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"Jeder konnte alles mit uns machen"

Vor 70 Jahren: Am 1. September 1941 wurde in Deutschland die Kennzeichnungspflicht für Juden erlassen.


Es ist ein gelbes Stück Stoff, sechszackig. Und es löst grausame Erinnerungen aus. „Wir waren Freiwild, seit wir den Judenstern tragen mussten“, sagt Esther Bejarano.„Jeder konnte alles mit uns machen.“

Die „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“ wurde am 1. September 1941 erlassen, verkündet durch das Reichsgesetzblatt des nationalsozialistischen Innenministeriums. Juden wurden schon lange verfolgt; der Völkermord, die Shoah, hatte begonnen. Esther Bejarano war 16 Jahre alt und im Zwangsarbeitslager Neuendorf inhaftiert. Täglich fuhr sie, bewacht von SS-Männern, mit dem Zug nach Fürstenwalde/Spree, um im „Blumenhaus Westphal“ zu arbeiten. Dort band sie Sträuße, putzte, lieferte aus und verkaufte – alles mit dem Mal an der Kleidung, das die Nazis „Judenstern“ tauften.

AUF DER STRASSE BESPUCKT

„Mein Chef wollte, dass ich den Stern verdecke. Doch das war streng verboten“, erzählt Bejarano. Unter dem Stern wurde sie auf der Straße schief angeschaut und bespuckt. Eines Tages zeigte ein Kunde, der sie im Geschäft gesehen hatte, ihren Chef bei der Gestapo an. Polizisten kamen daraufhin zum Blumenhaus: „Sie sagten, es sei eine Zumutung für die Leute, dass eine Jüdin sie bedient. Wenn ich nochmal im Verkaufsraum arbeiten würde, käme ich sofort nach Auschwitz.“

Da der „Judenstern“ immer zu sehen sein musste, bemerkte Bejarano auf der Straße fortan andere Menschen jüdischen Glaubens, manche luden sie zu sich nach Hause ein. Doch sie konnte keine der Einladungen annehmen. Pünktlich, nach zwölf Stunden Zwangsarbeit, musste sie zurück ins Lager.

GESCHÜTZT DURCH EINE „PRIVILEGIERTE MISCHEHE“

Vor einem Leben im Lager blieben Melanie Friedeberg und ihre Familie bewahrt. Ihr jüdischer Vater hatte vor der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze eine christliche Frau geheiratet. Im Nazi-Jargon nannte man das eine „privilegierte Mischehe“. Zudem ließ Heinz Friedeberg seine Tochter taufen. „Mein Papa hat es gut mit mir gemeint“, dankt sie ihm noch heute. Einen „Judenstern“ musste die Berliner Familie nicht tragen. Doch „es war bekannt, dass wir ein Judenhaushalt sind“.

Friedeberg, die im Jahr der Reichpogromnacht geboren wurde, musste von anderen Kindern Schläge und Beleidigungen einstecken. Ihr Vater wurde immer wieder zu Zwangsarbeit verpflichtet, ihre Mutter weinte viel. „Ich habe die Angst meiner Eltern gespürt“, sagt Friedeberg. Menschen, die einen gelben sternförmigen Aufnäher trugen, groß wie eine Untertasse, sah sie nicht: „Die waren alle schon abgeholt.“

EIN MARKT FÜR RECHTSGESINNTE

Leonore Maier vom Jüdischen Museum Berlin bestätigt das: „Die meisten ‚Sternträger‘ wurden ermordet.“ Maier ist Kuratorin für Alltagskultur, mehr als 40 der sogenannten Judensterne obliegen ihrer Verantwortung. „Viele persönliche Biografien und Schicksale sind damit verbunden.“

Jede Jüdin und jeder Jude durfte nur drei Exemplare erwerben, daher galt es, die Kennzeichnung immer wieder neu aufzunähen. „Viele Exponate haben unzählige Einstiche“, so Maier. Manche der Sterne seien unterfüttert, was gewährleisten sollte, dass sie länger hielten.

Abseits der Erinnerungskultur im Museum gibt es heute „einen unappetitlichen Markt für sogenannte Judensterne“, erzählt die Kuratorin. „Zum Beispiel von Militaria-Händlern.“ So diskutierten User in einem Forum, das viele Nazi-Gegenstände thematisiert, vor vier Wochen darüber, ob ein Foto ein „seltenes Original“ zeigt oder nicht.

„NICHTS DAZUGELERNT“

Als Esther Bejarano 1943 vom Zwangsarbeitslager Neuendorf ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde, reiste der Judenstern auf ihrer linken Körperhälfte mit ihr mit. Sie spielte Akkordeon im Mädchenorchester von Auschwitz und überlebte. Erst im Konzentrationslager Ravensbrück gab sie den Judenstern ab – im Austausch gegen den „roten Winkel“, das damalige Zeichen für politische Gefangene. Später im Jahr 1945 wurde sie aus dem Lager getrieben – auf einen Todesmarsch. Von dort konnte sie fliehen.

„Das war das größte Verbrechen, was es in der Welt jemals gab“, resümiert Bejarano. Die aktuelle politische Lage macht der resoluten Hamburgerin Angst. Angesichts des  Rechtsrucks in Europa meint sie: „Die Menschen haben nichts dazugelernt.“

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