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Nervenzellen im Gespräch

Um die 86 Milliarden Neurone müssen ständig miteinander kommunizieren, damit der Mensch fühlen, handeln, denken kann. In Millisekunden finden an tausenden Zellen komplexe chemische und elektrische Prozesse statt – für eine einzige sinnvolle Handlung.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Teilnehmer einer Konferenz zu einem gemeinschaftlichen, sinnvollen Verhalten bewegen. Der Haken dabei: Die Konferenz hat eine Milliarde Teilnehmer und Sie nur Bruchteile einer Sekunde Zeit. Unmöglich, oder? Doch im Körper funktioniert das, unentwegt und mit einer beeindruckenden Erfolgsquote. Damit kleinste Handlungen oder Emotionen möglich werden, müssen die rund 86 Milliarden Nervenzellen im Gehirn zusammenarbeiten, miteinander kommunizieren.

Dabei verstehen sich die Nervenzellen untereinander perfekt – mit Hilfe von elektrischen und chemischen Signalen.

 

Neurone sind die Sprinter unter den Zellen

Wer etwa hungrig mit einer Gabel eine Portion Spaghetti aufrollt, tut dies dank einer Art „stiller Post" verschiedenster Neurone: Das zentrale Nervensystem aktiviert mit Hilfe von Nervenzellen, die auf motorische Funktionen spezialisiert sind - so genannten Motoneuronen - die Arm- und Handmuskeln, sodass man die Gabel greifen kann. Gleichzeitig liefern sensorische Neuronen permanent Informationen ans Gehirn, etwa über die Position der Hand und den Druck der Finger auf die Gabel. Diese Informationen werden im Gehirn von Gruppen von Nervenzellen, die für die Kontrolle von Arm, Hand und Fingern zuständig sind, verarbeitet, sodass der weitere Verlauf der Bewegung - wieder über die Motoneurone - präzise gesteuert werden kann. So schafft man es, die langen glitschigen Nudeln tatsächlich auf der Gabel zu halten.

Das klingt simpel. Doch der Kommunikationsfluss ist äußerst komplex und bindet Millionen von Nervenzellen ein, die Informationen über einen kombinierten elektrischen und chemischen Prozess analysieren, hemmen oder verstärken und das Ergebnis schließlich weiterleiten.


Vom Axon zur Synapse

Um das zu verstehen, muss man sich kurz den Aufbau einer Nervenzelle in Erinnerung rufen: Vereinfacht gesagt besteht ein Neuron in der Regel aus dem Zellkörper und mehreren Verästelungen, die mit anderen Nervenzellen in Kontakt stehen und über die Informationen empfangen oder gesendet werden. Der sendende Fortsatz heißt Axon, er kann bis zu einem Meter lang sein. Die empfangenden Fortsätze nennt man Dendriten. Ein Neuron kann mit 100.000 bis 200.000 Fasern anderer Nervenzellen in Austausch treten.

Sind die ankommenden Signale von anderen Nervenzellen stark genug, wird also ein bestimmter Schwellenwert der Erregung überschritten, feuert das Neuron: Ein elektrischer Impuls, das so genannte Aktionspotenzial, schießt am Axon entlang in Richtung Synapse (siehe Info-Kasten). Je nach Typ der Nervenzelle geht das langsam oder in schnellen Sprüngen: Im Extremfall kann die Erregungsleitung ein Tempo von 120 Metern pro Sekunde erreichen.

Die Geschwindigkeit der elektrischen Weiterleitung hängt neben der Dicke des Axons (dicke Axone leiten schneller, dünne langsamer) auch von bestimmten Helferzellen ab, welche die Nervenfaser ummanteln: Im Gehirn und im Rückenmark sind das die Oligodentrozyten, im peripheren Nerv die Schwannzellen. Beide sind zwei Typen von Glia-Zellen.

Sie bilden häufig dichte, spiralförmige Hüllen um das Axon, die wie Perlen auf der Kette aufgereiht und von kleinen Aussparungen unterbrochen werden. Die Hüllen nennt man Myelin-Scheiden, die Lücken dazwischen Ranvier´sche Schnürringe. Die Myelin-Scheiden funktionieren wie die Isolierung eines Kabels. An diesen Stellen kann kein Aktionspotenzial entstehen - was dazu führt, dass sich der elektrische Impuls nicht kontinuierlich fortsetzt, sondern die Isolier-Bereiche einfach überspringt. Das macht die Weiterleitung deutlich schneller.


Chemie überspringt die Kluft

Das Aktionspotenzial erreicht schließlich das Ende des Axons, das synaptische Endknöpfchen. Dies ist die Kontaktstelle zu einer anderen Nervenzelle. Die Synapsen sind die zentralen Schaltstellen der Informationsübertragung im Gehirn. Jede Nervenzelle hat bis zu 10.000 davon, im Extremfall sogar mehr als 100.000. Weil aber die synaptischen Endigungen der Senderzelle die Empfängerzelle nicht direkt berühren, bleibt ein winziger Spalt von 20 bis 50 Nanometern zwischen beiden. Um diese Barriere zu überwinden, nutzen die meisten Synapsen chemische Botenstoffe - wenngleich es auch einige gibt, die rein elektrisch arbeiten (siehe Info-Kasten).

Bei chemischen Synapsen fusionieren nach der Ankunft eines Aktionspotenzials die so genannten synaptischen Vesikel - etwa 40 Nanometer kleine Bläschen - mit der Zellmembran und schütten Botenstoffe in den Spalt aus. Diese so genannten Neurotransmitter können den Spalt überqueren, der die präsynaptische von der postsynaptischen Zelle trennt. 

Am postsynaptischen Neuron gibt es kompetente Annahmestellen für die Information: die Rezeptormoleküle. Jeder Rezeptor ist auf einen bestimmten Neurotransmitter spezialisiert wie ein Schlüssel und ein passendes Schloss. Die Neurotransmitter erzeugen in der Empfängerzelle das so genannte postsynaptische Potenzial, eine Veränderung im Membranpotenzial des Neurons: Das chemische Signal wird also wieder in ein elektrisches zurückübersetzt. Und hier gilt wieder: Erhält die Zelle ein ausreichend starkes Signal oder ist die Summe der gleichzeitig eingehenden verschiedenen Signale groß genug, erzeugt die postsynaptische Zelle im Anfangsteil ihres Axons, dem Axonhügel, ein neues Aktionspotenzial - der Impuls wird weitergeleitet.


Auch auf Zellebene gibt es Kontroversen

Aber Achtung: Die Wirkung der Neurotransmitter ist nicht immer exzitatorisch, also erregend. Sie können auch inhibitorisch, hemmend agieren und so die Entstehung eines neuen Aktionspotenzials verhindern (Alles-oder-Nichts-Prinzip). Neil R. Carlson bringt dazu in „Physiology of Behaviour" ein anschauliches Beispiel: Wenn ich etwa einen Topf mit frisch gekochten Nudeln zum Esstisch tragen will, mir dabei aber die Finger verbrenne, müsste ich eigentlich den Topf fallen lassen. In vielen Fällen kommt aber im Gehirn gleichzeitig die Botschaft an, dass diese Reaktion eine Sauerei auf dem Boden anrichten würde. 'Nicht fallenlassen' lautet also das Signal, das vom Gehirn an das Rückenmark und die Motoneuronen gesendet wird - letztlich sind Dutzende sensorische Neurone, hunderte Motoneurone und tausende Neurone im Gehirn an diesem „Diskussionsprozess" von erregenden und hemmenden Prozessen beteiligt, an dessen Ende dem Reflex, den Topf fallenzulassen, nicht nachgegeben wird.

Dieses Signal muss schnell ankommen und von solchem Nachdruck sein, dass es gegen den Impuls, den Topf fallenzulassen, gewinnt. Doch wie lassen sich besonders wichtige Signale besonders betonen? Schließlich entsteht das für die Weiterleitung ausschlaggebende Aktionspotenzial nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip: Bleibt der Reiz unterhalb des Schwellenwerts, feuert die Zelle gar keinen Impuls ab; überschreitet er ihn, entsteht das Aktionspotenzial, dessen Form und Größe aber immer gleich ist, egal wie stark der Schwellenwert überschritten wurde.

Die Lösung: Die Information über die Stärke einer Erregung ist in der Anzahl der Aktionspotenziale und ihrem zeitlichen Abstand zueinander, der Frequenz, codiert. Besonders starke Reize lösen besonders viele und dicht aufeinanderfolgende Aktionspotenziale aus. Pro Sekunde kann eine Nervenzelle bis zu 500mal feuern. Für die Empfängerzelle heißt das, dass jede Menge postsynaptische Potenziale entstehen und sich summieren.


Übung macht den Meister

Botschaften können in der Senderzelle durchaus differenziert codiert werden. Biochemiker Nils Brose vom Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in München betont, dass das Zusammenspiel von Aktionspotenzial und Neurotransmittern ein hochkomplexer molekularer Prozess sei: „Es involviert eine ganze Kaskade an Proteinen - man spricht von der Erregungs-Sekretions-Kopplung. Diese Kopplung kann dynamisch verändert werden. Dadurch, dass Proteine verändert werden oder dass ein Protein mehr genutzt wird als ein anderes beispielsweise." Wie effektiv also die Kopplung von Aktionspotenzial und der Freisetzung von Neurotransmittern sei, das könne variieren.

Und auch die Empfängerzelle könne die Übertragungsleistung dynamisch verändern: „Je mehr Rezeptoren sich auf der empfangenden Seite befinden, umso sensitiver ist sie. Das heißt: Bei der gleichen Menge ausgeschütteter Transmitter kann die Empfängerseite trotzdem unterschiedlich stark erregt werden", sagt Brose. Und auch das werde im Gehirn dynamisch verändert: Forscher gehen davon aus, dass bei Lernprozessen etwa die Postsynapse langfristig sensitiver werde.

Doch: Woher wissen die rund 100 Billionen Synapsen in unserem Gehirn eigentlich, an welche Nervenzelle sie die Information weitergeben müssen? Dieses Wissen werde schon während der Entwicklung des Nervensystems determiniert, sagt Brose: „Wenn Sie eine bestimmte Hirnregion anschauen, sieht man, dass die Zellen miteinander auf eine sehr regulierte Weise verschaltet werden." Es müsse Mechanismen geben, mit denen die Zelle die richtigen Empfängerzellen identifizieren kann. „Man geht davon aus, dass sie sich anhand von Oberflächenproteinen erkennen und nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip verschalten." Das sei aber ein noch weitgehend ungeklärtes entwicklungsbiologisches Thema innerhalb der Neurowissenschaften.

Es zeigt sich: Unsere Nervenzellen sind Meister der Kommunikation und dazu regelrechte Multi-Tasker: Inmitten einer Informationsflut, die mittels tausender hemmender und erregender Synapsen innerhalb von Millisekunden auf sie einströmt, bewahren sie den Überblick und leiten die integrierten Impulse über große Netzwerke weiter - immer in Teamarbeit mit anderen Zellen. Eine Leistung, die uns selbst in der zwischenmenschlichen Kommunikation oft misslingt. Doch sowohl zwischen Menschen wie zwischen Zellen gilt: Übung macht den Meister: Wenn sich die synaptische Übertragungsleistung durch Erfahrung und Lernprozesse steigern kann, dann besteht auch noch Hoffnung für den Plausch mit Mama oder Chef.








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