Enana Alassar war zwanzig, als sie sich die sumerische Kriegsgöttin, deren Namen sie trägt, auf den Rücken tätowieren ließ. Sie hatte ein Bild ausgewählt, das Inanna, die auch die Göttin der Liebe ist, als Mutter zeigt, die ihr Kind im Arm hält. Das Bild war eine alte Zeichnung ihres Vaters, der ihr beigebracht hatte, wie man auf Bäume klettert und einen Ball schießt, der sie gelehrt hatte, ihren eigenen Kopf zu haben.
Ich sah Enana zum ersten Mal in einer Ausstellung. Eine Fotografin hatte Flüchtlingsfrauen porträtiert. Die Bilder hingen in Lebensgröße an der Wand, und Enana sah so anders aus als die anderen. Ihr langes Haar war an der einen Seite abrasiert, ihre Nase gepierct, ihr Gesicht war rund wie das eines Kindes, trotzig blickte sie in die Kamera, als wollte sie sagen: Hast du ein Problem?
Für den Katalog hatte sie einen kurzen Text über sich geschrieben: „Bevor ich nach Berlin kam, habe ich mich immer gefragt, wie sich ein Kuss anfühlen würde, wenn dir dabei der Wind über das Gesicht streicht, du die Sonne auf deiner Haut fühlen kannst, wenn du keine Angst hast." Enana liebt Frauen. In Syrien droht Homosexuellen im schlimmsten Fall das Gefängnis, zumindest aber bedeutet es den sozialen Tod.
Ein Kuss in FreiheitIch schrieb Enana eine E-Mail. Sie antwortete: „Wenn du eine Geschichte darüber schreiben willst, wie homophob Muslime sind und wie Deutschland mich gerettet hat, sorry, dann habe ich kein Interesse." Ich schrieb: „Dann erzähl mir, wie sich dieser Kuss, von dem du geträumt hast, angefühlt hat."
Wir trafen uns an einem warmen Frühlingstag. Enana hatte ein Café am Görlitzer Park ausgesucht, das einem kriegsversehrten Palästinenser gehört, der nur ein Bein hat. Enana drehte sich einen Joint. Dass Marihuana ihr hilft, wenn die Gedanken mal wieder durch den Kopf rasen, erfuhr ich erst später. Sie lachte viel und herzlich und sprach oft so laut, dass sich die Köpfe am Nachbartisch in unsere Richtung drehten. Ich mochte sie sofort. Ihre Stimme war warm und voll, und jedes Mal, wenn ich sie wiedersah, diese Stimme vom Band im Kopf, war ich überrascht darüber, wie klein und zierlich sie war.
Die Geschichte, die Enana mir erzählte, beginnt, als sie sechs, vielleicht sieben Jahre alt war.
Damaskus
Enana war ein wildes Kind, sie mochte keine Mädchen, sie hielt sie für weinerlich und schwach. Sie spielte lieber mit Autos als mit Barbies. Ihre Schwestern steckten sie in Kleider wie eine Puppe und pinselten Farbe auf ihr Gesicht. Ihrem Vater war es egal, wie sie aussah. Hauptsache, Enana war glücklich.
Bis zu diesem Tag, an dem sie raus auf die Straße vor ihrem Haus in einem wohlhabenden Viertel von Damaskus rannte, um mit den Nachbarsjungen Fußball zu spielen, wie sie es immer tat. Aber dieses Mal war ein Junge dabei, den sie nicht kannte. Er baute sich vor ihr auf: „Was willst du hier?", fragte er. „Du bist ein Mädchen. Mädchen spielen keinen Fußball, geh nach Hause." Enana fühlte Wut in sich aufsteigen, so hatte noch nie jemand mit ihr gesprochen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, sie hörte noch, wie eines der anderen Kinder sagte: „Enana ist nicht wie andere Mädchen, sie spielt besser Fußball als du!" Und Enana schrie: „Du hast mir gar nichts zu sagen." Doch die Worte des neuen Jungen hatten sich unter ihre Haut gebohrt wie ein Stachel.
„Weißt du, Enana", sagte ihr Vater abends, „es gibt Menschen, die sind ungebildet, die wissen es nicht besser. Lass dir von niemandem sagen, wer du zu sein hast."
In ihr blieb das Gefühl, nicht dazuzugehören. Es war ihre erste Begegnung mit einer Gesellschaft, die einen Weg für ihr Leben vorherbestimmt hatte, lange bevor sie geboren wurde. Und sie spürte, dass sie keine Lust hatte, diesen Weg zu gehen. Was sollte das sein, ein Mädchen? Scheiß drauf!
Ein Leben im KorsettEnanas Vater stammte aus einer wohlhabenden Familie. Der Großvater hatte sein Geld in den 60er-Jahren mit Immobilien in Kuwait verdient, Enanas Vater aber fehlte das Gespür fürs Geschäft. Er studierte englische Literatur, hatte ein Zimmer voller Bücher, er zeichnete, spielte Schlagzeug und Gitarre. Er arbeitete als Übersetzer für das syrische Fernsehen, genau wie Enanas Mutter.
Ihr Haus war erfüllt von Büchern, von Kunst und Musik. Als Enana fünf Jahre alt war, bekam sie ihre erste Klavierstunde. Die Eltern meldeten sie an der Musikakademie an, und Enana begann, das Klavier zu hassen. Welches Kind will schon Bach und Beethoven spielen? Enana hatte Beyoncé entdeckt, Nickelback und Eminem. Als sie dreizehn war, durfte sie zur Gitarre wechseln. Aber das änderte nichts, Bach stand auch da auf dem Stundenplan. Zu Hause schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und schrammelte Rockakkorde.
Enanas Eltern hatten eine klare Vorstellung von ihrer Zukunft: ein ausgezeichneter Schulabschluss, ein Studium, ein Doktortitel, ein Mann, Kinder.
Ihr Leben fühlte sich an wie ein Korsett, das sich enger zog und ihr die Luft zum Atmen nahm. Wenn sie es nicht mehr aushielt, heizte sie auf ihrem Mountainbike durch die Straßen und schrie, so laut sie konnte.
Ihren Körper versteckte sie unter weiten T-Shirts und Baggy Pants, ihre langen Haare unter einer Schirmmütze, die sie tief ins Gesicht schob. Jungs langweilten sie. Manchmal schwänzten sie und ihre beste Freundin die Schule, sie tranken Bier, und wenn sie ein bisschen betrunken waren, küssten sie einander. Als Enana sich das erste Mal in ein Mädchen verliebte, war sie sechzehn Jahre alt. Die Krise, wie sie den Krieg in Syrien am Anfang noch nannten, hatte gerade begonnen.
Enana und AyaAya war ein Jahr älter als sie. Sie war stark und schön, und Enana war verrückt nach ihr. Sie schrieben sich Nachrichten, sie konnten stundenlang reden, sie lachten viel, manchmal trafen sie sich nur, um sich zu küssen. Aya war die Tochter eines Generals, der sie nie ohne Bodyguards aus dem Haus ließ. Die Männer warteten unten auf der Straße, wenn sie Enana besuchte, und Enana lernte zu leben mit der Angst, erwischt zu werden, so wie sie lernte mit den Raketen zu leben, die immer öfter in der Stadt einschlugen.
Solange du sie hören kannst, weil sie über deinen Kopf hinwegsausen, bist du sicher. Solange du sagst, dass ihr nur beste Freundinnen seid, bist du sicher.
Sie küssten sich in Hauseingängen und schmalen Gassen. Es war aufregend und romantisch. Es war kaum auszuhalten. Sie nicht zu berühren, wenn andere Leute dabei waren, ihr nicht sagen zu können, wie sehr sie sie liebte, wenn es jemand anders hören konnte. Zu wissen, dass sie Aya nie wieder sehen würde, wenn jemand herausfand, was sie taten. Und dass das noch das geringste Problem sein würde; dass selbst das Gefängnis nicht so schlimm sein würde wie das, was Aya drohte.
Eines Tages kam Enana abends nach Hause, ihre Mutter saß am Küchentisch, vor sich ein Stapel DVDs, die sie bei ihr im Zimmer gefunden hatte, „The L Word", eine amerikanische Serie über eine lesbische Frauenclique. Ihre Mutter tobte. „Das ist dieses Mädchen, mit dem du jetzt immer herumhängst", schrie sie, „ich rufe ihre Eltern an!" Enana flehte sie an: „Ihre Eltern bringen sie um!" Eine ihrer Schwestern öffnete die Küchentür, und die Mutter sagte kein Wort mehr.
Das Korsett zog sich zu. Enanas Eltern ließen sie kaum noch raus. Wenn sie keine Luft mehr bekam, floh sie zu ihrem Großvater, der im Zentrum von Damaskus wohnte. Manchmal saß sie mit ihm auf dem Fußboden im Hausflur, sie tranken Tee, der Großvater rauchte Zigaretten: „Hast du schon Deutsch gelernt?", fragte er und zwinkerte ihr zu.
Raketen über DamaskusEnanas Tanten lebten seit vielen Jahren in Deutschland. Ihr Vater sprach schon eine ganze Weile davon, Syrien zu verlassen. Der IS kontrollierte den Norden des Landes und rückte immer näher auf die Hauptstadt zu. In den Vororten von Damaskus bekämpften sich Rebellen und Regierungstruppen, jeden Tag schlugen Raketen und Granaten in den Parks im Zentrum ein, und in den Straßen explodierten Autos. Ständig fiel der Strom aus, es gab keine Lebensmittel, kein Internet, aus den Leitungen kam kein Wasser. Der Alltag war unerträglich geworden. Mehr als 200 000 Menschen hatte dieser Krieg im Sommer 2015 schon das Leben gekostet. Und Enanas Vater glaubte nicht mehr daran, dass er bald zu Ende sein würde.
Als Aya Enana verließ, brach ihr Herz.
Einmal traf sie sich mit Freunden, um Arak zu trinken und die Straßen entlang zu rasen, die sich den Berg Qasiyun hinaufschlängeln. Unter ihnen lag die Stadt, vorne auf dem Fahrersitz stand eine Tasche voller Waffen; viele ihrer Freunde hatten jetzt Waffen. Enana saß auf der Rückbank und hielt ein Mädchen umschlungen. Sie knutschten. Plötzlich hörten sie Schläge gegen das Autofenster. Als Enana die Soldaten sah, erstarrte sie. Da war nur noch ein Gedanke: „Jetzt ist es vorbei."
„Kommt deine Familie von der Küste?", sagte der eine, als er Enanas Ausweis sah. Enana nickte nur. Der Soldat gab ihr den Ausweis zurück. Er musste sie für eine Alawitin gehalten haben, die gleiche Minderheit, der Assad angehört, der ebenfalls von der Küste stammt. Als sie am Checkpoint vorbeifuhren, winkten die Soldaten ihnen nach.
„Ich bin kein verdammtes Problem!"Ihr Vater hatte sie nur ein einziges Mal zur Seite genommen. „Wer weiß alles, dass du lesbisch bist?", hatte er gefragt. „Niemand", hatte Enana geantwortet. Erst als das Wort aus ihrem Mund kam, merkte sie, dass er ihr eine Falle gestellt hatte. „Gut", antwortete er, „wie lösen wir das Problem?" Enana schrie: „Was soll das heißen? Ich bin kein verdammtes Problem!" Ihr Vater sah sie nur an, ganz ruhig, er sagte: „Du brichst den Kontakt ab zu jedem, den du kennst, der homosexuell ist. Und dann konzentrierst du dich auf deine Zukunft. So löst du das Problem." Danach sprach er nie wieder davon.
Ihre Mutter aber ließ nicht locker. Sie überwachte Enana bei jedem Schritt. Sie las die Nachrichten, die Enana sich mit ihrer Freundin geschrieben hatte. Enana behauptete, es wäre ein Junge. Die Mutter tat, als glaubte sie ihr. Aber sie war nur noch misstrauischer als zuvor.
Einmal tauchte sie plötzlich an der Uni auf, in ihrem feinen Kostüm, das sie immer trug, weshalb Enana sie nur „der Teufel trägt Prada", nannte. Sie liefen über den Campus, als eine Freundin vor Enana auf sie zukam: „Hey, da vorne steht deine Ex." Enana blieb das Herz stehen. „Darf ich dir meine Mutter vorstellen?"
„Das ist gegen die Natur", schrie die Mutter zu Hause, „gegen Gottes Willen!"
„Wenn deine Argumente mit Gott zu tun haben, höre ich dir nicht zu", schrie Enana.
Kurz darauf fragte ein Junge in der Cafeteria nach ihrer Telefonnummer.
„Vergiss es", zischte sie, „ich bin lesbisch."
„Okay", antwortete er, „das hättest du mir nicht sagen müssen."
Da flippte sie aus. Sie schrie ihn an: „Ich bin lesbisch, kapierst du? Ich bin lesbisch!" Als sie am nächsten Tag über den Campus ging, spürte sie die Blicke in ihrem Rücken.
Zwei Monate später radelte sie nach Hause, als zwei Motorräder neben ihr hielten. „Enana Alassar?" Die Soldaten schubsten sie vom Fahrrad, ihr Handgelenk brach. Sie traten auf sie ein, sie brüllten: „Du Schlampe! Du lesbische Hure!" Erst als sie wegfuhren, kamen Menschen angerannt, um ihr zu helfen.
Ihr Leben passte in einen Rucksack„Es ist mit egal, was ihr denkt", sagte Enana abends zu ihren Eltern. „Bringt mich hier raus oder ich nehme die größte Regenbogenflagge, die ich finden kann, und springe damit vom Damascus Tower." Enanas Vater beschloss kurz darauf, die Flugtickets zu kaufen. Ein paar Wochen später flog sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester nach Beirut und von dort weiter in die Türkei. Was Enana bei sich trug, passte in einen Rucksack. Ihre Sachen hatte sie in Damaskus an ihre Freundinnen verschenkt, ihre CDs, ihre Klamotten, ihre Gitarre. Sie wusste, dass sie nicht zurückkommen würde.
Ihr Leben teilte sich in diesem Moment in zwei Hälften. Hinter ihr lagen Jahre, an die sie mehr schlechte Erinnerungen hatte als gute. All die Lügen, die Angst, das ständige Versteckspiel. So viele ihrer Freunde waren verschwunden, weil sie in den Krieg gezogen waren, weil ihre Familien herausgefunden hatten, dass sie homosexuell waren, weil sie sich auf den Weg nach Europa gemacht hatten.
Enana hatte sich an den Ausnahmezustand gewöhnt. Ihr Leben war Überleben. Ein reflexhaftes Funktionieren.
Vor ihr lag ein vages Versprechen auf Freiheit, zum Greifen nahe und doch so verschwommen wie eine Fata Morgana. Wer mit Überleben beschäftigt ist, kann sich kein Morgen vorstellen. Es geht immer nur um den nächsten Moment.
Berlin
Bodrum war in diesen Tagen im Sommer 2015 voll von Menschen wie Enana, ihrer Mutter und ihrer Schwester. Der Vater hatte das Haus der Familie in Damaskus verkauft, um das Geld für die Schmuggler zusammenzubekommen. Der erste hatte sich mit ihrem Geld aus dem Staub gemacht, der zweite setzte sie in einen überladenen Van. Er fuhr mit ihnen in die Nacht, ließ sie auf einem Feld zurück und verschwand.
Jeder Tag, den sie nicht weiterkamen, kostete sie Geld, weil jeder in der Stadt sein Geschäft mit den Flüchtenden machte, die Hotels, die Restaurants. Und mit jedem Tag, mit dem mehr Menschen in der Küstenstadt ankamen, wurden die Fahrten über das Mittelmeer teurer.
Der dritte Schmuggler setzte sie in ein Schlauchboot. Er zeigte auf die Lichter in der Ferne, dann ließ er sie allein. Sie waren vierzehn Menschen, keiner hatte jemals ein Boot gesteuert. Der größte Mann an Bord paddelte, er hatte keine Ahnung, was er tat, sie drehten sich im Kreis. Enana sah die Panik in den Augen ihrer Mutter, irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, sie riss dem Mann das Paddel aus der Hand. Sie weiß nicht mehr, wie viele Stunden es dauerte, vier, vielleicht fünf. Sie paddelte wie besessen. Den ganzen Weg bis zur griechischen Insel Kos.
Die Tage danach lag sie im Bikini am Strand, trank billiges Bier und flirtete mit den Touristinnen, während ihre Mutter vor der Polizeistation auf das Papier wartete, das sie für die Fähre nach Athen brauchten.
Auf dem gefälschten Ausweis, den Enana bei sich hatte, als sie in den Flieger nach Paris stieg, war eine blonde Bulgarin zu sehen. Enana trug eine Sonnebrille im Haar, ein Buch unter dem Arm, Hotpants und ihren kleinen Rucksack. Eine junge Frau, die in den Urlaub fliegt, so muss sie ausgesehen haben. Die Frau am Gate lächelte sie an, ohne einen Blick auf den Ausweis zu werfen: „Gute Reise." Als Enana auf ihrem Platz im Flugzeug saß, lachte und weinte sie gleichzeitig.
Mit dem Nachtzug nach BerlinSie nahm den Nachtzug nach Berlin. Ihre Cousins holten sie vom Bahnhof ab. Fünf Tage später kam ihre Schwester an. Ihre Mutter versuchte fünfmal, an Bord eines Fliegers zu gelangen. Fünfmal kam etwas dazwischen. Am Ende ging sie zu Fuß über die Balkanroute. Als Enana sie wiedersah, erschrak sie, wie dünn sie geworden war. Über das, was sie erlebt hatte, sprach ihre Mutter nicht.
Es waren die Wochen im Herbst 2015, als Tausende Menschen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales im Schlamm ausharrten. Wochen des Chaos, der absoluten Überforderung einer Bürokratie, die trotz aller Vorzeichen nicht vorbereitet war auf den Ansturm der Hilfesuchenden.
Enana hielt das Warten nicht aus. Sie ließ ihre Mutter und ihre Schwester vor dem Bildschirm zurück, auf dem ihre Nummer noch immer nicht angezeigt war, und streifte über das Gelände. In einem der Häuser am Rand hatten freiwillige Helfer eine Kleiderkammer eingerichtet. Zwischen Bergen aus Stramplern saß eine blonde Frau. „Brauchst du Hilfe?", fragte Enana auf Englisch. Die Frau hob den Kopf, sie hatte große blaue Augen. Sie sieht aus wie ein Kätzchen, dachte Enana. Ihr Name war Dasha.
Enana und DashaWenn sie bei Dasha in der Kleiderkammer war, vergaß Enana das Elend draußen auf dem schlammigen Vorplatz. Sie lachten und redeten, sie waren beide gleich alt, Dasha war zwar Deutsche, aber auch neu in Berlin, sie studierte Literaturwissenschaft wie Enana zu Hause in Damaskus. Dasha war eine ruhige, fleißige junge Frau, die sich mitreißen ließ von Enanas lautem Lachen, ihrer ungezügelten Art zu sprechen und in jeden zweiten Satz ein „Fuck" einzubauen. Dasha erzählte von ihrem Exfreund. Enana hatte sich trotzdem verknallt. Dass sie ein Flüchtling war, verstand Dasha erst nach ein paar Tagen. Da waren sie längst Freundinnen.
Irgendwann beschloss Dasha, dass Enana genug Zeit im Lageso verbracht hatte. „Komm, ich zeige dir die Demokratie", sagte sie. Ein Freund, der im Reichstag arbeitete, ließ sie an der Schlange vorbei. „Willkommen in Berlin", sagte Dasha, als sie zusammen durch die Glaskuppel auf die Stadt blickten, über die langsam die Nacht hereinbrach.
Die Nacht wurde ihr Zuhause. Zusammen zogen sie durch die Clubs, feierten ihre Freundschaft, das Leben, die Freiheit. Enana betäubte jeden Gedanken und die Wut, die oft in ihr aufstieg, ohne dass sie wusste, woher sie kam. Sie schluckte die Dunkelheit, als hätte sie davon noch nicht genug gehabt in ihrem Leben. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag - die Tage verschwammen zu einer einzigen langen Nacht. Bis Enana im Morgengrauen am Kottbusser Tor stand, nur in ihrem Pyjama. Und keine Ahnung hatte, wie sie dorthin gekommen war.
Irgendwann wurde es Dasha zu viel. Enana zog das Chaos an wie ein Magnet. „Ich muss nachdenken", sagte sie. Und Enana sah sie kaum noch.
Manchmal hatte sie GlückWie fängt man ein neues Leben an, wenn der ganze Körper damit beschäftigt ist, das alte zu verdrängen? Wenn das Pfeifen einer Rakete so normal geworden ist wie das Hupen eines Autos, wenn man Menschen sterben gesehen hat, wenn man auf einem alten Schlauchboot auf dem Mittelmeer trieb und die panische Angst vor dem Ertrinken einen ohnmächtig werden ließ? Wenn die Freiheit sich vor einem auftut wie das Weltall - wunderschön, aber ohne Halt und voller Gefahr?
Es gab Momente, in denen Enana Glück hatte. Auf einmal half es, dass sie lesbisch war. Die Ausländerbehörde stellte ihr eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre aus. Der Lesben- und Schwulenverband, der ein Büro auf dem Lageso-Gelände hatte, besorgte ihr ein WG-Zimmer. Ein lesbisches Pärchen schenkte ihr eine Gitarre. Eine Künstlerin lud Enana ein, in ihrer Galerie zu spielen. Es gab Plakate, auf denen in großen Buchstaben Enanas Name stand. Sie sang an diesem Abend Lieder von Adele und Amy Winehouse und Lana del Rey: „Everytime I close my eyes, it's like a dark paradise."
Am Christopher Street Day tanzte Enana auf dem Wagen des Schwulenverbandes, sie reckte ihre Faust in die Höhe, es war, als jubelten all die Menschen da unten nur ihr zu, und sie jubelte zurück. Da entdeckte sie Dasha unten in der Menge, die Fotos von ihr schoss. Enana rannte zu ihr.
„Dasha", sagte sie, „ich mag dich."
„Ich weiß", sagte Dasha.
Als es dunkel wurde, küssten sie sich zum ersten Mal.
Es wurde Herbst, ein Fernsehteam kam in Enanas WG-Zimmer. Ein Jahr in Deutschland - wie geht es den Flüchtlingen? Ihre Geschichte war gut. Jung, lesbisch, Musikerin. Sie redete auf Arabisch über ihre Wut. „Mein ganzes Leben wurde ich von der Gesellschaft unterdrückt, weil ich eine Lesbe bin", sagte sie in die Kamera. Sie erzählte auch von ihrem Vater, der kein Wort mehr mit ihr sprach, seit er Bilder gesehen hatte, wie sie beim Lesbisch-schwulen Stadtfest mit ihrer Gitarre auf der Bühne stand. Sie sagte: „Ich lasse mir von ihm nicht mein Leben zerstören." Der Beitrag wurde mit deutschen Untertiteln gesendet. Enana dachte sich nichts dabei.
Bis sie ein paar Wochen später aufwachte und Hunderte Nachrichten auf ihrem Handy fand. Der Sender hatte den Beitrag an die arabische Sparte der Deutschen Welle verkauft und auf Arabisch gesendet. Das Video wurde tausendfach geteilt. Wildfremde Menschen schickten ihr Nachrichten, bedankten sich für ihren Mut, flehten sie um Hilfe an. Wie sollte sie anderen helfen, wenn sie nicht mal ihr eigenes Leben in den Griff bekam?
Ihre Verwandten beschimpften sie für die Schande, die sie über die Familie gebracht hatte. Ihr Vater erlitt einen Herzanfall.
Wovon Enana immer geträumt hatteEs war ihre Mutter, die in dieser Zeit immer wieder vor ihrer Tür stand. „Enana, lass mich rein, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht." Es dauerte, bis Enana die Tür öffnete. Ihr Vater war immer ihr Held gewesen, aber jetzt saß er weit weg in Syrien, fühlte sich zu alt, um das Land zu verlassen. Und zum ersten Mal bewunderte Enana ihre Mutter, die viel schneller angekommen war als sie, für eine Organisation arbeitete, die Geflüchteten half, eine eigene Wohnung hatte, ihr eigenes Geld verdiente, Deutsch gelernt hatte. Und Dasha mochte, die sie noch von den Tagen am Lageso kannte. Sie lud die beiden zum Essen ein, und Enana musste daran denken, wie sie früher, in ihrem alten Leben, immer von diesem Moment geträumt hatte.
Langsam begriff sie, warum ihre Mutter sie nie hatte sein lassen können, dass sie ihr unrecht damit getan hatte, sie für einfach nur homophob zu halten. Sicher, sie hatte erst lernen müssen, Enana zu akzeptieren. Vor allem aber, das verstand sie jetzt, hatte sie Angst um sie gehabt.
Im Winter, in diesem kalten Berliner Winter, zog sie sich an der Stange empor, die sie im Türrahmen befestigt hatte, ein Klimmzug, schwungvoll, die Stange gab nach. Als sie auf dem Rücken aufprallte, durchfuhr sie der Schmerz wie ein Blitz.
Ihre Wirbelsäule war geprellt. Zwei Wochen lang konnte sie sich kaum bewegen. Dasha hatte ihr auf dem Fußboden ein Lager aus Matratzen gebaut. Enana lag da, neben ihr bollerte der Kohleofen, und starrte von morgens bis abends auf den Fernseher. In Ghouta, einem Vorort von Damaskus, bombardierten Assads Truppen eines der letzten Gebiete der Rebellen. Sie töteten Hunderte Menschen, darunter Frauen und Kinder. Angela Merkel sprach von einem „ Massaker ".
„Warum bin ich hier", dachte Enana, „wenn ich eigentlich dort sein sollte, um mit ihnen zu sterben?" Sie fühlte sich so klein.
Ankommen in BerlinIn Syrien hatte Sie Theater gespielt und als Synchronsprecherin gearbeitet. Jetzt gibt es Tage, an denen sie das Bett nicht verlässt, weil sie keine Kraft hat, dem Tag zu begegnen. Sie schläft und schläft, weil der Schlaf der einzige Ort ist, an dem sie Ruhe findet. Und das ist an diesen Tagen das Einzige, was ihr Körper und ihr Kopf wollen. Eine Ärztin hat bei ihr ein posttraumatisches Belastungssyndrom festgestellt. Dasha hat gelernt, Enana an diesen Tagen für sich sein zu lassen.
Enana weiß, dass sie eine riesige Chance bekommen hat, als sie vor drei Jahren in Damaskus in das Flugzeug stieg. Aber sie hat nicht geahnt, wie schwer es ihr fallen würde, sie zu nutzen. Enana ist jetzt 23 Jahre alt. Wäre sie in Damaskus geblieben, hätte sie im vergangenen Jahr ihren Uniabschluss gemacht. Jetzt fängt sie noch einmal von vorne an.
Seit ein paar Tagen besucht sie einen Sprachkurs, der es ihr ermöglicht, wieder zu studieren. Es dauert eine knappe Stunde, um mit Bus und Bahn dorthin zu kommen. In dem Kurs sitzen vor allem syrische Männer, in der Pause hat sie gehört, wie sie darüber sprachen, dass es nicht gut sei, dass Homosexuelle in Deutschland heiraten dürfen. Auch hier, in ihrem neuen Leben, hat sie noch immer oft das Gefühl, nicht dazuzugehören.
„Ich muss hier wegen meiner Homosexualität nicht um mein Leben fürchten", sagte sie, während wir im Café in der Sonne saßen. „Aber ich habe hier zum ersten Mal erfahren, was Rassismus ist." Als sie im Getränkemarkt für eine Flaschensammlerin aus dem Park gehalten wurde; als sie im Zug die Einzige war, die Polizisten nach Drogen durchsuchten; als ein Musikmanager ihr riet, bei Konzerten in traditionellen syrischen Gewändern aufzutreten. „Berlin ist nicht Utopia", sagte Enana. „Ich habe es so satt, wie ein Flüchtling behandelt zu werden." Es ist noch immer viel übrig von der Wut, die sie in sich trägt.
Zerfallen wie ein PuzzleSeit ich Enana kenne, ist sie dabei, sich Stück für Stück wieder zusammenzusetzen, wie ein Puzzle, das in tausend Teile zerfallen war. Sie hat ihre langen Haare abgeschnitten. Sie und Dasha bleiben lieber zu Hause und kochen zusammen, statt durch die Clubs zu ziehen. Manchmal vermisst Enana Damaskus. Sie vermisst es, über den Campus zu laufen und jeden zu grüßen, den sie kennt. Sie vermisst das Essen; alles schmeckt so anders in Syrien, so viel intensiver als hier. Sie vermisst ein Gefühl - man könnte es Heimat nennen. Aber ihre Heimat, die ist jetzt hier, denn zurückgehen, sagt sie, wird sie nie.
Sie hat ein Tattoo auf dem Arm, es ist älter als das auf ihrem Rücken: „Titanium", steht da. Das Metall, aus dem Flugzeuge gebaut werden, weil es so leicht ist - und gleichzeitig hart wie Stahl.
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