"Moonlight"-Regisseur Barry Jenkins hat sich an das amerikanische Schmerzthema Sklaverei gewagt. In einer großartigen Serie sucht er den Zauber auf der anderen Seite des Traumas.
Von Annett Scheffel
Es war ein denkwürdiger Moment, damals bei der Oscar-Verleihung 2017. Alle hatten mit La La Land als Sieger in der Kategorie „Bester Film“ gerechnet. Auch deswegen, weil man es von den großen Preisen der amerikanischen Filmindustrie gewohnt war, dass schwarze Filmemacher übergangen werden, noch dazu, wenn sie wie Barry Jenkins ohne Sozialkitsch das Innenleben eines schwarzen, schwulen Mannes ausleuchten – eine Perspektive, die in Hollywood-Filmen selten ist. Und dann trat Jordan Horowitz, der als Produzent von La La Land schon als „Bester Film“-Gewinner auf die Bühne gerufen worden war, ans Mikrofon: „Es tut mir leid, es gab einen Fehler. Moonlight, ihr habt gewonnen!“ Kurze Schockstarre, dann großes Durcheinander, ein hilfloser Warren Beatty, der ganze Saal aufgepeitscht von der Tragweite des Moments, der so brutal und peinlich und sinnbildlich war. Es war, als streckte das Black Cinema dem Hollywood-Establishment den Mittelfinger entgegen.
Seit Moonlight, der in sinnlichen Bildern vom Erwachsenwerden in prekären Verhältnissen erzählt, gilt der Regisseur Barry Jenkins als eine der wichtigsten neuen Stimmen des schwarzen Films. Nun hat er sich an das große Reiz- und Schmerzthema Amerikas herangewagt: die Geschichte der Sklaverei in all ihren verstörenden Facetten.
The Underground Railroad heißt seine neue Serie, mit der er mitten hineinrauscht in die andauernde Diskussion um die künstlerische Inszenierung von schwarzem Leid. Jenkins weiß das. Trotzdem sitzt er Ende April, zwei Wochen vor dem internationalen Starttermin, mit einer erstaunlichen Ruhe und Selbstgewissheit im Sturm dieser Debatte: Darf und soll man das – den unaussprechlichen Horror der Sklaverei in überwältigenden Filmbildern wiederholen? Auf Black Twitter, dem (schwarzen) Netzwerk im Netzwerk, war gar von „Trauma Porn“ die Rede. „Ich verstehe die Skepsis“, sagt Jenkins im Interview per Videokonferenz. Hinter ihm in seinem Haus in Silver Lake, Los Angeles, ist eine mit Blau-, Grün- und Pinktönen bemalte Wand zu sehen, die an die mit Spanish Moss bewachsenen Baumkronen des amerikanischen Südens erinnert. „Die Geschichten aus der Zeit der Sklaverei sind bisher oft am weißen Blick ausgerichtet worden. Genau das ist diesmal aber nicht der Fall.“
Tatsächlich ist Barry Jenkins genau der richtige Mann für diesen Stoff. Nicht nur, weil er schwarz ist, sondern vor allem, weil er ein so einfühlsamer und künstlerisch herausragender Filmemacher ist. The Underground Railroad erzählt in zehn sinfonischen Folgen von der Odyssee der Sklavin Cora, die von der Baumwollplantage ihres Eigentümers in Georgia flieht und fortan von einem Sklavenfänger durchs halbe Land gejagt wird. „Ich wollte auf keinen Fall so tun, als ob diese schrecklichen Dinge nicht geschehen wären“, sagt Jenkins. „Ich wollte das Publikum aber auch nicht zwingen, sich zu tief hineinziehen zu lassen. Deswegen gibt es viele sanfte Bilder, die ich den harten gegenüberstelle. Und deswegen ist es auch eine Serie geworden – und kein Film. Das Publikum ist den Bildern nicht ausgeliefert wie in einem Kinosaal. Sie haben die Kontrolle, können stoppen und springen, alleine oder lieber nicht alleine gucken.“
The Underground Railroad ist eine Adaption des gleichnamigen Bestseller-Romans von Colson Whitehead, der 2017 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Die Prämisse der in der Beschreibung der Sklaverei schonungslosen Erzählung folgt einem magischen Realismus: Das historische Schleuser- und Fluchthilfenetzwerk, das die „Underground Railroad“ im 19. Jahrhundert war, wird bei Whitehead zu einem wortwörtlichen Schienennetz – mit geheimen unter der Erdoberfläche liegenden Stationen, Dampfloks, Waggons und Schaffnern. Barry Jenkins sicherte sich bereits 2017 – noch vor seinem Oscar-Gewinn – die Filmrechte, drehte dann aber erst noch einen weiteren Kinofilm, die James-Baldwin-Verfilmung If Beale Street Could Talk.
„Ein Grund, warum ich das Buch unbedingt adaptieren wollte, war eine Kindheitserinnerung: Wenn die Rede von der ‚Underground Railroad‘ war, habe ich mir immer Schwarze vorgestellt, die in unterirdischen Zügen durchs Land reisen. Das war ziemlich cool. Colsons Buch hat mich in diesen unverdorbenen Gefühlszustand zurückversetzt. Deswegen habe ich auch von Anfang an zu meinem Produktionsdesigner gesagt: ‚Wir brauchen echte Schienen, echte Züge, echte Tunnel. Das ist eine Kindheitserinnerung. Das darf auf gar keinen Fall Fake sein. Kein Blue Screen, kein CGI!‘“
Mit diesem Zug, den Cora und ihr Fluchtbegleiter Caesar am Ende der ersten Folge besteigen, geht es durch das von Whitehead erfundene Amerika, von Staat zu Staat: South Carolina, North Carolina, Tennessee, Indiana. Erfunden insofern, als dass historische Details und Zeiten literarisch so montiert sind, dass jedes Land, durch das Cora flieht, für eine andere Ausprägung des amerikanischen Rassismus steht. „Mit jedem neuen Staat, jeder neuen Episode mussten wir eine ganz neue Filmwelt erschaffen“, erzählt der Regisseur.
Inszeniert hat er die verschiedenen Welten und Metaebenen der Vorlage mit seinen ganz eigenen ästhetischen Mitteln. Die Farben und eine stilisierte, mitunter stark artifizielle Ausleuchtung spielen wieder eine wichtige Rolle. Die Geräusche – auch die leisen – sind laut und überwältigend, die Filmmusik expressiv. Auch die zeitlupenhaften, fast bewegungslosen Einstellungen, die die Figuren als Tableaux vivants zeigen, hat der Regisseur in ihrer Eindringlichkeit weiter perfektioniert. Jede einzelne der zehn Episoden ist eigentlich ein Kinofilm von etwa einer Stunde Länge. Und jede entfaltet eine künstlerische Intensität, die sich nicht zum Binge-Watching eignet. The Underground Railroad braucht Zeit und Verschnaufpausen. Am Ende jeder Folge reißt Jenkins das Publikum mit (schwarzer) Popmusik aus seiner Filmwelt heraus: Outkast, The Pharcyde, Marvin Gaye, Mahalia Jackson.
Geboren 1979 in Miami, Florida, wuchs Barry Jenkins im sozial schwachen Stadtteil Liberty City auf, das auch Schauplatz von Moonlight war. Gewalt und Drogen bestimmten den Alltag; die Mutter war cracksüchtig, der Vater trank. Jenkins flüchtete sich in seine Vorstellungswelt und wurde Filmemacher. Für sein Spielfilmdebüt Medicine For Melancholy bekam er 2008 viel Kritikerlob. Bis zu Moonlight dauerte es dann acht lange Jahre. Und auch mit The Underground Railroad hat er sich Zeit gelassen. „Diese Serie war in jeder Hinsicht – künstlerisch, thematisch, logistisch – die schwierigste Sache, die ich je gemacht habe. Ich glaube, ich musste erst die anderen Filme machen, um mich sicher genug zu fühlen für diese Thematik. Ich habe immer gewusst, dass ich irgendwann eine solche Geschichte über unsere Vorfahren erzählen will. Es hat gedauert, aber jetzt mit 41 Jahren war ich endlich bereit dafür.“
Was die Filme von Barry Jenkins so besonders macht, ist der genaue Blick, mit dem er seine Figuren inszeniert. Er schaut nicht nur auf seine Protagonisten, er sieht sie. Das war bei Moonlight und Beale Street so und ist es nun auch in The Underground Railroad. „Was die Geschichte antreibt, sind für mich nicht die Ungeheuerlichkeit der historischen Bedingungen, sondern ihre Figuren. Allen voran Cora, die sich selbst vom Schrecken dieser Lebensumstände losreißen will. Ihre Menschlichkeit bleibt immer intakt, sogar im Angesicht unvorstellbarer Grausamkeiten. Außerdem spielen nur anderthalb Folgen auf der Baumwollplantage. Die restlichen begleiten sie auf ihrer Reise, der äußeren und der inneren.“ Thuso Mbedu spielt diese Cora als junges Mädchen mit uralter Seele: In den intensivsten Momenten meint man, die ganze Last der Sklaverei in ihrem Blick zu spüren.
Jenkins’ Filmwelten erzählen nie nur davon, was es bedeutet, in Amerika schwarz zu sein, sondern was es bedeutet, unter diesen Umständen zu überleben. Seine Filme wollen hin zur Schönheit und zum Zauber, der auf der anderen Seite des Traumas liegt: nämlich darin, sich in kleinen oder großen Gesten gegen gesellschaftliche Machtverhältnisse zu wehren und als Mensch in ihnen zu bestehen.
„Eine Sache, die in den Twitter-Kommentaren stand, war der Vorwurf, ich würde negative Bilder von schwarzen Menschen reproduzieren“, sagt Barry Jenkins zum Abschluss und lässt den Blick über die Zimmerdecke huschen. „Ich finde das interessant, weil es die Geschichte der Sklaverei verallgemeinert und die Menschen dahinter ausblendet. Ich weigere mich, alle Bilder von Sklaven als negativ zu sehen. Was ich auch in ihnen sehe, ist, wie stark und mutig und mitfühlend und kämpferisch sie gewesen sein müssen.“
The Underground Railroad, zehn Folgen, bei Amazon Prime.
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