Corona stellt wohnungslose Menschen und ihre Helfer vor große Herausforderungen, weil viele Initiativen ihre Angebote einschränken mussten. Auch Max Bryan unterstützt in seinen Projekten Hamburger Obdachlose. Der 45-Jährige weiß, wovon er spricht, schließlich lebte er selbst auf der Straße
Der Andrang ist groß. Hamburger Obdachlose stehen in zwei Reihen vor den Tapeziertischen mit Lebensmitteln und müssen wegen der Abstandsregeln immer wieder auseinandergescheucht werden. Dahinter packen die Helfer zweier Organisationen die Snack-Tüten voll und geben sie den Bedürftigen. An einige Tüten ist ein 20-Euro-Schein geheftet. „Damit können sich die Obdachlosen noch etwas weiterversorgen, wenn alles aufgegessen ist“, erklärt Max Bryan (45). „Sie sind auf Spenden angewiesen und in schweren Zeiten die ersten, die vergessen werden.“ Seit über einem Jahr steht der Blogger samstags inmitten der Helfer am Hamburger Hauptbahnhof und verteilt Essen, Hygieneprodukte und warme Kleidung an die Ärmsten.
Diesmal ist Schauspielerin Yasmina Filali (45) mit von der Partie. Max freut sich sehr, wenn auch Vertreter ihrer Zunft mal mitmachen. Die beiden sind schon eine Weile über Facebook befreundet. Kamerateams, Radioleute und Fotografen umringen die attraktive Mimin denn auch sogleich. Yasmina Filali hatte auch in ihrem Bekanntenkreis zu Spenden aufgerufen. „Sogar mein Käsemann vom Wochenmarkt hat Klamotten vorbeigebracht“, sagt sie.
Der Medienrummel ist Max Bryan nur Recht. Er arbeitet auch als Kameramann und kennt das Geschäft.
Der Blogger war selbst zwei Jahre obdachlos
Fünf Stationen werden von seiner Bürgerinitiative „Hilfe für Hamburger Obdachlose“ angefahren: Neben dem Hauptbahnhof sind das die Bahnhofsmission, die Rote Flora im Schanzenviertel, die Reeperbahn, die St. Pauli Hafenstraße und die Kersten-Miles-Brücke. Das braucht es jede Menge Spenden, damit möglichst alle etwas abbekommen.
Wie es ist, auf der Straße zu leben, kennt Max Bryan nur zu gut: Er war selbst zwei Jahre obdachlos. Zuerst hatte er in seiner Heimatstadt Bad Nauheim Reiseverkehrskaufmann gelernt. Später ging er dann nach Hamburg. Dramatisch wurde es, als er im März 2010 wegen Eigenbedarf seine Wohnung verlor und danach keine bezahlbare neue fand.
„Ich weiß noch, dass ich zu Pfingsten 2010 mit meiner Isomatte am Michel stand und plötzlich zehn Euro in die Hand gedrückt bekam“, erinnert sich Max. „Ein unglaubliches Gefühl: Jemand trat auf mich zu und schenkte mir etwas, statt mich als Penner wegzujagen. Das werde ich nie vergessen! Wenn man gar kein Geld mehr hat, dann ist so ein Schein absolut wertvoll. Deshalb machen wir das mit den 20-Euro-Scheinen an den Snack-Tüten. Das sind wahre Glücksmomente, und Glück kann beflügeln. Die Obdachlosen sollen wieder an sich glauben. Viele haben sich nämlich aufgegeben, sich mit ihrem Leben auf der Straße arrangiert. Ihnen zu helfen ist mein Antrieb.“
Schlimm, wenn Dinge geklaut werden, die existenziell sind
Es gab aber auch schlimme Situationen: „Ich hatte 2010 meinen Schlafplatz an den Landungsbrücken, in der Nähe einer Fischbrötchenbude. Dort schlief ich auf einer Bank. Tagsüber war ich in der Uni und hab‘ von dort kostenlos im Internet gesurft und nach freien, bezahlbaren Wohnungen gesucht. Eines Morgens im Winter wachte ich auf und meine Schuhe waren weg! Ein absoluter Schock! „Dann kann man nur noch auf Strumpfsocken über den eisigen Asphalt in die Stadt laufen, in der Hoffnung, irgendwo neue Schuhe zu bekommen. Das ist das Schlimmste, wenn man auf der Straße lebt“, sagt er, „dass einem Dinge geklaut werden, die man dringend zum Leben braucht.“
An den Landungsbrücken passierte wenig später auch etwas Gutes, das Max‘ Leben in eine neue Richtung lenkte: Eines Tages joggte Vitali Klitschko an ihm vorbei. Als großer Fan nahm Max sofort die Verfolgung auf und bat um ein gemeinsames Foto. Der Boxer stimmte zu und sorgte so unbewusst dafür, dass Max Bryan zum Blogger wurde. „Ein Herz für Arme“ stand unter dem ersten Blogeintrag und dem gemeinsamen Foto.
Das Schreiben in den Sozialen Netzwerken war Max bis dahin fremd gewesen. „Ich hatte keine Vorstellung, was es bewirken würde. Ich wollte nur helfen, die Hemmschwelle und die Vorurteile über Obdachlose abzubauen. Allerdings gab es damals kaum Interesse für das Thema“, erinnert er sich.
„Ich wollte meinen alten Chef um Hilfe bitten“
Nach 18 Monaten ergebnisloser Wohnungssuche in Hamburg packte Max einige Habseligkeiten – darunter sein Handy und sein Laptop – zusammen, schwang sich aufs Fahrrad und radelte Richtung Süden. Sein Ziel: Außerhalb Hamburgs eine günstige Wohnung zu finden. Ein schwieriges Unterfangen. Wenn es tatsächlich mal günstigen Wohnraum gab, standen schon zehn Bewerber vor der Tür. Ohne geregeltes Einkommen und mit einem Bart von 60 cm Länge entsprach er so gar nicht dem Typ, den sich Vermieter wünschen.
Max Bryan hat auf seiner Reise gut gelernt, die Medien für seine Zwecke zu nutzen. „Im Internet kann man mit Fotos und Geschichten über Obdachlosigkeit viele Menschen direkt ansprechen“, hat er festgestellt. Tageszeitungen in Minden und Hameln berichteten über den radelnden Obdachlosen auf der Suche nach einer Bleibe.
Schließlich kam er in seiner Heimatstadt Bad Nauheim an. „Meine Idee war, meinen alten Chef um Hilfe zu bitten“, erinnert sich Max. Doch den Laden gab es nicht mehr. So suchte er sich einen Schlafplatz am Brunnen. Dort gab es keine Obdachlosen, nur Kurgäste. Neugierig sprach ihn eine ältere Dame an und bot ihm schließlich ihr Gästezimmer an. „Woanders ist mir das nie passiert“, berichtet Max. Sie war es auch, die ihm in Steinfurth einen Job auf dem Gartenhof Löw besorgte, bekannt für seine Rosenzüchtungen. Bis Dezember 2016 hat er auf dem Hof als Gärtner gearbeitet.
Sein Freund ernährte sich aus Mülleimern
Ein Notruf von Freunden ließ Max Bryan nach Hamburg zurückkehren, um seinem alten Kumpel Klaus zu helfen. Der ernährte sich nur noch aus Mülleimern. Klaus lebte seit 30 Jahren auf der Straße und wollte es auch nicht anders. Doch damals war der 63-Jährige mit den langen Dreadlocks am Ende. Nach Max‘ Aufruf bei Facebook spendeten viele Leute Geld. Über 5000 Euro kamen zusammen! „Mit so viel hatten wir gar nicht gerechnet. Wir haben dann für Klaus einen Wohncontainer besorgt“, sagt Max. Die Schwierigkeit war nur, einen Stellplatz dafür zu finden. „Ich habe 250 Kirchenpastoren angeschrieben. Es ging um 12 qm. Nur Absagen. Da bekam ich den Tipp, zu Strand Pauli am Hafen zu gehen. Mit Unterstützung von Hamburg Wasser hat es dann geklappt! Wir haben eine Stellfläche zur Verfügung bekommen mit Flächennutzungsvertrag. Klaus hat da den Winter verbracht.“
Bald darauf organisierte der umtriebige Max zwei weitere Wohncontainer für Obdachlose. Einen Polen namens Bolle brachte er in Eckernförde unter. Dort bekam dieser auch Sozialleistungen, was in Hamburg nicht gelang.
Im Januar 2020 hat die Initiative den obdachlosen Horst S. von der Straße geholt und ebenfalls im Container einquartiert, bis er eine Wohnung findet.
Die Initiative kümmert sich vor allem um ältere Obdachlose
Max‘ Gruppe „Hilfe für Hamburger Obdachlose“ ist ein Zusammenschluss engagierter Bürgerinnen und Bürger zur Unterstützung von Hamburger Obdachlosen. Die seit 2016 tätige Initiative sorgt vor allem für die Unterbringung obdachloser Menschen in einem nur aus Spenden finanzierten, ganztägigem Winternotprogramm. Ziel der Initiative ist die Schaffung von besonders niedrigschwelligen Angeboten zur Unterbringung von speziell älteren Hamburger Obdachlosen während der Wintermonate.
Von den rund 2000 Wohnungslosen in Hamburg stammen etwa zwei Drittel aus Osteuropa, ca. 25 Prozent sind Frauen. Acht Menschen sind in diesem Jahr auf der Straße verstorben. Seit Corona hat sich ihre Lage extrem verschlechtert. In den Wochen des Lockdowns wird Max zusammen mit seiner Kollegin Claudia die fünf Odachlosen-Stationen der Stadt mit dem Bulli anfahren und weiterhin seine Snack-Tüten sowie Kleidung unter besonderen Schutzvorkehrungen verteilen. Zwischendurch wird der Videojournalist weiter Geschichten produzieren, die Mut machen, weil „das Leben jedem eine Chance bietet, der an sein Glück glaubt.“
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