Das Büro von Bettina Völter, Prorektorin der Alice-Salomon-Hochschule, liegt im dritten Stock eines Neubaus. Von hier oben blickt sie wie von einem Leuchtturm aus weit bis nach Marzahn, unten eilen Studenten über einen gesichtslosen Platz, der an diesem Mittwochnachmittag trist im fahlen Novemberlicht liegt. Schräg unter Bettina Völters Fenster hängt ein rotes Transparent: „Menschenrechte, Menschenwürde, Menschlichkeit", steht darauf. Wer von der Hellersdorfer Straße aus kommt, sieht es schon von Weitem.
In den vergangenen Wochen ist viel geredet worden über die Fassade der Alice-Salomon-Hochschule. Es ging dann nicht um dieses Transparent, sondern um ein Gedicht, das an der südlichen Seite des Gebäudes prangt, gut zu lesen von der U-Bahnstation aus. Es besteht aus vier spanischen Wörtern: Avenidas, Flores, Mujeres, un Admirador. Alleen, Blumen, Frauen, ein Bewunderer.
Bettina Völter atmet tief durch. Sie muss sich kurz sammeln, sie hat so viel erklären müssen, seitdem bekannt wurde, dass die Hochschule das Gedicht des bolivianischen Schriftstellers Eugen Gomringer entfernen lassen will. Studierende hatten im vergangenen Jahr darum gebeten; das Gedicht, schrieben sie der Uni, erinnere „unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind", wirke wie eine „Erinnerung daran, dass objektivierende und potenziell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können". Die Hochschule entschied sich dann, in einem Wettbewerb Ideen für eine Neugestaltung zu sammeln. Seitdem herrscht Ausnahmezustand.
„Dieses Gedicht, ausgerechnet an dieser Hochschule", sagt Bettina Völter. Und meint damit, dass an der ASH Studierende für Berufe ausgebildet werden, in denen sie mit Menschen in Grenzsituationen arbeiten, mit Geflüchteten, Behinderten, auch Opfern sexualisierter Gewalt. Sie legen hier großen Wert auf Antirassismus und Antidiskriminierung. „Die Studierenden lernen bei uns auch sehr differenziert mit Geschlechterkonstruktionen umzugehen", sagt Bettina Völter. „Muss dann ein Gedicht an der Fassade stehen, das dieses Thema so bewusst vereinfacht?" Für sie ist das eine Frage der Glaubwürdigkeit.
Sie listet dann auf, was ihr und den Studierenden alles vorgeworfen wurde: Zensur, Bilderstürmerei, Säuberung, Gesinnungskontrolle. Ein Angriff der politischen Korrektheit auf die Freiheit der Kunst. Die ganz großen Geschütze. Drunter werden Debatten, in denen es um den Vorwurf von Sexismus geht, in diesen Tagen nicht geführt.
Als schon alles gesagt schien, in Dutzenden Kommentaren in Zeitungen, im Fernsehen, im Radio, veröffentlichten die Studierenden eine Stellungnahme: „Angenommen ihr alle wohnt in einem Mietshaus", schrieben sie, „und auf der einen Fassade dieses Mietshauses steht ein Gedicht. Ihr wisst nicht genau, wie der Dichter es gemeint hat, aber irgendwie gibt es euch ein komisches Bauchgefühl. Und ein komisches Bauchgefühl im eigenen Haus - das ist doch nicht schön."
Ist das die neue Intoleranz?Es ist der Vergleich, der bei diesen Sätzen aufhorchen lässt: die Uni als Zuhause, als Ort, an dem sich alle Studierenden wohlfühlen sollen und sich wie Mieter bei der Hausverwaltung beschweren können, wenn ihnen etwas nicht passt. Die Universität ist dann nicht mehr primär ein akademischer Ort, ein Raum also, in dem es nicht nur darum geht, was, sondern wie gedacht wird, kritisch nämlich; in dem grundsätzlich erst mal jede Position verhandelt werden kann, um dann zu schauen, wie alles miteinander zusammenhängt; dazu gehört auch, eigene Überzeugungen immer wieder herauszufordern, zu hinterfragen, Reibungen und Dissens zuzulassen.
Wenn das Bauchgefühl ins Spiel kommt, geht es darum zu sagen: Ich fühle mich verletzt. Und nicht: Ich bin anderer Meinung. Es geht dann um Befindlichkeit und nicht um den Austausch von Argumenten.
Und: Wer die Uni als Zuhause sieht, wähnt sich im Recht, nicht nur die Farbe der Wände zu bestimmen, sondern darüber zu entscheiden, wer dort sprechen darf und wer nicht.
Redeverbote im Namen der ToleranzDie Liste derer, die in den vergangenen Jahren an Universitäten als Redner nach Protesten Studierender wieder ausgeladen wurden, ist lang: Condoleezza Rice, die ehemalige Außenministerin der USA, Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds, der Komiker Bill Maher und die niederländische Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali; Anfang des Jahres verhinderten Studenten einen Auftritt des AfD-Politikers André Poggenburg in Magdeburg, an der ETH Zürich traf es im Oktober den früheren CIA-Chef General David Petraeus, an der Frankfurter Goethe-Universität den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt.
Es sind Proteste zumeist linker Studenten gegen Rechte, Konservative, Islamkritiker, deren Recht auf freie Meinungsäußerung nicht mehr zu gelten scheint, sobald sie eine Universität betreten wollen. Und es versagen sie ausgerechnet die, die Toleranz und Diversität ansonsten zu den zentralen Markern ihres Denkens erklärt haben. So wird natürlich eine Auseinandersetzung schwierig, in der die besseren Argumente gewinnen - und nicht der, der am lautesten schreit.
Baberowski und der menschliche MakelVor einem Jahr wollte Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität, an der Universität Bremen sein Buch „Räume der Gewalt" vorstellen. Als der Asta zu Protesten aufrief, verlegte die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Baberowski eingeladen hatte, dessen Auftritt in ihre eigenen Räume, Polizei und ein Sicherheitsdienst schützten den Eingang.
Baberowski wandte sich danach an die Kanzlei Schertz Bergmann. Der Asta hatte auf Flugblättern und im Internet verbreitetet, dass Baberowski ein Rechtsradikaler sei, der Gewalt gegen Flüchtlinge verharmlose und „Menschen mit blankem Hass" begegne. Vor dem Kölner Landgericht erwirkte Baberowski zunächst eine einstweilige Verfügung. Die Studenten gingen in Berufung. Als die Richterin im Juni deutlich machte, dass sie die Aussagen von der Meinungsfreiheit gedeckt sah, zog Baberowski seinen Antrag zurück.
Drei Wochen später sitzt Baberowski, 56, in seinem Büro in der Friedrichstraße in Berlin-Mitte. Noch immer erscheinen nahezu täglich Berichte über ihn in den Zeitungen. Baberowski steht zu diesem Zeitpunkt ziemlich allein da. Bis auf Götz Aly, der selbst keinen Lehrauftrag an einer Universität hat, ergreift kein Kollege öffentlich das Wort für ihn. „Ich weiß von vielen Kollegen, dass sie die politische Situation ähnlich wie ich beurteilen", sagt Baberowski, „aber sie sagen nichts, weil sie sich keinem Shitstorm aussetzen wollen."
Im Herbst 2015 hatte er einen Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschrieben. Die Bundeskanzlerin hatte gerade ihr „Wir schaffen das" in die Welt gesetzt, Tausende Geflüchtete kamen über die Grenze. Baberowski schrieb, Deutschland gebe seine Souveränität auf, wenn es nicht selbst darüber entscheide, wer kommt und wer bleibt; er warnte, dass die Integration so vieler Menschen den „Überlieferungszusammenhang" unterbreche. Was hält uns dann in Zeiten der Krise noch zusammen?, fragte er.
Er tippte diese Gedanken nachts in seinen Computer. „Ich war wütend", sagt er. Auf die Politiker, auf die Medien, die ihm in diesen Tagen all zu einig erschienen. „Einer muss Opposition spielen", habe er gedacht, „dann mache ich es eben."
Baberowski trat danach immer wieder als Kritiker der Flüchtlingspolitik auf, in einem Interview wurde er gefragt, wie er die Gewalt gegen Asylbewerber bewerte. Er antwortete: „Ich glaube, angesichts der Probleme, die wir in Deutschland haben mit der Einwanderung, die jetzt gerade stattfindet, ist es ja noch eher harmlos, was wir haben ..." Es ist einer der Sätze, um die es vor dem Landgericht gehen wird, die der Asta „rechtsradikal" nennt.
„Es gibt die Herrschaft des politisch Korrekten", sagt Baberowski in seinem Büro. „Man tauscht keine Argumente mehr aus, sondern stigmatisiert den Kritisierten als Rassisten. Für den ist das dann der soziale Tod. Wer sich in Deutschland dem Diskurs der Herrschenden widersetzt, wird so lange stigmatisiert, bis niemand mehr mit ihm redet."
Die Herrschaft der Political CorrectnessSo ganz stimmt das in seinem Fall nicht. Baberowski ist noch immer ein Professor, in dessen Vorlesungen und Seminare Hunderte Studenten kommen, er hat sich in der Debatte um seinen Rechtsstreit vielfach zu Wort gemeldet, er schreibt eine Kolumne in der Basler Zeitung, in der er sehr polemisch Politik und Medien kritisiert.
Er hat 1600 Follower auf Twitter, manchmal teilt er Meldungen über kriminelle Migranten. Man könnte ihn dann für einen AfD-Anhänger halten, er selbst aber wählt seit vielen Jahren nicht und will sich in keine parteipolitische Schublade stecken lassen. Sein Mantra lautet: Ich darf sagen, was ich denke, erst recht als Intellektueller, erst recht jetzt.
Trotzdem: Es bleibt etwas hängen. Wenn man bei Google „rechtsradikaler Professor" eintippt, erscheint noch Monate nach der Gerichtsverhandlung Baberowskis Name ganz oben. Das Internet hat das Machtgefälle zwischen Studierenden und Professoren ausgeglichen. Über die sozialen Netzwerke lässt sich Kritik lautstark verbreiten, ohne dass auf den ersten Blick klar ist, wer der Urheber ist und für viele er eigentlich spricht.
Was Jörg Baberowski passiert ist, klingt wie der Stoff für einen Roman von Philip Roth. Bald zwanzig Jahre ist es her, dass „Der menschliche Makel" erschienen ist, in dem Roth die Mechanismen seziert, die durch einen einmal geäußerten Rassismusvorwurf in Gang gesetzt werden. „Or are they spooks?", fragt Professor Coleman Silk in den Hörsaal auf der Suche nach abwesenden Studenten. Gibt es sie oder sind es Spukgestalten? Nicht wissend, dass „spooks" als ein abwertendes Slangwort für Schwarze verstanden wird. Die Folgen dieses Satzes beschäftigen ihn dann 400 Seiten lang.
Was bei Roth noch einer Dystopie gleicht, ist heute ein verbreitetes Phänomen an Universitäten, das Greg Lukianoff, Jurist und Vorsitzender einer Stiftung, die sich für Meinungsfreiheit auf amerikanischen Campussen einsetzt, und Jonathan Haidt, Sozialpsychologe an der New York University, „vindictive protectivness" nennen: „rachsüchtiges Beschützen". „Es schafft eine Kultur, in der jeder zweimal nachdenken muss, bevor er sich zu Wort meldet, weil er sonst eine Anklage wegen Unsensibilität, Aggression oder Schlimmerem fürchten muss", schreiben sie in The Atlantic.
Lukianoff und Haidt beschreiben, wie in den vergangenen Jahren in den USA eine studentische Bewegung entstanden ist, die Campusse von Ideen und Themen säubert, die Unbehagen auslösen könnten. Dozenten sind angehalten „trigger warnings" auszusprechen, sollten in Seminaren und Vorlesungen Inhalte verhandelt werden, die beispielsweise Opfer von sexueller Gewalt oder Rassismus an Erlebtes erinnern könnten.
Das geht so weit, dass Studenten verlangen, Werke klassischer Literatur wie F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby" (häusliche Gewalt) oder Virgina Woolfs „Mrs Dalloway" (Selbstmord) mit einem Warnhinweis zu versehen. An der Harvard Law School forderten sie, Sexualstrafrecht vom Lehrplan zu streichen und auf Vokabeln wie „violate" zu verzichten - was im Englischen in Idiomen wie „violate the law" zu finden ist, aber auch „vergewaltigen" bedeutet.
"Micro aggressions" und "trigger warnings"Es geht um „micro aggressions", kleine Handlungen und Worte, die zwar unbedacht sind, aber trotzdem verletzend. Also zum Beispiel, einen deutschen Studenten mit Migrationshintergrund zu fragen, wo er denn eigentlich herkäme. Oder angesichts einer Staatssekretärin zu bemerken, man hätte keine so junge und schöne Frau erwartet. Oder ein Gedicht über einen Mann, der Alleen, Frauen und Blumen betrachtet.
Die Idee der Micro Aggressions zielt auf den impliziten Teil von Sprache, auf das, was an Bedeutung mitschwingt, an Vorurteilen und Klischees. Das macht es so schwierig, sie zu benennen, und erklärt die ablehnende Haltung und das Unverständnis, auf die eine derart verfeinerte Suche nach Diskriminierungen im Alltag trifft.
Konservative wähnen sich von einer Sprachpolizei verfolgt - und zeigen damit aber auch eine gewisse Faulheit im Denken. Oftmals reicht es ja schon aus, einen Satz im Kopf mit einem anderen Subjekt durchzuspielen („Ich hätte keinen so schönen und jungen Mann erwartet"). Wird er dann absurd, ist das ein gutes Indiz, dass damit etwas nicht stimmt.
An der FU können sich Lehrende Hilfe holen. Das Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung hat eine „Toolbox für Gender und Diversity in der Lehre" entwickelt, die helfen soll, Diskriminierung im Unterricht zu vermeiden. Auf der Website des Projekts gibt es ein Zeichentrick-Erklärvideo und Tipps, wie der Unterricht so gestaltet werden kann, dass niemand sich ausgeschlossen fühlt.
Die Toolbox zu nutzen ist freiwillig, kommt einladend daher, mit Formulierungsvorschlägen, also „Frau Walter ist Mitarbeiterin im Fachbereich 36" statt „Mitarbeiter" oder „Personen, die sich bewerben, sollen..." statt „Bewerber sollen..." Es ist der vorsichtige Versuch, die Erkenntnisse der Genderforschung in die Praxis umzusetzen.
Im Namen der Political CorrectnessIst dagegen etwas einzuwenden? Ist es nicht wünschenswert, sich um eine Sprache zu bemühen, die nicht verletzend, nicht ausgrenzend ist, auch nicht versehentlich? Darum ging es, als in den 80er-Jahren erstmals Political Correctness eingefordert wurde. Damals wurde auch der wissenschaftliche Kanon hinterfragt, der nahezu ausschließlich weißes, männliches Denken abbildete.
Es sind im Grunde diese Maßstäbe, an denen Studenten heute die Veranstaltungen Herfried Münklers messen, der an der Humboldt-Universität Politik lehrt. Wenn sie anprangern, dass seine Vorlesung zur Ideengeschichte außer Frantz Fanon und Hannah Arendt keine nicht-weißen oder weiblichen Philosophen auf der Themenliste führt, ist das erst mal eine berechtigte Kritik, auch wenn an Aristoteles und Kant kein Weg vorbeiführt.
Das Problem ist das Prinzip der „vindictive protectiveness": Wer bereits Sprache als gewalttätig, wer die Literaturauswahl einer Vorlesung als Fortschreibung struktureller Machtverhältnisse einer Gesellschaft sieht, dem geht es nicht um eine intellektuelle Debatte, nicht um Wissenschaft, sondern er stellt eine politische Forderung nach einem Ausgleich für empfundenes Unrecht.
Die Kritik an Münkler kam anonym und aus dem Netz, das machte eine direkte Diskussion unmöglich und hatte den unangenehmen Beiklang von Mobbing. Ein anderer Professor an der HU hielt sein Seminar über Kant unter Polizeischutz ab; Studierende hatten ihm vorgeworfen, nicht ausreichend auf Kants stereotypes Geschlechterbild eingegangen zu sein, und hatten die Veranstaltungen mit einer „Klatsch-Intervention" gestört. Baberowski bestellte im vergangenen Semester den Wachschutz der Uni vor den Hörsaal, damit seine Vorlesung nicht gestört würde. Er fühlte sich verfolgt von einer kleinen trotzkistischen Hochschulgruppe, die seine Arbeit schon seit Jahren kritisierte, spricht von Methoden wie bei der Stasi, von Einschüchterung und Drohungen.
Im Safe Space
Ende Juni hingen überall an den Berliner Universitäten Plakate mit seinem Gesicht, darüber: „Der Fall Baberowski - gegen rechte und militaristische Ideologie an der Uni!"
„Das war richtig krass", sagt Judith Sevinç Basad, „der ganze Campus war tapeziert." Judith studiert Literaturwissenschaft an der FU. Die Plakate warben für eine Diskussionsveranstaltung, organisiert vom Asta der Uni Bremen, vom Asta der TU und der IYSSE, jener trotzkistische Gruppe. Judith war eine von einem guten Dutzend Studierender, die dann an einem frühen Abend in einem Hörsaal an der TU saßen, um sich anzuhören, was gegen Baberowski vorlag. Immer wieder meldeten sie sich zu Wort: „Ist das nicht aus dem Zusammenhang gerissen?" - „Das sagt Baberowski doch so gar nicht." Die IYSSE schrieb danach auf ihrer Website, sie seien von der rechtsextremen Identitären Bewegung geschickt worden.
Nach den Semesterferien steht Judith vor der Cafeteria an der FU. Erstsemester irren über die Flure der Silberlaube, vorbei an Ständen von Firmen, die Taschenrechner und Spielzeugroboter verkaufen. „Wenn du sagst, dass du es nicht gut findest, wie Baberowski behandelt wird, bist du gleich rechts", sagt sie. Judith hat eine Initiative gegründet, sie hat sie „Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit" genannt. „Der universitäre Diskurs ist meistens links", sagt sie, „daran ist ja auch nichts auszusetzen, aber es gibt einfach keine Mitte mehr."
Sie erzählt, wie selbstverständlich an der Uni zu Gewalt aufgerufen werde, von Slogans wie „Aus 9 Flaschen können schnell 9 Mollis werden!", den sie an einer Wand im Institut für Sozialwissenschaften gelesen hat, als Studenten dort im Januar gegen die Entlassung von Andrej Holm protestierten. „Kritik sollte anders gehen", sagt Judith. Sie bezeichnet sich als Feministin, sie schreibt ihre Hausarbeiten über Genderthemen. Den Diskussionen an der Uni kann sie manchmal trotzdem nicht mehr folgen.
Sie erzählt von einem Panel zum Institutstag im vergangenen Jahr. Da sei darüber diskutiert worden, was getan werden könne, damit Frauen sich in Seminaren häufiger zu Wort melden. „Es ging dann darum, wie man das Redeverhalten von dominanten Männern bremsen könnte", erzählt sie. Es seien Vorschläge diskutiert worden wie nach Geschlechtern getrennte Seminarräume und Rednerlisten, auf der nach jedem Mann eine Frau kommen müsse. „Es kann doch nicht die Lösung des Problems sein, Verbote einzuführen und die eigene Unzufriedenheit zu delegieren", sagt Judith. „Ich würde mir wünschen, dass man Betroffene stark macht, sich gegen Unterdrückung zu wehren, statt sich passiv zu verhalten."
Ein Schutzraum an er UniIm Frühjahr, als ein Hörsaal an der FU besetzt wurde, besuchte sie ein studentisches Plenum, das zum „Safe Space" erklärt wurde. Stirnrunzeln und andere Gesten der Zustimmung oder Ablehnung waren nicht erlaubt, weil sich davon jemand verletzt fühlen könnten, stattdessen sollten mit den Händen Kreuze geformt oder gewedelt werden.
Safe Space, ein Schutzraum, ist ein Begriff der aus der Zeit der frühen Schwulenbewegung stammt und damals einen Ort meinte, an dem Homosexuelle sich vor Verfolgung und Gewalt sicher fühlen konnten. Heute taucht der Begriff immer öfter an Universitäten auf, vor allem in den USA und Großbritannien, wo eine Studentin wegen eines Kopfschüttelns aufgefordert wurde, einen Seminarraum zu verlassen.
In der Vorstellung der Universität als Safe Space werden Studierende zu schutzbedürftigen Wesen. In den USA gibt es dafür einen hübschen Begriff konservativer Kritiker: das „Special Snowflake Syndrom", das die verweichlichten Millennials befallen habe, die permanent um die eigene Verletzlichkeit kreisen. Der britische Biologe Richard Dawkins, der gerne gegen Political Correctness wettert, schrieb dazu auf Twitter: „A university is not a ‚safe space'. If you need a safe space, leave, go home, hug your teddy & suck your thumb until ready for university."
Der Versuch, die Universität zum Safe Space zu erklären, ist insofern problematisch, weil damit ein öffentlicher Raum mit Regeln besetzt wird, die das intellektuelle Klima in ein starres Korsett zwängen. Hinzu kommt: Was verletzend, was bedrohlich ist, bestimmt der Betroffene. Das alleine schon macht einen Safe Space zu einer Utopie, die der komplexen Realität nie gerecht werden kann. Das ist die eine Seite.
Über die andere kann man mit David Kaldewey sprechen. Er ist Professor für Wissenschaftsforschung an der Universität Bonn. Er hat kürzlich auf einer Konferenz im Haus der Kulturen der Welt einen Vortrag über Safe Spaces gehalten. „Ich finde die Frage interessanter, was eigentlich dran ist an dem Konzept", sagt er am Telefon. „Da wird etwas ausprobiert, es ist ein laufendes Experiment." Für Experimente ist die Uni natürlich ein perfekter Ort, war er schon immer. An so einem Ort ist mehr möglich als in der Welt da draußen, Fehler inbegriffen. Kaldewey sieht den Safe Space als Versuch, Antworten zu finden auf eine Gesellschaft, die immer diverser wird. Wie können wir alle gleichberechtigt und friedlich zusammenleben?
Gegen Diskriminierung an der UniEs ist nicht so einfach, einen Safe Space an einer Berliner Universität zu finden, meistens entsteht er aus der Situation heraus, ist temporär und in seiner Gestaltung an den Kontext angepasst. Manchmal ist er aber auch ein tatsächlicher Raum. Über eine schmale Treppe geht es im Quartier des Asta der FU bis unters Dach. Ann Kris schließt die Tür auf und betritt einen Raum, dessen Wände pink gestrichen und mit Zetteln und Plakaten beklebt sind, unter der Dachschräge Sofas, über die lilafarbene Decken geworfen sind, davor ein alter Ikeatisch.
Hier trifft sich das LesBiTransInterA*-Referat, das sich für queere Studierende wie Ann Kris einsetzt. Cis-Männer, also Männer, die als Mann geboren worden und leben, dürfen hier nicht rein. „Das soll ein Raum sein, in dem wir mal nicht die anderen sind", sagt Ann Kris, sie studiert English Studies, vor drei Jahren hatte sie ihr Coming Out als queere Transperson, das ist der Begriff, den sie für sich gefunden hat.
Ann Kris will die Kritik, sie würden selbst intolerant sein, indem sie Männer ausschlössen, nicht gelten lassen. Das Referat veranstalte auch Stammtische, da dürfe jeder kommen. „Aber wir brauchen einen Raum, in dem wir nicht erst erklären müssen, wie sich das anfühlt, diskriminiert zu werden", sagt Felicia, eine Transfrau, die gerade zur Tür reingekommen ist. „Es würde keinen Sinn ergeben, in so einer Runde Cis-Typen dabei zu haben."
Vor kurzem haben die beiden bei der Univerwaltung angefragt, ob es möglich wäre, Allgendertoiletten einzurichten. 170 Euro sagen sie, würde es kosten, an ein paar WCs ein neues Schild anzubringen, es wäre also eine Kleinigkeit. Erreicht haben sie bisher nichts.
Stattdessen dient die Allgendertoilette Konservativen als Beispiel für den vermeintlichen bürokratischen Irrsinn, den Minderheiten mit ihren Forderungen nach Gleichberechtigung auslösen. Für Ann Kris und Felicia hingegen ist es ein Versuch, ein Problem zu lösen, dem sie jedes Mal begegnen, wenn sie vor einer öffentlichen Toilette stehen, die nur zwei Geschlechter kennt.
Aber die Fronten sind oft so verhärtet, dass eine sachliche Debatte kaum noch möglich ist. Oder sie wird ins Lächerliche gezogen. Spiegel Online forderte Leser auf, dem Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule eine neue Strophe hinzuzufügen: „Alleen und Blumen und / ein Mops", schrieb einer. Leider ist der offizielle Wettbewerb für Vorschläge zur Neugestaltung schon geschlossen.
Die neue Intoleranz an Berliner Universitäten Im Safe Space
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