Rahmatullah Hayat, 19, schreibt kein Tagebuch und auch keine Songtexte. Er schreibt experimentelle Gedichte- nun liest er beim großen Tag der jungen Literatur
Manche Jugendliche schreiben
Tagebuch, andere Songtexte oder Kurzgeschichten. Rahmatullah Hayat
nicht. Rahmatullah, 19, schreibt experimentelle Gedichte und kompakte
Prosastücke – niemals länger als zwei Seiten, dafür reich an
Stilmitteln. Damit angefangen hat er erst vor zwei Jahren, doch obwohl
er sich gewählt ausdrückt und mit seinem schwarzen Mantel etwas älter
scheint als 19, wirkt er gar nicht abgehoben.
Rahmatullah ist in
Pfaffenhofen aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Afghanistan. „Sie
haben sehr viel Wert auf meine Bildung gelegt. Da viele Verwandte meiner
Mutter in München leben, war ich auch schon als Kind oft dort“, erzählt
Rahmatullah. Er habe in seiner Kleinstadt zwar sämtliche Sportarten
ausprobiert, sei aber eben lieber ins Theater gegangen – womit er eher
alleine dastand in seiner Klasse: „Einmal hat sogar jemand zu mir
gesagt, dass ich als Realschüler doch zu dumm sei, um ,wirklich‘
schreiben zu können“, sagt er.
Als er vor zwei Jahren auf das
Nymphenburger Gymnasium in München wechselte, traf er endlich
Jugendliche, die „ein größeres Angebot an kulturellen Aktivitäten
genießen durften“. Junge Menschen, die seine Interessen teilten. Zudem
hatte er in der neuen Oberstufe einen sehr guten Deutschlehrer, der es
verstand, die jungen Menschen für Literatur zu begeistern. Als
Rahmatullah Sigmund Freuds Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren“
las, wollte er selbst versuchen, Fantasiewelten in Worte zu fassen:
Inspiriert von einem im Internet kursierenden Video über die Steinigung
einer afghanischen Frau, schrieb er sein erstes Gedicht: „Jubel“. Er
zeigte es niemandem, sondern schickte es ohne große Erwartungen 2015 zum
Bundeswettbewerb Treffen junger Autoren ein. Er wurde Preisträger.
„Jubel“ ist gesellschaftskritisch. Es geht um die Unterdrückung der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft. Doch mittlerweile sei er von politischen Themen abgekommen, sagt Rahmatullah. Ihn interessiere besonders die Psyche. Und er suche nach immer neuen Möglichkeiten, um diese komplexe Welt zu beschreiben. „Ich blättere gern in etymologischen Wörterbüchern, schließlich ist die deutsche Sprache so reich und wir sollten dieses Werkzeug beim Schreiben viel mehr nutzen“, sagt er. Manchmal kreiert er selbst neue Wörter, indem er sie orthografisch bewusst falsch schreibt, Worte aus anderen Sprachen eindeutscht oder lautmalerisch einen Klang übernimmt.
Ob die Leute so etwas
verstehen? Für ihn selbst ergebe alles einen Sinn, sagt Rahmatullah,
doch seiner Meinung nach müsse Lyrik gar nicht immer verstanden werden:
„Ich zwinge meine Leser dazu, die Suche nach dem Sinn abzulegen.“ Auch
seine Prosatexte sind sehr handlungsarm. Er beschreibt darin kleine
Vorgänge wie das Herunterdrücken einer Klinke minutiös und mehrere Sätze
lang.
Bisher ist er mit seinen Texten meist auf positive Kritik
gestoßen, auch bei Freunden und Familie. Trotzdem zeige er ihnen seine
Werke nicht oft, denn er habe immer das Gefühl, dass sie noch
unvollendet seien. Manchmal ändere er einen Text noch, nachdem er ihn
bereits bei einer Lesung vorgetragen habe.
Er hat Abitur gemacht,
im Mai stehen noch die letzten Prüfungen für sein „International
Baccalaureat Diploma“ an. Und danach? Rahmatullah will unbedingt
studieren, vielleicht Psychologie oder gar Psychiatrie – auf keinen Fall
aber Germanistik. Er hat auch keine literarischen Vorbilder, sondern
holt sich seine Inspirationen eher aus anderen Kunstbereichen:
Rahmatullah geht gern in die Pinakotheken, wo er beim Projekt
„Pi.lot-Sonntag“ einmal monatlich den Besuchern ein Kunstwerk
nahebringt. Auch Musik beeinflusst ihn sehr beim Schreiben – er liebt
die Texte und Rhythmen der britischen Rapperin Kate Tempest, auf deren
Konzert in München er letztens war.
Und warum immer die kurzen Stücke? „Ich habe nicht genug Geduld für lange Romane. Und wenn ich alltagstaugliche, belletristische Texte verfassen würde, wären die sogar mir selbst zu kitschig.“ Seit seine beste Freundin Regie studieren will, interessiert er sich aber zunehmend für Filme und überlegt, ein Drehbuch oder ein Drama zu schreiben. Er hat auch schon einmal einen Blog geführt, auf dem er seine Gedichte regelmäßig veröffentlichte. Dabei habe er aber gemerkt, dass er nicht unter Zeitdruck publizieren wolle – ihm sei es wichtig, Texte eine Zeit lang ruhen zu lassen und dann mit neuen Ideen zu überarbeiten.
Trotz seiner afghanischen Wurzeln fühlt er sich nicht direkt von der Flüchtlingsthematik betroffen, weil er in Pfaffenhofen mit der deutschen Gesellschaft aufgewachsen ist. Dennoch fährt er bald zu einem Kick-Off-Treffen für den Blog „Stimme junger Migranten“, ein Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung, für das eine Redaktion gesucht wird. „Ich glaube zwar, Journalismus ist auch nichts für mich, aber meine Mutter würde sich freuen. Ihr Wunsch ist es, dass meine Schwester und ich Journalisten oder Apotheker werden, wie unser Opa“, erzählt Rahmatullah.
Am Samstag, 28. Januar, wird er beim großen Tag der jungen Literatur lesen – was, das weiß er allerdings noch nicht. Was er sich für die Literaturszene wünsche? „Dass die Möglichkeiten von Social Media auch für Literatur mehr genutzt werden und sie dadurch zugänglicher gemacht wird. Es gibt zwar so genannte BookTuber, die sich vor allem mit Belletristik befassen, aber kaum etwas für Lyrik“, sagt Rahmatullah. Und er wünscht sich natürlich, dass bereits der Deutschunterricht mehr Lust auf Literatur mache – so wie bei ihm.
Text: Anna-Elena Knerich
Foto: Alexandra Baumann
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