Der Moskauer Oppositionelle Alexei Nawalny will die russische Provinz erobern und eckt überall an. Am Montag ist er nach Demonstrationen gar zu 15 Tagen Arrest und einer Geldbusse verurteilt worden.
Die Strasse des Friedens in Wolgograd ist wegen Alexei Nawalny gesperrt. Lastwagen stehen quer, und Polizisten halten Wache. Eine ehemalige Modeboutique in einem Wohnhaus aus Stalins Zeiten ist über Nacht zu einer politischen Adresse in der Millionenstadt geworden. Nawalny, der Moskauer Oppositionelle, der Präsident Wladimir Putin ablösen will, eröffnet hier an diesem Freitagnachmittag sein Wahlkampfbüro. Vor der Tür haben sich drei Dutzend Demonstranten versammelt, von denen einige Kosaken-Uniformen tragen. "Schande!", skandieren sie, und "Hau ab!". Etwas abseits stehen nervöse junge Leute in Turnschuhen und Kapuzenjacken. Sie diskutieren leise darüber, ob es wirklich eine gute Idee war, hierherzukommen, um den Regierungskritiker zu unterstützen.
Unter den Schreihälsen, die den Zugang zum Wahlkampfbüro blockieren, befindet sich der City-Manager von Wolgograd. Ein Berater des Gouverneurs hält ein Megafon. Kurz darauf tritt Nawalny selbst vor die Tür, gross und blond, akkurat gekleidet mit Sakko und Krawatte. Er will zu den Protestierenden sprechen und bittet vergeblich um das Megafon. Stattdessen zerrt plötzlich jemand am Oppositionellen. Dessen Bodyguard und andere versuchen, die Angreifer zurückzustossen. Nawalnys Kopf taucht in der Menge unter. Von hinten eilen Polizisten heran und bringen die Störenfriede fort. Es sei die bisher angespannteste Wahlkampfbüro-Eröffnung gewesen, die Nawalny in der Provinz erlebt habe, wird jemand aus dessen Team später resümieren.
Schon im Dezember hatte Nawalny, der Jurist, Korruptionsbekämpfer und populärste Putin-Gegner, mitgeteilt, bei der Präsidentenwahl im März 2018 kandidieren zu wollen. Wenig später bestätigte ein Gericht die umstrittene Verurteilung des Oppositionellen wegen angeblicher Unterschlagung von Holz. Damit könnte der Kreml seine Kandidatur mithilfe juristischer Vorwände jederzeit verhindern, glauben Beobachter. Aber Nawalny stürzte sich - als einziger Kandidat - in den Wahlkampf, als gäbe es kein Morgen. Er will 77 Büros im ganzen Land eröffnen. Die ersten 11 sind geschafft, in Moskau und Sankt Petersburg, in Sibirien, am Ural, an der Wolga. Rund 17 000 Spender haben laut Angaben Nawalnys umgerechnet 450 000 Franken zum Wahlkampf beigesteuert. Mehr als 56 000 Freiwillige haben sich als Wahlkampfhelfer registrieren lassen.
Der Aktivist Nawalny ist ein Hauptstadtgewächs. Er wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in der Moskauer Vorstadt und kandidierte 2013 für das Amt des Bürgermeisters. Mit 27 Prozent der Stimmen landete er hinter dem Putin-Kandidaten Sergei Sobjanin auf dem zweiten Platz, der bisher grösste politische Erfolg des Oppositionellen. Doch in der Provinz kennen den 40-Jährigen weniger Leute. Eine unabhängige Umfrage ergab kürzlich, dass die Hälfte der Russen nicht weiss, wer Nawalny ist. Von den übrigen kennen ihn viele durch die Verleumdungskampagnen des Staatsfernsehens. Deshalb tingelt der Politiker nun persönlich durch das Land.
In der Wolgograder Boutique begrüsst Nawalny alle 400 Unterstützer und Neugierigen mit Handschlag. Die meisten sind Studenten, ein paar Schüler, Berufstätige und Rentner sind ebenfalls gekommen. Es passen nicht alle gleichzeitig in den kleinen Verkaufsraum, Nawalny wird seine Fragestunde in zwei Runden abhalten müssen. Doch die Leute warten geduldig auf der Strasse und begrüssen den Präsidentschaftskandidaten mit lautem Applaus.
Wolgograd hat nicht viel Erfahrung mit politischen Protesten, noch weniger als andere Millionenstädte. Am häufigsten gehen hier die Kommunisten auf die Strasse und beschweren sich über die ständig steigenden Preise oder die Schliessung der alten Schwerindustriebetriebe. An der Universität gibt es vor allem patriotische Jugendklubs. Ein ortsansässiger Koordinator für das Nawalny-Büro fand sich nicht und musste aus Sankt Petersburg importiert werden.
Der junge Mann heisst wie sein Chef Alexei und arbeitet für den Fahrdienstanbieter Uber, wenn er nicht Politik macht. Drei Wochen lang erhielt er von diversen Vermietern Absagen. Erst in letzter Minute fand sich das Ladenlokal als Büro. Jenseits des Ural-Gebirges wurden die Autos von Nawalnys Mitarbeitern mit Farbe beschmiert. In Petersburg wurde das Büro angezündet. Nawalny selbst wurde unlängst mit einem grünen Desinfektionsmittel attackiert, das sein Gesicht einfärbte. Hat sein Mitarbeiter in Wolgograd keine Angst? Der winkt ab. Er habe ein Mittel besorgt, mit dem man die Farbe gut abwischen könne.
Wolgograd, 1000 Kilometer südöstlich der Hauptstadt, ging unter dem Namen Stalingrad in die Geschichte Europas ein. Hier besiegte die Rote Armee unter riesigen Verlusten die Truppen Hitlers. Nach dem Krieg blieb nicht viel übrig von der Stadt. Ihr heutiges Gesicht, grau und protzig, geben ihr die Stalin-Bauten der fünfziger Jahre. Wolgograd ist die ärmste Millionenstadt Russlands. Call-Center siedeln sich hier an, weil die Löhne so niedrig sind. Oleg Dimitriew, der Parteisekretär der Kommunisten, klagt über Wahlfälschungen und Unterdrückung der Opposition. Von der Fussball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr verspricht er sich nichts ausser der neuen Strasse zum neuen Flughafen und das Stadion vor der Stadt. Wolgograd sei depressiv, sagt Dimitriew. Aber Revolutionsgeist, nein, den spüre er nicht.
"Wir haben hier in Wolgograd seit dem Sieg über die Deutschen nichts mehr gehabt, worauf wir stolz sein könnten", sagt ein junger Mann bei Nawalnys Fragestunde. Andere russische Städte hätten auch nichts, tröstet Nawalny. Warum das so sei, fragt er seine Unterstützer. "Wir sind doch nicht schlechter als andere Völker. Wir verdienen immer noch viel Geld mit Öl und Gas. Wir haben immer noch ein hohes Bildungsniveau." "Warum sind die Löhne und Renten dann trotzdem so niedrig, dass viele kaum davon leben können?" "Wo ist das Geld?" So geht Nawalnys Monolog.
Den Kern seines politischen Programms bilden die Bekämpfung der Korruption und die Erhöhung des Lohn- und Rentenniveaus. Er fordert weniger Macht für den Präsidenten und mehr Macht für das Parlament, die Regierung und die Regionen. Mehr Geld für Bildung und weniger für das Militär. Vor allem aber verspricht er, ein ehrlicher Präsident zu sein. Was mit Putin und den anderen korrupten Vertretern der heutigen Elite passiere, wenn Nawalny Präsident werde, wollen die Leute wissen. Er bekommt eine Garantie für seine persönliche Sicherheit und einen fairen Prozess. Was für ein Verhältnis zur Ukraine will er haben? Was wird er für Frauenrechte tun? Nawalny ist schlagfertig und witzig. Er bleibt keine Antwort schuldig, auch wenn manche Fragesteller nicht ganz zufrieden sind mit dem, was sie hören. Die Krim etwa will er nicht zurückgeben.
Die Nawalny-Freunde stehen an diesem Abend noch lange auf der Strasse, erzählen sich gegenseitig, wie grossartig der Kerl sei, und diskutieren weiter. Es sind vor allem junge Männer, nur wenige Frauen. Vielleicht liegt es daran, dass Veranstaltungen mit dem Regimegegner oft mit Rempeleien und Verhaftungen einhergehen. Man braucht eine gewisse Abenteuerlust und Risikobereitschaft. Nawalny ruft seine Leute nicht zu einer blutigen Revolution auf. Er will eine Wahl gewinnen und braucht dazu als unabhängiger Kandidat erst einmal 300 000 Unterschriften von Sympathisanten und dann sehr viele Stimmen und Wahlbeobachter, die dafür sorgen, dass diese Stimmen auch nicht gestohlen werden. Doch er ruft seine Anhänger auf, keine Angst zu haben, auch nicht vor einer Verhaftung.
Die Eröffnung des 13. Wahlkampfstabes in Saratow, einer ebenfalls recht armen, 800 000 Einwohner zählenden Stadt 400 Kilometer die Wolga hinauf, läuft tags darauf erholsam friedlich ab. Nawalnys Bodyguard tauscht Handynummern mit dem Polizeikommandanten. Rund 500 Zuschauer werden gefilzt und kommen geordnet in dem gemieteten Saal an, in dem Nawalny auftritt und fast genau dieselben Fragen gestellt bekommt wie in Wolgograd.
Hinterher stehen zwei befreundete Juristen in den späten Zwanzigern vor der Tür, rauchen und tauschen düstere Gedanken aus. Es brauchte zwanzig Politiker wie Nawalny, nicht nur einen, sagen sie. "Ich hätte ihn gerne gefragt, was passiert, wenn man ihn morgen umbringt." Von den jungen Leuten, die an diesem Tag gekommen seien, um Nawalny zu helfen, würden 70 Prozent sofort auswandern, wenn sie könnten, schätzt der eine. Doch sein Zynismus ist verflogen, als der junge Mann am Sonntag den grössten Strassenprotest in seiner Heimatstadt erlebt, an den er sich erinnern kann. Bis zu 4000 Demonstranten folgen in Saratow Nawalnys Aufruf, gegen Korruption zu protestieren. Sie marschieren fröhlich und von der Polizei unbehelligt über die Boulevards, während ihr Idol in Moskau verhaftet wird. "Russland wird frei sein", rufen sie. In Wolgograd werden 30 von 800 Demonstranten verhaftet. Es ist trotzdem der grösste Protest seit vielen Jahren.