David Byrne über seine Broadway-Show "American Utopia", Verletzlichkeit auf der Bühne und die Spaltung Amerikas.
Interview von Annett Scheffel
Zuerst war „American Utopia“ ein Album, dann eine Konzertreihe, nun ist es auch ein Film. Bevor die Pandemie alle Events dieser Art unmöglich machte, war David Byrnes Konzertshow eine Sensation am Broadway. Zwischen Ende 2019 und Anfang 2020 lief sie dort im Hudson Theatre. Auf der Bühne vermischte Byrne Elemente des klassischen Popkonzerts mit experimentellem Theater und Reflexionen über Werk, Leben und Gesellschaft. Der Regisseur Spike Lee hat daraus einen Konzertfilm gemacht, der nun als Video-on-Demand auf Google Play, iTunes, Amazon Prime und weiteren Plattformen zu sehen ist. Am Telefon in seiner Wohnung in New York wirkt der 68-jährige Byrne munterer als es so ein Lockdown-Winter vermuten lässt, lacht viel und erzählt von dem Fischfond auf seinem Herd in einer Weise, als würde er der Reporterin jeden Moment einen Stuhl an seinem Esstisch anbieten. Es werden die herzlichsten 25 Interviewminuten der letzten Monate.
SZ: Mister Byrne, für „American Utopia“ haben Sie eine Bühnenshow zusammengestellt, die ganz verschiedene Phasen Ihrer Karriere verwebt: Sie spielen sowohl Songs von der letzten Platte als auch welche aus der Zeit mit den Talking Heads und andere ältere Solostücke. Wie schwer ist Ihnen die Auswahl gefallen?
David Byrne: In dem Fall hat es tatsächlich geholfen, dass ich mittlerweile auf einen so großen Katalog zurückgreifen kann. Ich wusste ja, dass es bei einer Broadway-Show nicht um einzelne Songs geht, sondern darum, mit meiner Auswahl eine Geschichte zu erzeugen, einen erzählerischen Bogen, der alles verbindet und zusammenhält. Mir war zum Beispiel von Anfang an klar, dass ich „Psycho Killer“ nicht spielen werde. Dem Publikum hätte das sicher gefallen, aber er passte einfach nicht in die Geschichte.
Eine der Geschichten, die Sie erzählen, ist die von dem Kinderchor, der „Everybody’s Coming To My House“ gecovert hat und Sie da erst verstanden haben, wie ängstlich Ihre eigene Version ist. Als Sie hörten, wie fröhlich der gleiche Song bei den Kindern klingt. Das war Ihnen vorher nie aufgefallen?
Irgendwie schon, aber es war mir nie ganz klar. Die Version der Kinder zu hören, war für mich ein ziemlich tiefgreifendes Erlebnis. Sie haben keine einzige Textzeile geändert, sie haben genau die gleiche Melodie gesungen. Und dennoch schien es bei ihnen eine komplett andere Bedeutung zu haben. In der geht es um die Lust am Zusammenkommen und an Inklusion. Bei mir ging es um das Unwohlsein in Anwesenheit von vielen Menschen und darum, das überwinden zu wollen. Es ist erstaunlich, wie sehr sich Worte ändern können, wenn sie mit einer anderen Stimme, in einer anderen Zeit, mit leicht verschobenem Takt gesungen werden.
Wissen und Nichtwissen ist ein weiteres Thema der Show. Zu Beginn der Show halten Sie ein Modell des menschlichen Gehirns, das wir ja immer noch nicht ganz verstehen. Würden Sie gerne die letzten Geheimnisse lösen – oder sich lieber noch ein bisschen Mysterium bewahren?
Ich habe eher das Gefühl, dass das gar nicht möglich ist: alles zu wissen. Je mehr man weiß, desto offensichtlicher wird doch nur, wie schrecklich viel wir nicht wissen. Ich habe neulich eine faszinierende Dokumentation über Schleimpilze gesehen: Einzeller, die weder zu den Tieren zählen noch zu den Pilzen, aber Eigenschaften von beiden haben. Sie können sich orientieren, haben ein Gedächtnis, können kommunizieren und zusammenarbeiten. Und keiner weiß, wie sie das machen. Faszinierend, oder? Und natürlich gibt es diesen Impuls in mir, der das verstehen will. Aber ich weiß auch: Es gibt gar keine abschließende Antwort. Egal wie weit wir gehen, es wird immer ein kleines Rätsel bleiben, gerade außerhalb unserer Reichweite.
Auf der Skala von eins bis zehn: Wie gut sind Sie als Tänzer?(lacht) Irgendwo in der Mitte. Also, technisch gesehen bin ich natürlich nicht gut. Auf der anderen Seite bin ich ziemlich furchtlos. Ich habe keine Angst davor, mich zu blamieren oder anderweitig komisch auszusehen. Das erlaubt es mir, ziemlich erfinderisch zu sein in der Art, wie ich mich bewege. Ich weiß, dass das nicht aussehen muss wie bei „Soul Train“ oder MTV oder traditionellem Tanztheater. Meinen eigenen Tanzstil zu finden – darin bin ich ziemlich gut. Ich würde sagen, das gleicht die technische Schwäche ganz gut aus.
Alle Performer tragen auf der Bühne graue Business-Anzüge – die Uniform der frustrierten Büroangestellten und gleichzeitig eine Referenz auf Ihren legendären Konzertfilm „Stop Making Sense“. Warum ein so aufgeladenes Outfit?
Wahrscheinlich genau aus diesem Grund. (lacht) Mir gefiel die Idee, dass an diesen Anzügen so viel Gewicht hängt, so viel Konservatismus und Alltagsfrust. Außerdem wollte ich nicht, dass sich das Publikum von den Outfits ablenken lässt. Wenn alle das Gleiche tragen, konzentriert man sich auf die Gesichter und die Bewegungen – und auf die Menschlichkeit, die uns alle eint. Deswegen sind wir ja auch alle barfuß. Das konterkariert die Anzüge auf eine lustige Weise. Ohne Schuhe ist so ein Anzug schon fast wieder rührend. Die nackten Füße geben der grauen Rüstung eine schöne Verletzlichkeit.
Hilft Verletzlichkeit auf der Bühne?
Mir auf jeden Fall! Es macht mich demütig, wenn ich mich da oben ein klein wenig ungeschützt fühle. Auf eine Art bleibt mir nichts anderes übrig, als mich direkt mit dem Publikum in Beziehung zu setzen.
Viele der Stücke und Zwischenteile haben einen starken politischen Unterton. Sehen Sie sich selbst als Aktivist?
Bis zu einem gewissen Maß, ja. Einer meine Grundsätze ist es aber, mich nicht parteipolitisch zu äußern. Ich habe mir eher Gedanken gemacht, wie man grundlegender – ohne die üblichen Streitereien – über Politik sprechen kann. Vieles ist ja auch unausgesprochen schon da: Wenn man über Migration sprechen will, muss man nur auf die Bühne gucken. Wir sind alle Einwanderer. Ich bin ein Einwanderer. Ohne Einwanderung hätte es diese Show und diesen Film nicht gegeben.
Ihre Show lief am Broadway in den letzten Monaten, bevor die Pandemie solche Veranstaltungen unmöglich machte. Wie hat sich Ihr Blick auf „American Utopia“ seitdem verändert?
Es gibt diesen Witz, den ich am Anfang der Show mache und der auch im Film zu sehen ist: Ich begrüße das Publikum und sage dann: „Danke, dass ihr eure Wohnungen verlassen habt.“ Vor der Pandemie war das so ein kleiner, hingeworfener Gag. Manchmal haben ein paar Leute kurz gekichert.
Und jetzt stockt einem fast der Atem dabei, weil es so unerträglich prophetisch klingt.Genau, plötzlich wird diese eine kleine Zeile mit einer immensen Bedeutung aufgeladen. Und das geht uns ja mit fast allen Dingen so: Wir lesen, hören, sehen und verstehen alles in einem anderen Licht. Wenn ich jetzt abends einen Film gucke, in dem es eine Szene mit dicht gedrängten Menschen gibt, in der U-Bahn oder in einer Bar, dann denke sofort: „Ah, holt mich hier raus!“ (lacht) Und nebenbei bekommen wir auf einmal auch ein viel stärkeres Gefühl dafür, wie soziale Ungerechtigkeit oder schlecht bezahlte Jobs im Gesundheitssektor wirken. Alles Sachen, die wir vorher wussten, aber leichter ausblenden konnten. Wir leben in einer neuen Welt, mit all den alten Problemen.
Wie ist es Ihnen denn seit Beginn der Pandemie ergangen?
Ich lebe allein, also kann es manchmal schon einsam werden. Aber ich mache viele Fahrradtouren mit Freunden und Bandmitgliedern. Das ist super, weil man Abstand halten und trotzdem zusammen sein kann. Wir erkunden die New Yorker Bezirke, die wir noch nicht so gut kennen. Im Herbst waren wir in Staten Island: eine Insel mit ziemlich vielen Trump-Wählern – und die Heimat des Wu-Tang-Clan. Außerdem leben dort viele singhalesische Einwanderer und in der Nachbarschaft riesige wilde Truthähne. Stellen Sie sich diese Kombination vor! Es war ein Abenteuer.
Weil Lernen ein weiteres großes Thema des Films ist: Was ist das Beste, das Sie im vergangenen Jahr gelernt haben?
Viele kleine Sachen. Kochen zum Beispiel. Das ist jetzt ein viel größerer Teil meines Lebens. Und dann natürlich eine große Sache, die viele Menschen gelernt haben: Wie essenziell menschliche Kontakte sind. Das ist ein so großer Teil unserer Identität, den wir jetzt umso stärker spüren. Ich bin
früher gerne alleine in Restaurants gegangen, um ein Buch zu lesen oder so. Die Leute haben mich immer gefragt, warum ich allein bin. Aber das war ja der Punkt: Ich war nicht allein, ich war umgeben von Menschen. Und genau dieses Gefühl fehlt uns jetzt.
Zum Schluss noch die Frage, die im Titel steckt: Was bedeutet das für Sie, amerikanische Utopie? Und glauben Sie noch daran?
Ich habe auf jeden Fall noch Hoffnung. Nicht jeden Tag, aber manchmal. Es gibt keine Garantie, dass sich in der Ära nach Trump wirklich etwas ändert. Die Spaltung ist dafür gerade noch zu groß. Aber ich spüre auch eine Sehnsucht nach Verbesserung und Fortschritt. Ich glaube, es liegt immer Hoffnung im Weitermachen, Weiterarbeiten, Weiterversuchen. Der politische Denker Alexis de Tocqueville hat vor langer Zeit gesagt, Amerika sei ein Experiment – und das ist es immer noch. Experimente gehen manchmal schief, aber sie bieten auch Möglichkeiten. Im Grunde ist das auch die Quintessenz des Films.
„Ich habe neulich eine
faszinierende Dokumentation
über Schleimpilze gesehen.“
Original