Mehr als drei Jahre nach dem Umbruch ist die Schonzeit für den ukrainischen Präsidenten vorbei. Wenn Poroschenko jetzt nicht beherzt reformiert, bleibt das Land stecken in seinem Sumpf aus Korruption und alten Seilschaften.
Zumindest ist Petro Poroschenko nicht entgangen, wie sein Volk fühlt. "Das mangelnde Vertrauen in die Institutionen, sowohl die alten als auch die neuen, in die regierenden Politiker und die Opposition wächst an zu einer tiefen Niedergeschlagenheit, Apathie und Depression." So beschrieb der ukrainische Präsident kürzlich vor dem Parlament das allgemeine Befinden im dritten Jahr nach der Revolution, die das Land doch eigentlich vom Filz der alten Seilschaften hätte befreien und in eine glückliche, europäische Zukunft katapultieren sollen.
Man müsse schnell einen zweiten Anlauf nehmen im Kampf gegen die Korruption, sagte Poroschenko. Man müsse die Grundlage beseitigen für jegliches Gerede über ein "angebliches Zurückrollen der Reformen und den Beginn einer Konterrevolution". Es klang, als spreche ein weises Staatsoberhaupt, das mit den Regierungsgeschäften selbst nichts zu tun hat. Doch der Präsident der Ukraine trifft Entscheidungen. Nicht nur die störrischen Abgeordneten, er selbst verschleppt überfällige Reformen und duldet, dass Oligarchen, alte Geschäftspartner und Verbündete wie eh und je hinter den Kulissen die Strippen ziehen.
Zu den ersten Opfern der in Kiew immer häufiger beklagten "Konterrevolution" gehörten - wenig überraschend - jene Ukrainer, die sich tatsächlich für die Bekämpfung von Korruption einsetzen.
Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen (NGO) werden bedrängt und verleumdet, Journalisten, die eigene Korruptionsermittlungen führen, berichten von Überwachung. Im Frühjahr unterschrieb der Präsident ein Antikorruptionsgesetz, das neben den Staatsbeamten nun auch Vertreter von NGO zwingt, Einkünfte und Vermögen offenzulegen. Diejenigen, die Transparenz einforderten, sollten sich auch selbst daran halten, hiess es. Da die NGO sich ohnehin gegenüber Öffentlichkeit und Gebern für den Einsatz ihrer Mittel rechtfertigen, schien die Massnahme vor allem der persönlichen Einschüchterung zu dienen. Gleichzeitig wurden Militärs von der mittleren Ebene an abwärts von dieser Pflicht befreit.
Diffamierung von Aktivisten
Eine besonders auffällige Diffamierungskampagne traf das Kiewer Antikorruptions-Aktionszentrum, das die Mitarbeiter des Geheimdienstes SBU dazu aufgefordert hatte, ihre nur begrenzt zugänglichen Vermögenserklärungen öffentlich zu machen. Ein Abgeordneter beschuldigte daraufhin diese NGO, amerikanische Gelder unterschlagen zu haben. Die Steuerpolizei ermittelte. In den Medien tauchten Verleumdungsberichte über die sogenannten "Grantojedy" auf, die "Fresser von Stipendien". Ähnlich werden NGO, die Geld aus dem Ausland erhalten, auch in Russland diffamiert.
Es ist nicht so, als hätte die Ukraine nichts unternommen, um dem Grundübel der Korruption entgegenzutreten. Auf Drängen der Reformkräfte im Land - mit Unterstützung der EU und des Internationalen Währungsfonds (IMF) - war die Offenlegung der Beamtenvermögen eingeführt worden. Auf Wunsch des IMF wurde das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) gegründet. Gemeinsam mit dem ebenfalls neu geschaffenen Antikorruptions-Staatsanwalt kann das Nabu viele Fälle anpacken - wenn man es lässt. "Je tiefer wir forschen, desto grösser ist der Widerstand", klagt jedoch der 38-jährige Leiter des Nabu, Artjom Sytnik.
Trotzdem hat sein Büro in diesem Jahr einige aufsehenerregende Anklagen vorbereitet: im Frühjahr gegen Roman Nasirow, den Leiter der staatlichen Steuerbehörde, der kriminelle Machenschaften gedeckt haben soll, und gegen den einflussreichen früheren Abgeordneten Mykola Martynenko, der 17 Millionen Dollar unterschlagen haben soll. In diesem Herbst hat das Nabu zwei hohe Funktionäre des Verteidigungsministeriums wegen Unterschlagung angeklagt.
Unlängst wurde der Sohn des Innenministers festgenommen, weil er angeblich am Verkauf überteuerter Rucksäcke an die Armee beteiligt war. Sein Vater versprach prompt, den "jungen Antikorruptionsorganen" auf die Finger zu schauen, die sich seiner Ansicht nach in die Politik einmischen. In der Ukraine unterliegen ungewöhnlich viele Geschäfte im Verteidigungssektor der Geheimhaltung. Ein Gesetz, das dies hätte ändern sollen, stoppte Poroschenko persönlich.
Die Anklagen des Nabu sollten nicht zu vorzeitigem Optimismus verleiten. Ohne ein unabhängiges Gericht, das auf Korruption spezialisiert ist, wird die Arbeit der Ermittler vermutlich ins Leere laufen. An normalen Gerichten, das hat die Erfahrung der vergangenen Jahre gezeigt, werden die Prozesse verschleppt und kommen möglicherweise nie zu einem Abschluss. Trotzdem ziert sich Poroschenko, das vorgesehene Antikorruptionsgericht zu schaffen, das eigentlich bis Ende dieses Jahres seine Arbeit aufnehmen sollte.
Eine auf Korruption spezialisierte Kammer am Obersten Gerichtshof reiche doch aus, behauptete der Präsident kürzlich. Zudem könne man diese schneller einrichten. Weil der IMF diesen Vorschlag ablehnte, bietet Poroschenko mittlerweile notgedrungen eine Doppellösung an: Zuerst soll die Kammer eingerichtet werden, später das unabhängige Gericht. Dies wird sicherlich nicht mehr vor der Präsidentenwahl von 2019 klappen. Solange er die korrupten Eliten nicht aufschreckt, kann Poroschenko auf ihre Unterstützung für seine Wiederwahl hoffen.
In dieses Kalkül fügt sich die neue Justizreform ein, die den Zeitrahmen für Ermittlungen von bis zu fünfzehn Jahren auf sechs Monate verkürzt. Für diejenigen alten Kader, die sich unter dem Regime des früheren Präsidenten Wiktor Janukowitsch schuldig gemacht haben und deren Verfahren sich schon jahrelang hinziehen, dürfte dies de facto ein Freispruch sein. Sicher nicht zufällig hatten Abgeordnete des Oppositionsblocks, eines Auffangbeckens für frühere Janukowitsch-Unterstützer, für diese Reform gestimmt. Ein Gesetzentwurf zur Aufhebung der Immunität der Abgeordneten wurde vom Parlament gleichzeitig an das Verfassungsgericht weitergeleitet. Er dürfte damit für Jahre vom Tisch sein, fürchten viele in Kiew.
Die Kritik an Poroschenko ist nicht erst in diesem Jahr laut geworden. Spätestens als Anfang 2016 der aus Litauen stammende Wirtschaftsminister Aivaras Abromavicius unter Protest abdankte, weil ein Vertrauter und ehemaliger Geschäftspartner des Präsidenten sich in seine Amtsführung eingemischt haben soll, fragte man sich, wie ernst es der Präsident mit seinen Reformversprechen meint. Abromavicius hatte zuvor ein neues, transparentes System zur Vergabe von Staatsaufträgen eingeführt. Auch mehrere andere, aus Georgien stammende Mitglieder der neuen Regierung suchten rasch das Weite. Anstatt die Herrschaft der Klans abzuschaffen, habe Poroschenko seinen eigenen Klan gegründet, klagen seine Kritiker.
Als sich Poroschenko im Dezember 2013 als erster Oligarch auf die Seite der Revolutionäre schlug, buhten ihn die Demonstrierenden auf dem Maidan zunächst aus. Ein steinreicher Schokoladenfabrikant und früherer Minister präsentierte sich auf einmal als Wortführer einer Bewegung gegen Korruption. Nicht wenige fürchteten, dass sich da ein Bock um die Stelle des Gärtners bewarb. Doch langsam gewann Poroschenko ein gewisses Mass an Vertrauen. Immerhin hatte er sich schon zwei Jahre zuvor von Janukowitsch abgewendet und galt als weit weniger belastet als andere Oligarchen.
Ende der GeduldDie westlichen Unterstützer einer unabhängigen Ukraine zeigten lange Geduld mit dem eloquenten Geschäftsmann. Schliesslich hatte man ihn mit dem Krieg gegen die von Russland unterstützten Separatisten alleingelassen. Nun konnte man nicht auch noch überzogene Forderungen stellen. Ein über Jahrzehnte gewachsener Sumpf lässt sich nicht von heute auf morgen austrocknen, selbst wenn der Wille dazu vorhanden ist.
Jüngst sind die Reden westlicher Politiker in Kiew jedoch schärfer geworden. Den aufmunternden Worten folgen zunehmend eindringliche Aufforderungen, auf den Reformweg zurückzukehren. Der IMF hat schon mehrfach mit Erfolg Kredittranchen für die Ukraine zurückgehalten, um wichtige Reformen zu erzwingen, wie im Oktober eine Renten- und Gesundheitsreform. Doch andere Schlüsselforderungen wie die nach dem Antikorruptionsgericht verzögert die Ukraine trotz den Mahnungen des IMF. Dessen Vertreter sprechen nun von der "akuten Gefahr" einer Rückwärtsbewegung.
Ironischerweise könnte sich für die Ukraine ausgerechnet die langsam einsetzende wirtschaftliche Erholung als gefährlich erweisen. Wenn Kiew auf internationalen Märkten Geld leihen kann, braucht es sich um die Forderungen des IMF in Zukunft nicht mehr zu scheren. Die Europäische Union hat mit der Einführung des visafreien Reisens für Ukrainer ihr wirksamstes Lockmittel in diesem Jahr aus der Hand gegeben.
Nun liegt es auch wieder an den Ukrainern selbst, von ihrer Regierung einzufordern, was sie nach der Revolution versprochen hat. Noch zeichnet sich keine neue Protestbewegung ab, die Poroschenko gefährlich werden könnte. Gerade einmal 5000 Demonstranten versammelten sich im Oktober vor dem Parlament, auf dem Höhepunkt des Maidan waren es mehr als 200 000 gewesen. Es wäre fatal, wenn die Aufbruchstimmung der vergangenen Jahre endgültig umschlagen würde in die von Poroschenko beschriebene Niedergeschlagenheit, Apathie und Depression.