass sie lediglich Erkältungssymptome aufweisen. Die meisten müssen es mehrfach versuchen, bis sie durchkommen; in die Praxis selbst kommen derweil immer weniger Patienten. Am Empfang sitzt Lisa S. mit einer Kollegin, zwischen ihnen steht das Desinfektionsmittel. Auch ihre Hände, durch die jeden Tag dutzende Chipkarten und Rezepte gehen, sind von der ständigen Nutzung der Chemikalie schon ganz rau. Manchmal trägt sie Handschuhe, die die Menschen verunsichern. Ist es wirklich schon so gefährlich?


Hausarztpraxen wie die von Lisa S. sind meist die ersten Anlaufstellen für besorgte Menschen. Zwar werde auch die 116117-Hotline oder das Gesundheitsamt kontaktiert, jedoch sei deren Auslastung aktuell noch höher als die der Hausärzte. Deswegen wenden sich viele lieber an die Praxis des Vertrauens: „Gerade junge Menschen sind verängstigt. Ich glaube, das liegt auch an deren Medienkonsum. Da müssen immer wieder Standards erklärt und abgefragt werden", sagt die medizinische Fachangestellte. Manche fragen zum Beispiel, ob sie bei einem Hausarztbesuch eine vollständige Schutzkleidung tragen müssen. In den meisten Fällen reiche es bereits, nervösen Anrufern zu versichern, dass die Praxis geöffnet bleiben soll.


Fällt eine Praxis aus, wird das Chaos größer

In solchen Situationen muss sich Lisa S. oft sicher geben, obwohl sie es eigentlich nicht ist: Die Pläne und Sicherheitsvorkehrungen der beiden Hausärzte in der Praxis gelten nie länger als einen halben Tag, ständig kommen neue Informationen, ständig müssen sie an den eigenen Maßnahmen nachjustieren.


Schon am Mittag kann etwa die Zahl der zulässigen Patienten im Wartezimmer weiter verkleinert, Stühle entfernt und Sicherheitsabstände vergrößert werden. Erst vor ein paar Stunden sei eine zweite, große Hausarztpraxis in der Stadt weggebrochen - Corona-Kontakt, sofortige Schließung. Das erhöht den Druck für die restlichen Praxen, die die Patienten übernehmen.


In all dem Chaos müssen Lisa S. und ihre Kolleginnen zudem den Überblick behalten: Wer war heute in der Praxis, wenn auch nur zur Rezeptabholung? Jederzeit kann in ihrer Praxis der Anruf kommen: Ihr hattet einen Corona-Erkrankten im Haus, ihr müsst schließen. Dann müsste jeder Patient identifiziert werden, der in dem Zeitraum vor Ort war. Eine Verantwortung, die eigentlich zu groß ist für die vier Helferinnen und zwei Ärzte. „Wir gehen auf dem Zahnfleisch, nicht erst wegen Corona. Gerade machen sich viele lange, strukturelle Probleme bemerkbar", sagt die medizinische Fachangestellte. Täglich neue Überstunden zu sammeln sei momentan normal, auch die Mittagspause falle kürzer aus.


Die Mitarbeiter belastet das Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Sowohl die Gesundheitsämter als auch der ärztliche Bereitschaftsdienst in Hessen geben keine Informationen oder Briefings an die Praxen heraus. Auch Atemschutzmasken und Schutzkittel sind Mangelware und können derzeit nicht nachgeliefert werden. Die offizielle Aussage lautet: Nichts mehr da. Das stellt medizinische Fachangestellte wie Lisa S., die durch Impfungen, Blut abnehmen und Verbandswechsel im direkten Kontakt mit Patienten steht, vor große Herausforderungen. „Wir müssen einfach versuchen, Abstand zu halten und fassen die Menschen so wenig wie möglich an", sagt die 34-Jährige.

Dabei geht es nicht nur um die Ansteckungsgefahr für die Besucher der Praxis. Lisa S. gehört durch eine Vorerkrankung selbst zur Risikogruppe. Durch die Medikation kann ihr Immunsystem kaum noch Viren abwehren. Angst um sich selbst habe sie nicht, sie sei eher besorgt, weil sich Menschen in ihrer Position nicht einfach aus dem System zurückziehen können: „Wenn jetzt das Personal in den Hausarztpraxen aufhört und die Ärzte schließen müssen, bleibt ja niemand zurück, um sich um die tägliche Versorgung außerhalb von Corona zu kümmern."


Damit die medizinische Fachangestellte genau das weiter tun kann, müssen sich die Eltern von Lisa S. seit den Schulschließungen an der Betreuung der Kinder beteiligen. Ihre eigene Mutter habe ebenfalls eine Lungenerkrankung, die sie zur Risikopatientin mache. „Ich fühle mich schlecht, wenn ich die Kinder bei ihr abgeben muss", gibt die junge Mutter zu. Eine Alternative gebe es für sie trotz des Status als systemrelevante Person aktuell nicht: Da ihr Ex-Mann den Status nicht hat, hat Lisa S. keinen Anspruch auf eine Notfallbetreuung. Momentan ermögliche nur ein rotierendes System aus Lebensgefährten, Großeltern und Ex-Mann die Kinderbetreuung. Es ist ihr Team und dessen Unterstützung, das die 34-Jährige durchhalten lässt: „Wir halten uns gegenseitig hoch. Wir müssen doch da sein, für die, die uns brauchen."

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