Ich heiße mit Vornamen Lyann Berenike, den habe ich mir selbst ausgesucht. Früher hieß ich Sophie. Mein neuer Name ist nun auch amtlich bestätigt, endlich. Denn bis es so weit war, dauerte es rund ein Jahr. Der Namenswechsel ist für mich ein Neubeginn. Mit ihm hole ich Stück für Stück mein Leben zurück.
Als Kind wurde ich von jemandem aus meiner sexuell missbraucht. Mit 19 habe ich ihn angezeigt. Bei der Polizei sagten auch einige meiner Familienmitglieder aus - gegen mich. Sie verharmlosten die Tat und warfen mir vor, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Andere weigerten sich auszusagen. Plötzlich war ich die Böse, die es wagte, darüber zu reden. Der Täter selbst wurde nie verurteilt. Das Verfahren wurde wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Zwar gab er einige Jahre später die Tat über Social Media und in persönlichen Nachrichten zu, aber die Staatsanwaltschaft weigerte sich, das Verfahren noch mal neu zu eröffnen.
Als Jugendliche entwickelte ich eine Abneigung gegen meinen Vornamen. Immer wenn ich ihn hörte, fühlte er sich falsch an. Er gehörte nicht zu mir. Mein Vorname und die schlimmen Dinge in meiner Kindheit sind miteinander verbunden. Auch weil der Täter mich immer wieder mit diesem Namen ansprach. Wenn ich heute den Namen Sophie auf Briefumschlägen lese oder in E-Mails damit angeschrieben werde, erinnert mich das an die Tat. Wie kann ich heilen, wenn die Wunden immer wieder aufgerissen werden?
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Ich verbinde ein paar positive Erlebnisse mit dem Namen Sophie: Mit ihm habe ich meinen Mann geheiratet und meine Tochter geboren. Es geht mir nicht darum, mein altes Leben auszulöschen. Das ist nicht möglich. Ich kann nicht auslöschen, dass der Täter wusste, was er mit seinen Taten anrichtete. Dass er Macht über mich hatte und mir einen Teil meiner Persönlichkeit gestohlen hat. Aber jetzt bestimme ich selbst, wer ich bin. Eine Therapie hilft mir dabei, mit meinem Trauma zurechtzukommen und mich von diesen Dingen zu lösen. Mein richtiger Vorname gibt mir dabei Kraft. Denn ich habe mich aktiv für ihn entschieden, er passt zu meiner Persönlichkeit.
Für mich war klar, dass er mit L beginnen muss. L ist ein freundlicher und weicher Buchstabe. Und Liebe beginnt mit L. Also durchforstete ich Namensbücher. Lyann gefiel mir sofort. Der Name ist wie für mich gemacht. Auch die Assoziation gefällt mir, denn Lyann steht für die Sonne. Ich entschied mich für Berenike als Zweitname. Das ist die ältere Form von Veronika und hat die gleiche Bedeutung: die Siegbringende. Ich wollte einen Namen, der mich immer an etwas Schönes erinnert. Meine Tochter heißt mit zweitem Namen Veronika. Ich liebe sie unendlich und sie erfüllt mich.
Lange wusste ich nicht, wie ich es schaffen soll, meinen Namen zu ändern. Das Ganze ist teuer, über 300 Euro. Geld, das ich nicht hatte. Denn durch meine posttraumatische Belastungsstörung fallen mir der Alltag und das Arbeitsleben schwer. Doch ich fand einen Fonds für Opfer sexueller Gewalt, der anbot, die Kosten zu übernehmen.
In den letzten Monaten verbrachte ich viel Zeit in verschiedenen Ämtern. Ich musste etwa ein erweitertes Führungszeugnis und eine Abschrift aus dem Geburtenregister abgeben. In Deutschland darf man seinen Vornamen nicht nach Belieben ändern. Ich schrieb also meine Geschichte auf, außerdem erstellte mein Therapeut eine Stellungnahme.
Nach sechs Monaten landete der Brief mit dem Bescheid im Briefkasten. Ich nahm ihn mit ins Haus, zögerte, ihn zu öffnen. Dann überflog ich ihn und las nur das Wort "Bewilligung". Ich schrie und ich weinte. Ich glaube, mein Mann war in dem Moment ein wenig überrascht, wie groß meine Emotionen waren. Dann musste ich die Gebühren für den Namenswechsel überweisen. Doch bei dem Fonds stapelten sich die Anträge, sie schafften es nicht, mir das Geld rechtzeitig zu überweisen. Ich war verzweifelt.
Dann rettete mich das soziale Netzwerk TikTok. Dort mache ich Videos über Begegnungen in meinem Leben und erzähle auch vom sexuellen Missbrauch und dem langen Weg zum Namenswechsel. Ein Follower fragte mich, wie es damit vorangehe. Ich erzählte ihm von dem Desaster. Er schrieb, dass es ihm finanziell gut gehe und er mir gern das Geld vorstrecken wolle. Ich fühlte mich erst unsicher und überlegte abzulehnen. Doch er überzeugte mich, weil ich zu dem Zeitpunkt wusste, dass ich es bald würde zurückzahlen können. Also nahm ich das Geld an.
Meinen Freunden erzählte ich schon frühzeitig von meinem Plan, damit sie sich an den neuen Namen gewöhnen können. Die meisten reagierten positiv und schickten mir Screenshots von meinem nun richtig eingespeicherten Namen in ihrer Kontaktliste. Meine Familie wusste noch nichts davon. Ich habe sporadisch Kontakt mit einer Schwester, sie reagierte recht gelassen, als ich ihr das schrieb. Nachdem ich meiner Mutter davon erzählte, gab es einen Konflikt und ich brach den Kontakt ohne zu zögern ab. Ich brauche sie nicht in meinem Leben.
Letztens bekam ich über TikTok eine Nachricht. Eine junge Frau hatte Ähnliches wie ich durchgemacht. Jetzt will sie auch ihren Namen ändern, aber sie hat Angst vor den Behördengängen. Sie erinnert mich an mich selbst. Damals war ich auch so unsicher und ängstlich. Ich ermutigte sie und teilte meine Erfahrungen. Sie schrieb mir, wie glücklich sie das mache, weil sie vorher das Gefühl hatte, allein zu sein. Der Kontakt mit ihr hat mich zum Nachdenken angeregt: Ich kann anderen helfen, indem ich offen über den sexuellen Missbrauch und meinen Weg, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, rede. Das ist ein großer Schritt für mich.
Ich habe geübt, meinen Namen zu schreiben. Die Unterschrift soll schön aussehen. Lyann Berenike. Meinen alten Namen habe ich immer gekrakelt. Jetzt setze ich Buchstabe vor Buchstabe auf das Papier. Schwungvoll und mit viel Hingabe.