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Sans-Papiers: Regularisiert und verfolgt

Christina Baeriswyl (Illustration)

Wer lange als Sans-Papiers in der Schweiz lebt, kann einen regulären Aufenthaltsstatus beantragen - riskiert aber gleichzeitig eine Strafe. Ein Fall aus der Schweiz könnte nun am Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg für ganz Europa Präzedenz schaffen.

Sie müsse zuerst eine Pause machen, sagt Claudia da Silva*. Sie atmet tief ein, schaut auf die Limmat, und einige Minuten ist es still. Dann erzählt sie ihre Geschichte, die kurz so aussah, als bekäme sie ein Happy End. Aber eben nur kurz. Claudia da Silva lebt zwanzig Jahre lang als Sans-Papiers ohne Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz, bevor sie den Mut fasst und ein Härtefallgesuch beim Migrationsamt stellt. Das Gesuch wird angenommen. Seither kann da Silva hier leben und arbeiten, ohne die Angst, aufzufliegen und ausgewiesen zu werden.

Doch kurz nachdem da Silva die gute Nachricht vom Migrationsamt erhält, flattert eine Vorladung der Staatsanwaltschaft in ihren Briefkasten. "Ich hatte kaum noch Kraft, als ich zur Einvernahme aufgeboten wurde", sagt sie heute. Die Staatsanwaltschaft wirft da Silva ihren illegalen Aufenthalt in der Schweiz als Straftat vor. Die Anzeige hatte das Migrationsamt aufgrund der Informationen aus dem Härtefallgesuch erstattet.

Im selben Zug, mit dem die offizielle Schweiz da Silvas Leben in der Illegalität beendet, macht sie die Frau zur Kriminellen und ihre Freund:innen zu Kompliz:innen.

Niemand weiss genau, wie viele Sans-Papiers in der Schweiz leben. Schätzungen gehen von mindestens 80 000 und bis zu 300 000 Personen aus. Ihre Geschichten sind vielfältig: Viele hatten einmal eine Aufenthaltserlaubnis, die ihnen entzogen wurde. Andere kommen als Tourist:innen in die Schweiz und bleiben hier. Die meisten arbeiten schwarz in Branchen, die für Ausbeutung besonders anfällig sind, etwa als Putzkraft, in der Kinderbetreuung oder der Altenpflege. Das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) räumt den Behörden die Möglichkeit ein, Sans-Papiers eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, wenn ein besonderer persönlicher Härtefall vorliegt.

Jährlich werden nur wenige solche Härtefallgesuche bewilligt. Der Kanton Zürich etwa regularisierte im Jahr 2021 zehn Personen, der Kanton Basel-Stadt sieben und der Kanton Bern acht. Denn die Hürden sind hoch: Wer ein Gesuch stellt, muss mindestens zehn Jahre in der Schweiz gelebt haben, nicht straffällig geworden sein und ein festes Einkommen haben. Seit einigen Jahren ist der Zugang zusätzlich erschwert, weil die Staatsanwaltschaften nach der Bewilligung ein Strafverfahren einleiten - wegen illegalen Aufenthalts und Erwerbstätigkeit. Obwohl beides gleichzeitig Voraussetzung für eine Bewilligung ist. Genau das geschah auch Claudia da Silva.

Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft wirft juristische und politische Fragen auf: Wie eng dürfen Verwaltungsbehörden und Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten, obwohl sie unterschiedliche Aufträge haben? Und wie widersprüchlich dürfen sie sich dabei verhalten?


Ganzer Artikel woz.ch Original