In Deutschland können 7,5 Millionen Menschen nur mit Mühe lesen und schreiben. Jeder siebte Erwachsene ist demnach funktionaler Analphabet. Eine Herausforderung, nicht nur für Betroffene. Aber eine, die sich meistern lässt.
„Füllen Sie mir das bitte schnell noch aus“, sagt die Zahnarzthelferin und reicht Arnold Reinhard (Name geänder) ein Klemmbrett. Darauf ein Zettel mit vielen Fragen zu seiner Gesundheit. Gerechnet hat Arnold Reinhard damit. Dennoch wird der 57-Jährige nervös. Sein Lächeln wirkt gequält, als er auf seinen Arm zeigt, der in einer Schlinge steckt: „Könnten Sie das Schreiben für mich übernehmen?“
Mit Reinhards Arm ist alles in Ordnung, die Schlinge eine Attrappe, die Verletzung nur simuliert. Echte Probleme hat er mit Lesen und Schreiben. Einen Fragebogen ausfüllen? E-Mails beantworten? Lesen, was auf seinem Display steht? Das schafft er oft auch mit viel Zeitaufwand nicht. Arnold Reinhard ist funktionaler Analphabet. Im Gegensatz zu Analphabeten, die keinerlei Lese und Schreibkenntnisse haben, kann Arnold Reinhard zwar einzelne Wörter und Sätze lesen und schreiben, aber nicht immer verstehen.
Warum er das nicht offen zugibt? „Man wird für dumm gehalten, wenn man nicht lesen und schreiben kann“, sagt der zweifache Familienvater. Darum meidet er möglichst solche Situationen und geht nur im Notfall zu Ärzten und Ämtern. Zu Hause übernimmt seine Frau für ihn den Schreibkram. Kollegen im Betrieb, in dem er als Schichtführer arbeitet, hält Arnold Reinhard „bewusst auf Sicherheitsabstand“. Er weiß aber von drei Mitarbeitern, die ebenfalls Probleme mit der Schriftsprache haben. Geoutet hat sich nur einer.
Jeder siebte Erwachsene in Deutschland ist funktionaler Analphabet, hat die Level-One Studie (kurz: leo.-Studie) der Universität Hamburg 2011 ans Licht gebracht. 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren können hierzulande zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, haben aber Probleme, zusammenhängende kürzere Texte zu verstehen. Damit ist die Zahl der Betroffenen fast doppelt so hoch, wie bis dahin von Experten angenommen.
Jeder zweite funktionale Analphabet hat Deutsch als Muttersprache, der Großteil einen Schulabschluss und mehr als die Hälfte einen Job. Dabei gibt es Branchen, in denen der Anteil funktionaler Analphabeten überdurchschnittlich hoch ist: Auf dem Bau kann jeder zweite Hilfsarbeiter nicht richtig lesen und schreiben; bei Köchen, Malern und Lkw-Fahrern ist es jeder vierte.
Wenn Mitarbeiter kaum in der Lage sind, schriftliche Arbeitsanweisungen im angemessenen Tempo zu verstehen, bleibt das nicht ohne finanzielle Folgen für das Unternehmen, weil Zusatzkosten entstehen und erhöhter Personalaufwand nötig wird. Und die Technik entwickelt sich weiter, die Anforderungen wachsen. Damit erwerbstätige Betroffene ihren Job behalten, sind für sie Qualifizierungsmaßnahmen am Arbeitsplatz existenziell.
Das ist auch Bund und Ländern bewusst. Als Reaktion auf die leo.-Studie haben sie die „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland" gestartet, um die Zahl der funktionalen Analphabeten zu verringern. Dazu wurde die bundesweite Kampagne „Lesen & Schreiben - mein Schlüssel zur Welt" ins Leben gerufen. Ein weiterer Förderschwerpunkt betrifft den beruflichen Kontext der Betroffenen. Um ihre Qualifikation am Arbeitsplatz zu verbessern, sind Unternehmen und Akteure dazu aufgerufen, Alphabetisierungs- und Grundbildungsangebote für ihre Mitarbeiter einzurichten und sie kompetent in ihrer Weiterbildung zu unterstützen.
Funktionaler Analphabetismus entsteht im Zusammenspiel von individuellen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren und hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Unter Minderwertigkeitskomplexen leiden dennoch viele Betroffene. „Das schlechte Selbstbild der Betroffenen ist die Folge der ständigen seelischen Verletzungen", erklärt Elfriede Haller vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V. Sie weiß auch, dass diese oft schon in jungen Jahren gemachten Erfahrungen häufig zu psychischen Problemen bei den Betroffenen führen. Seit fast 30 Jahren ist sie Dozentin für Muttersprachler an der VHS Ludwigshafen und unterrichtet funktionale Analphabeten. Manche Lernende können am Anfang nur einzelne Wörter lesen und wechseln nach einem halben Jahr bereits ins nächste Level. „Das sind Ausnahmen", betont Elfriede Haller. „Die deutsche Sprache lässt sich logisch nicht erschließen. Sie muss trainiert werden wie das Einmaleins." Das braucht Zeit. Und viel Geduld.
„Grundschüler haben 12.000 Stunden Deutschunterricht. Um dasselbe Level zu erreichen, brauche ich bei dem Tempo 24 Jahre", rechnet Arnold Reinhard vor. Weil er Schichtdienst hat, kann er nur alle zwei Wochen an seinem Kurs teilnehmen. Erschwerend hinzu kommen Kurskosten und Entfernung.
Dass Betroffene durch schriftliche Informationen kaum auf das Kursangebot aufmerksam werden, ist auch Elfriede Haller klar. Sie kennt die Schwierigkeiten und kämpft als Bundesvorsitzende für ein strukturiertes und flächendeckendes Angebot. „Die wenigsten funktionalen Analphabeten können sich vorstellen, dass es ein Angebot gibt, das auf sie zugeschnitten ist. Viele trauen sich auch nicht und haben Angst, Fehler zu machen." Immerhin haben im letzten Jahr 30.000 funktionale Analphabeten einen entsprechenden Kurs besucht.
Einfache Sprache für den EinstiegEine große Hilfe für den Einstieg ins Lesen und Schreiben bieten Texte in Einfacher Sprache. Sie sind so geschrieben, dass etwa 95 Prozent der Menschen in Deutschland sie lesen und verstehen können: Ein Satz hat in der Regel nicht mehr als 15 Wörter und höchstens ein Komma. Auf Fremdwörter wird, wo es geht, verzichtet, oder sie werden erklärt. Menschen mit Leseschwierigkeiten profitieren besonders von Einfacher Sprache.
Viel Zeit und Geld in private Nachhilfe hat auch Tim-Thilo Fellmer investiert, um als Erwachsener richtig lesen und schreiben zu lernen. Inzwischen ist der 47-Jährige Autor und Verleger und hat ein Kinderbuch über das Anderssein geschrieben: „Fuffi der Wusel". Sein Leseschreibniveau ist mittlerweile sehr hoch, schätzt Fellmer mit neuem Selbstbewusstsein. Um anderen Betroffenen Mut zu machen, ist er inzwischen als Botschafter und gefragter Referent europaweit zum Thema tätig. Dass er selbst funktionaler Analphabet war, daraus macht er kein Geheimnis mehr. „Und die Reaktionen sind zu 99,9 Prozent positiv."
(K)ein Tabu am ArbeitsplatzNicht viele funktionale Analphabeten gehen so offen mit ihrer Situation um wie Tim-Thilo Fellmer. Oder doch? Das Ergebnis einer Studie der Stiftung Lesen zeigt: Ein Drittel der Mitarbeiter in Betrieben und Unternehmen kennen oder vermuten es bei mindestens einem Kollegen. Einige haben es vom Betroffenen selbst erfahren. „Analphabetismus am Arbeitsplatz ist kein echtes Tabu, und Betroffene werden nicht diskriminiert", sagt Dr. Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen.
Ablehnung oder gar eine Stigmatisierung, wie Arnold Reinhard und andere Betroffene befürchten, gibt es meist nicht. So wissen beispielsweise auch 42 Prozent der befragten Arbeitgeber welche Mitarbeiter schlecht lesen und schreiben können und setzen sie in den Bereichen ein, wo diese Fähigkeiten nicht nötig sind. Darüber hinaus helfen Symbole wie Farbkarten oder eben andere Mitarbeiter weiter. Pragmatische Umgangsweise, nennt das die Wissenschaftlerin. Das sei positiv wie negativ. Erführen Betroffene viel Unterstützung, werde das Problem verdeckt.
Bei MENTO , einem Projekt des DGB Bildungswerks BUND, lassen sich Mitarbeiter ehrenamtlich zu Mentoren ausbilden. Sie unterstützen Betroffene aus den eigenen Reihen gezielt, informieren sie über Lern- und Weiterbildungsmaßnahmen auch außerhalb des Betriebs und helfen beim Ausfüllen von Formularen oder Anträgen. Im Vordergrund steht bei MENTO die berufliche und persönliche Entwicklung der funktionalen Analphabeten.
„Das Prinzip Mentoring funktioniert also auch bei Alphabetisierung", sagt Jens Nieth, Projektleiter von MENTO . Um die Situation beschäftigter funktionaler Analphabeten nachhaltig zu verbessern, muss das Thema in der Arbeitswelt noch weiter enttabuisiert werden. „Das begreifen auch immer mehr Betriebe", so Jens Nieth. Der Betrieb, in dem Arnold Reinhard arbeitet, ist noch nicht dabei. „Ältere Arbeiter wie ich geben es nicht mehr zu", sagt der 57-jährige Schichtführer. „Vielleicht sind die Jüngeren da mutiger."
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