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Zivile Helfer unerwünscht

Muslime beim Freitagsgebet in der Region Kaschmir, deren Sonderstatus Indiens Premierminister Modi 2019 aufhob. (Foto: Aijaz Rahi/picture alliance/AP Photo)

Auf dem Weg zur globalen Wirtschafts­macht beschneidet die indische Regierung die Rechte von kritischen Nichtregierungsorganisationen – und beschädigt damit die Demokratie des Vielvölkerstaates.


Der Zeitpunkt hätte ungünstiger nicht sein können: Als Indien im Herbst 2020 aufgrund der Corona-Pandemie geradewegs auf eine humanitäre Krise zusteuerte, fror die Regierung unter Premierminister ­Narendra ­Modi die Konten von Amnesty International India ein. Die Büros der Menschenrechtsorganisation in Bangalore und Neu-Delhi mussten schließen, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden zwangsentlassen. Als die zweite Corona-Welle den Subkontinent wenige Monate später wie ein Tsunami traf und täglich Tausende Menschen an den Folgen von Covid-19 starben, spürte man die fatalen Folgen der Regierungsentscheidung: Die geschasste Nichtregierungsorganisation (NGO) konnte die Bevölkerung weder mit finanziellen Hilfen noch mit Sachspenden wie dem dringend benötigten medizinischen Sauerstoff unterstützen.

„Die Behinderung unserer Arbeit während der Pandemie kostete Menschenleben“, sagt ­Aakar ­Patel im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Wie der ehemalige Leiter der indischen Amnesty-­Sektion kritisiert, habe es sich bei der Maßnahme der Modi-­Regierung um einen „gezielten Vergeltungsschlag“ gegen die NGO gehandelt. Der vermutete Grund: die international viel beachteten Berichte der Menschenrechtler über staatliche Repressionen gegen muslimische Minderheiten im indischen Teil von Kaschmir sowie bei Protesten in Neu-Delhi im Februar 2020. Die Behörde für Finanzdelikte behauptet hingegen, Amnesty International India habe illegal Gelder aus dem Ausland angenommen und damit gegen die Finanzierungsrichtlinien für NGOs verstoßen. „Es ist eine Tatsache, dass die Regierung kritische Stimmen aus der Zivilbevölkerung unterdrückt“, betont ­Patel. Dabei kämen in dem bevölkerungsreichsten demokratischen Staat der Welt Methoden zum Einsatz, die man für gewöhnlich nur von Autokratien oder Diktaturen kenne.

Bereits 2018 waren die Konten von Amnesty International India eingefroren und die Büros bei einer zehnstündigen Razzia durchsucht worden. Auch damals hieß es, die NGO habe gegen den Foreign Contribution Regulation Act verstoßen - ein Gesetz aus dem Jahr 2010, das Finanzströme aus dem Ausland reguliert. Laut der Behörde für Finanzdelikte soll das Gesetz für Transparenz sorgen und seriöse von unseriösen NGOs unterscheiden helfen. Kritiker entgegnen, Premierminister ­Narendra ­Modi nutze die Regularie, um unbequeme Stimmen vom öffentlichen Diskurs auszuschließen. Seit dessen Amtsantritt im Jahr 2014 entzog die Regierung rund 17.000 NGOs die offizielle Registrierung und fror in vielen Fällen die Konten ein. Davon betroffen waren unter anderem die Umweltorganisation Greenpeace und die indische Menschenrechtsorganisation People's Watch.

„Seit ungefähr 15 Jahren beobachten wir, dass Staaten verstärkt zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume einschränken", warnt die Konfliktforscherin ­Annika ­Elena ­Poppe in der ARTE-Dokumentation „Im Fadenkreuz der Machthaber: Angriff auf die Zivilgesellschaft". Das Phänomen betreffe nicht mehr nur antidemokratisch geführte Länder, sondern auch immer häufiger demokratisch legitimierte Regierungen.

Indien, der Vielvölkerstaat mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern, galt lange Zeit als Vorbild in Sachen Demokratie und Pluralismus. Modi und seine hindu-­nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) - die sogenannte Indische Volkspartei - hatten mehr Fortschritt versprochen und Indiens Wirtschaftswachstum tatsächlich angekurbelt. Zudem gilt Modi als Vordenker der sogenannten Indo-Pazifik-Strategie, einer Allianz von demokratischen Staaten, die dem Expansionsstreben der Volksrepublik China entgegenwirken soll. Der Regierungsstil von Modis BJP wird jedoch nicht nur von der Opposition, sondern auch in Europa und den USA zunehmend als antipluralistisch und autoritär empfunden. Im Demokratie-Index der britischen Wochenzeitung The Economist fiel das Land von Platz 27 im Jahr 2014 auf Platz 53 im Jahr 2020. Begründung: die „harten Einschnitte bürgerlicher Freiheiten" durch die Behörden.

Druck auf Regierungskritiker Regierungsnahe Medien bezeichnen kritische Stimmen der Zivilgesellschaft derweil immer öfter als „anti-­indisch". Unter Berufung auf die Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1947 ließ der Nachrichtensender Zee News verkünden, Indien dulde keine „ideologische Unterwanderung von außen" - auch nicht in Gestalt von Amnesty International, deren Hauptsitz sich in England befindet. Die Organisation verkenne die Mehrheitsmeinung der Hindu-Bevölkerung und diffamiere das Land auf internationaler Bühne.

Eine Sichtweise, für die Menschenrechtsaktivist ­Aakar ­Patel kein Verständnis hat. Meinungsfreiheit und die NGOs betreffende Vereinigungsfreiheit seien wichtige Säulen der 1950 in Kraft getretenen säkularen Verfassung Indiens, ebenso die Gleichheit der religiösen Gruppen. „Anti-­indisch" seien daher nicht der Einsatz für diese Werte, sondern die Repressionen der Regierung gegen die Zivilgesellschaft.

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