Wie schießt man Tore, wenn man weder das Tor noch den Torwart sehen kann, geschweige denn den Ball? Für die Jungs von Blau-Gelb Marburg kein Problem. Sie sind Deutsche Meister im Blindenfußball 2012. Und mit ihnen darf ich heute kicken. Auf den Augen trage ich dazu spezielle Eye Pads und eine Maske wie alle anderen Spieler auch. Um mich herum ist alles schwarz. Ich sehe: Nichts. Auch nicht Ali Pektas, der sich neben mir warm macht. Er ist Deutschlands bester Torschütze. Elf Tore hat der Dribbelspezialist in der letzten Bundesliga-Saison geschossen. Mehr als jeder andere. Dass er von Geburt an blind ist, interessiert den 19-Jährigen dabei nicht. Er hat schon im Kindergarten mit sehenden Kindern gekickt. Tore schießen, sagt Ali, sei für ihn ein Instinkt. Zur richtigen Zeit, das richtige tun, da überlege er nicht lange. Und „Wuoasch!", versenkt er den Ball im Tor. Robert Warzecha spielt Fußball seit er sechs ist, auf dem Bolzplatz und im Verein, meistens Mittelfeld und Abwehr. Damals konnte Robert noch sehen. Durch einen Virus, den seine Mutter während der Schwangerschaft bekam, ist sein Sehnerv anatomisch anders, als er sein sollte. Während seines Abiturs verlor er den Großteil seines Augenlichts, heute erkennt er noch hell und dunkel. „Meine Augen sind gut", sagt er und sieht in meine Richtung, „viele merken gar nicht, dass ich blind bin. Ich kann alle Positionen spielen, aber als Abwehrspieler helfe ich der Mannschaft am meisten", erläutert der 26-Jährige, der zum besten Abwehrspieler 2012 gekürt wurde. Seine Stärken liegen nicht nur in der Deckung und im Zweikampf, sondern auch in einer sehr guten Spielübersicht. Der Ball macht "Rrrrrrr" Ich stehe auf dem Spielfeld und höre neben mir ein Rasseln. Das ist der Ball. Er ist kleiner und schwerer als ein Fußball und titscht nicht so stark. Unter seiner Lederhaut sorgen Metallplättchen und kleine Kügelchen für diesen „Rrrrrrr"-Sound, wenn er rollt. Bleibt der Ball liegen, verstummt er. Eine enge Ballführung ist darum im Blindenfußball enorm wichtig, um den Ball nicht zu verlieren oder ins Leere zu treten. „Du musst den Ball einfach zwischen deinen Füßen hinter- und herspielen", erklärt mir Robert, „und dabei laufen." Mit Minischritten tippele ich vorsichtig über das 40 mal 20 Meter große Spielfeld. Links und rechts sind die Banden, dazu zwei Handballtore mit jeweils einem sehenden Torwart, der seinen Torwartraum nicht verlassen darf und nur innerhalb seines Bereichs ins Spiel eingreifen kann. Dahinter ein Tor-Guide, der Anweisungen gibt. Der Ball ist zwischen meinen Füßen, Ich traue mich kaum ihn anzuheben, weil ich befürchte, ihn dann zu verlieren. Schlurfend, mit weit nach vorne gestreckten Armen bewege ich mich vorwärts ein bisschen wie ein Zombie. Wer im Blindenfußball aktiv werden will, braucht eine gute Orientierung und Ballgefühl, hat mir Trainer Peter Gößmann vor dem Training gesagt. Ganz in meiner Nähe rasselt der Ball. Also rollt er. Noch. Denn er wird leiser, ich muss ihn finden, bevor er liegen bleibt. Dann stoße ich ihn plötzlich unerwartet mit der Fußspitze an. Mit einem „Rrrrrrrrr" rollt er davon. Der Unterschied zwischen Fußball und Blindenfußball ist riesig „Das sind zwei Sportarten, die dasselbe verlangen: Tore schießen", erklärt Ali. Sein Dribbel-Geheimnis? Da steckt viel Arbeit hinter, sagt er knapp und wirkt dabei ziemlich cool. Liegt vielleicht auch am Drei-Tage-Bart. Ein Blindenfußballer, sagt Ali, braucht mentale Stärke, muss sich mehr auf bestimmte Dinge konzentrieren und Geräusche herausfiltern als beim „normalen" Fußball, wo man einfach weggucken kann, wenn einen etwas ablenkt. Bei Geräuschen gehe das nicht. „Darum ist Blindenfußball schwerer", sagt Ali. Und darum geht es bei Blindenfußballspielen ziemlich ruhig zu. Die Spieler sollen nicht abgelenkt werden. Wenn es nach Ali ginge, sollten die Zuschauer nicht nur beim Tor jubeln. „Von mir aus müssen sie sich kein Spiel stillschweigend ansehen, sondern können ruhig öfter klatschen." Fußball ohne Zuschauer? Für ihn undenkbar. „In der Türkei ist Fußball viel emotionaler. Im Stadion herrscht eine Stimmung, Wahnsinn, da werden die Spieler von der Euphoriewelle getragen." Als Nationalspieler hat er im Juni 2012 zusammen mit Robert gegen die Türkei gekickt – und 2:1 gewonnen. Er könnte sich auch durchaus vorstellen für die Türkei zu spielen, „aber die Türken können doch hier keinen nach Marburg oder zu einem Spiel schicken, um zu gucken, ob ich Tore schieße", sagt der Deutschtürke. Im Blindenfußball steckt viel zu wenig Geld, da habe er keine Chance. Und, klar, ärgert ihn das. Die Akzeptanz und der Spaß-Faktor Zuschauer gibt's auch bei Blindenfußballspielen. „Die meisten, die uns zuschauen, sind begeistert, allein weil wir laufen können, das halten ja viele nicht für möglich", sagt Robert und man merkt ihm an, dass es in ihm brodelt. Blinde Fußballer werden als blinde Fußballer betrachtet, ärgert sich auch Manfred Duensing, der Co-Trainer. Dabei sagt „blind" doch nichts über die Fußballer-Qualitäten der Spieler aus. „Ob sie schnell dribbeln können oder super Pässe schießen – das sind Stärken, die auch einen blinden Fußballspieler auszeichnen und nicht, dass er blind ist." Ali ist es egal, was die Zuschauer über ihn denken. Ihm geht es um die Akzeptanz des Blindenfußballs und den Spaß-Faktor. „Viele Zuschauer denken vor dem Spiel anders und ändern ihre Meinung, wenn sie uns erst einmal spielen sehen", sagt er. „Wir sind aber kein Zirkus", ergänzt Peter Gößmann, der 2006 die Mannschaft ins Leben gerufen hat und sie seitdem trainiert. „Dass ich den Ball blind nach vorne spiele und der Ball da ankommt, wo er hin soll, ist keine Zauberei", erklärt Robert und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Vieles mache er instinktiv, sagt der 26-Jährige: „Wenn ich das Gefühl habe, dass zwischen Ali und mir viele Gegenspieler sind und er zu gut gedeckt wird, spiele ich eben einen anderen an." Dabei hilft ihm sein Gehör. „Du kannst die Distanz nicht hören. Wir schon", erklärt mir Robert, der sein Diplom in Psychologie gemacht hat und Psychotherapeut werden will. Wo ist der Ball? Mittlerweile weiß ich nicht mehr, wo ich mich überhaupt auf dem Spielfeld befinde. Wo ist der Ball? Wo das Tor? Und wo sind Robert und Ali? „Ich stehe hier", ruft Robert, „im Tor. Am rechten Pfosten." Ich drehe mich in die Richtung aus der die Stimme kommt und... verdammt, der Ball. Er rollt, nur wo? Dann höre ich wie Ali „Voy" ruft, was spanisch ist und „ich komme" bedeutet, also "Attacke!". Jeder gegnerische Spieler muss „Voy" rufen, wenn er sich dem ballführenden Spieler nähert. Bleibt der Ruf aus oder kommt zu spät, wird dies als Foul gewertet. (Alle Spielregeln unter: www.blindenfussball.de) Dass Blindenfußball eine Mischung aus Fußball und Eishockey ist, mit verbundenen Augen, wie Bundestrainer Uli Pfisterer einmal sagte, halten bei Blau-Gelb Marburg allerdings alle für übertrieben. Es gäbe nur einige wenige Blinde und Sehbehinderte, die aufhören, wenn sie beim Blindenfußball ein paar Mal umgerannt wurden, gesteht Peter Gößmann und zuckt mit den Schultern. Das passiere halt schon mal, wenn ein Tor gefallen ist und sich alle freuen, Purzelbäume schlagen und einfach losrennen und vergessen „Voy" zu rufen. Kopfschutz ist Pflicht Um Verletzungen zu vermeiden, ist ein Kopfschutz aus Schaumstoff in Deutschland für jeden Spieler Pflicht. Auch wenn die Spieler murren und lieber „oben ohne" spielen würden. „Die Jungs wollen doch immer die Haare schön haben", feixt Manfred Duensing, der jetzt von der Seitenbande aus Hinweise gibt: „Acht Meter! Keiner vor! Jetzt Schuss!" Kurze prägnante Kommandos, die Ali den Abstand bis zum Tor angeben, ob er alleine ist oder ein Spieler im Weg steht. Die Entfernung bis zum Tor errechnet Manfred Duensing, während Ali in einem Affenzahn über das Spielfeld stürmt. „Wenn ich beim Laufen hundert Prozent gebe, kitzle ich dadurch 102 raus", grinst er. Dass es dadurch zu Fouls kommen kann, nimmt er in Kauf. „Ein paar blaue Flecken und Schrammen sind normal", findet auch Robert, der sich selbst als „schlimmer Köln-Fan" bezeichnet. Hätte der FC eine Blindenfußballmannschaft, würde er alles tun, um dort zu kicken. „Das ist eine lokalpatriotische Sache. Das wäre einfach cool, mit dem Geißbock auf der Brust!" In Brasilien und Argentinien, wo seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Blindenfußball gespielt wird und es rund 500 aktive Mannschaften gibt, ist Blindenfußball schon seit 20 Jahren selbstverständlich. Dort werden die Spieler auch bezahlt, wenn sie an der WM oder den Paralympics teilnehmen. In Deutschland gibt es da noch Berührungsängste und Vorurteile, obwohl die Blindenfußballnationalmannschaft bereits heute zu den Top 5 Europas zählt. Ob Ali und Robert zusammen bei den Paralympics 2016 in Rio kicken werden? „Zuerst kommen noch WM und EM", sagt Ali, „alles Schritt für Schritt". Zur richtigen Zeit, das richtige zu tun, ist seine Stärke. Und „Wuosch!", versenkt er den nächsten Ball exakt im Tor.
Anja Schimanke
Köln
Feature