Chloë Sevigny ist seit bald 30 Jahren Modeikone, berühmte Schauspielerin und inzwischen auch Mutter. Trotz Hollywoodkarriere ist sie immer im Randbereich des Mainstreams unterwegs. Wie erhält sie sich die Freiheit?
Von: Annett Scheffel
Für das Video-Gespräch hat die Schauspielerin Chloë Sevigny einen Hintergrund gewählt, der so spektakulär wie lässig ist. Hinter ihr, zwischen zwei schwarzen Lampen, hängt ein Gemälde ihrer langjährigen Freundin, der Künstlerin Rita Ackermann. Darauf zu sehen: eine Frau mit gespreizten Beinen, eine Frau am Telefon, zwei Frauen, die sich küssen. Viel Rot, dicke, nervöse Pinselstriche. Und Sevigny, ganz in Schwarz und mit Vintage-Brille, sitzt davor, zwischen den Beinen, als würde sie in diesem Moment aus Blut, Flammen und roher Energie geboren. Sie lacht, spricht man sie darauf an: »Das ist weniger Absicht, als du denkst, sondern einfach die ruhigste Ecke, die es in der ganzen Wohnung gibt.«
Irgendwo im Hintergrund hört man eine Kinderstimme: Ihr 2020 mitten im ersten Lockdown geborener Sohn Vanja spielt nebenan mit seinem Babysitter. Erst vor zwei Monaten wurde die Hochzeit mit seinem Vater, dem Galeristen Siniša Mačković, in großen und – wie es sich für Sevigny gehört – ultrastylischen Rahmen nachgefeiert.
Die Karriere der Chloë Stevens Sevigny ist einzigartig: Als Schauspielerin bewegt sie sich zwischen Indie-Kino und Auftritten in Serien. Bekannt ist sie in Hollywood für die Furchtlosigkeit, mit der sie ihre Rollen auswählt: die HIV-positive Jugendliche in Harmony Korines »Kids« etwa, oder den Oscar-nominierten Part der Freundin eines trans Manns in »Boys Don't Cry«. Wahrscheinlich ist sie deshalb nie in den Bereich der A-Liste vorgedrungen, gleichzeitig hat sie ihr Gespür für Avantgarde, Regel- und Tabubrüche zu einer Indie-Ikone gemacht – auch im Modebereich: Sevigny ist seit 30 Jahren eine Vordenkerin der Fashion-Welt; selbst Designerin und in Sachen Style immer mindestens drei Schritte voraus.
Die Kultmagazine lieben sie dafür; die Boulevardblätter machen sich über ihre Outfits lustig. Sevignys Sphäre sind die Randbereiche des Mainstreams. Für ein bestimmtes Publikum aber – für diejenigen, die sich an »Kids« erinnern, an die tollen kleinen Indie-Filme, die in den Neunzigern folgten (Steve Buscemis Eckneipen-Komödie »Trees Lounge« oder die abgefuckte Kleinstadt-Groteske »Gummo«), und an die unvergleichlichen Vintage-Styles und Magazin-Cover – für all sie ist Chloë Sevigny ein Indie-Superstar.
In der neuen Drama-Miniserie »The Girl from Plainville« spielt sie jetzt Lynn Roy, die Mutter eines Teenagers, der sich das Leben nimmt. Die Geschichte basiert auf dem wahren Fall der 17-jährigen Michelle Carter (dargestellt von Elle Fanning), die 2014 ihren Freund in Textnachrichten zum Suizid ermutigte und später wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde. »Ich erinnere mich, dass ich Bilder von ihr online sah und sofort dachte: Sie ist schuldig«, sagt Sevigny. »Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich damit selbst genauso so tief in diese Vorverurteilung einer jungen, schönen Frau verwickelt war wie alle anderen.«
Aus diesem Grund habe sie die Serie so interessiert, sagt sie. Die hat tatsächlich nichts von der Sensationsgier, mit der der Fall ursprünglich verhandelt wurde, sondern zeichnet ein komplexes Bild von Depression und sozialem Erwartungsdruck, Schuldgefühlen und verkorksten Beziehungsdynamiken. Und Sevigny selbst ist exzellent in der Rolle dieser erschöpften, stoischen Mutter. Nie ist ihre Darstellung aufdringlich, eher subtil und voll stiller, kleiner Gesten, aber immer fesselnd.
Getroffen hat sie die echte Lynn Roy nie, aber es gibt einen HBO-Dokumentarfilm aus dem Jahr 2019 (»I Love, You Now Die«), auf der die Serie basiert. »Ich war gerührt von ihrer Bodenständigkeit, ihrem trockenen Humor und ihrer Entschlossenheit. Sie ist nie müde geworden zu betonen, dass ihr Sohn mehr als nur Teil einer Statistik war. Ich hoffe, dass ich in der Serie ein wenig helfen kann, die Geschichte ihres Sohnes zu erzählen.«
Lynn Roy ist nicht die einzige Serien-Mutter, die Chloë Sevigny zuletzt porträtiert hat. Wenn man so will, seziert sie auch 27 Jahre nach ihrem ersten Kinoauftritt immer noch die Traumata von Jugend und Adoleszenz – nur eben jetzt aus der Elternperspektive. 2020 war sie in »We Are Who We Are«, der ersten Serie des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino (»Call Me by Your Name«) als lesbische Mutter zu sehen, die eine US-Militärbasis leitet und der gender-fluiden Identitätssuche ihres Sohnes gleichzeitig etwas hilflos gegenübersteht.
Und in der schwarzhumorigen Dramedy-Serie »Matrjoschka« (Originaltitel: »Russian Doll«) ist sie glänzend aufgelegt und mit wildem, rotem Haar als chaotische Mutter der Serienmacherin und Hauptdarstellerin Natasha Lyonne zu sehen. Seit April läuft auf Netflix die zweite Staffel. Sevigny und Lyonne kennen sich seit 1997 und sind eng befreundet. Ein sehr persönliches Projekt, auch weil Lyonne die Serie an die eigene Biografie und familiäre Beziehungen angelehnt hat.
»Mein Ding war die Indie-Ästhetik. Und die Freiheit, die damit einherging.«
Wie ist das, plötzlich so viele – zugegebenermaßen sehr verschiedene – Mütter zu spielen, und nun auch selbst eine zu sein? »Naja – zunächst mal mache ich mir unaufhörlich Sorgen«, sagt sie lachend. »Ich denke viel über Schuldgefühle von Müttern oder Eltern nach. Darüber, wie man es schaffen kann, sie ein Stück weit aufzulösen. Keine Ahnung, mein Sohn ist erst zwei. Ich weiß, dass ich wirklich erst am Anfang stehe. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass Eltern versuchen ihrer Erziehung mehr zu vertrauen und sie einfach als Starthilfe und Unterstützung zu sehen – oder als sicheren Ort, dem Kinder dann entwachsen können.« Diese müssten ohnehin ihren eigenen Weg gehen. »Ab einem bestimmten Punkt ist unser Einfluss darauf ziemlich begrenzt.«
In der Lebensgeschichte von Sevigny lief diese Lösung vom Elternhaus in den Neunzigern schnell und heftig ab: Aufgewachsen in einer kleinen Küstenstadt in Connecticut, wurde sie mit 17 bei einem ihrer Besuche in New York auf der Straße von einer Stylistin entdeckt. Sie machte ein Praktikum bei einem Magazin, modelte und arbeitete in einem Szeneladen der New Yorker Rave-Subkultur.
Noch bevor »Kids« 1995 in die Kinos kam, erschien im »New Yorker« ein Artikel, in dem Schriftsteller Jay McInerney sie zum It-Girl der Stunde ausrief. In einer Zeit »der falschen Plastiktitten in falschen Plastikfilmen«, wie es das Magazin »Dazed & Confused« einmal formulierte, kam Sevignys ungekünstelte Art gerade zur rechten Zeit.
»Meine Welt damals war ziemlich nischig. Dieses sehr spezifische Neunziger-Downtown-Ding«, sagt sie heute. »Ich hatte viele Freunde, in allen möglichen kreativen Bereichen: Kunst, Film, Mode, Musik. Und ich habe es geliebt, in alles ein bisschen einzutauchen. Es stand außer Frage, dass ich in dieser Welt bleiben wollte. Das war der Platz, an den ich gehörte. Das waren meine Leute.« Die großen Studio-Produktionen hätten sie damals gar nicht interessiert, sagt Sevigny. »Mein Ding war die Indie-Ästhetik. Und die Freiheit, die damit einherging. Das waren die Filme, in denen ich zu sehen sein wollte. Mit all den tollen Charakterdarstellern.« Mittlerweise würde sie gern mehr Studiofilme drehen, weil längst auch interessante Regisseure an die Geldtöpfe herangelassen werden. »Vielleicht ergibt sich in Zukunft was. Die Coen-Brüder oder Jane Campion zum Beispiel.«
Nervt es sie eigentlich auch in ihren Vierzigern immer noch über ihre Anfänge in den Neunzigern zu sprechen? Nicht unbedingt, sagt sie. Okay, vielleicht ein bisschen. »Was mich nervt ist, wenn das ganze New-York-Zeug die vielen verschiedenen Rollen überstrahlt, die ich seitdem gespielt habe.«
Mittlerweile ist sie auch selbst Regisseurin. 2016 debütierte sie mit ihrem ersten Kurzfilm »Kitty«, der Adaption einer Shortstory von Paul Bowles . Zwei weitere folgten: »Carmen« und »White Echo«, der 2019 für den Wettbewerb von Cannes ausgewählt wurde. Alle drei drehen sich um starke weibliche Figuren und leben von einer sehr eigenen verträumt-beklemmende Stimmung. Gerade arbeitet sie an ihrem ersten Spielfilm. »Vanja geht im Herbst in die Vorschule. Dann habe ich wieder mehr Zeit an neuen Projekten zu arbeiten, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wie ich beides miteinander vereinbaren werde.«
Eine letzte, ganz andere Frage: Was hilft einer Chloë Sevigny, angesichts der aktuellen weltpolitischen Verwerfungen optimistisch zu bleiben? Sie lächelt, schiebt die Brille nach oben und sagt, ohne zu überlegen: »Mit jungen Menschen zu sprechen. Ihnen zuzuhören und ihre Fragen ernst zu nehmen. Das macht mich hoffnungsvoll.«
Vielleicht ist das das Optimistischste, was man seit einer ganzen Weile gehört hat., Und vielleicht auch das, was Sevigny selbst, die seit Jahrzehnten immer am Puls der Zeit ist, am besten auf den Punkt bringt: Auch nach all den Jahren glaubtOriginal