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Gambias Ex-Innen­minister steht in der Schweiz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht

Illustration: Daniel Stolle

Binta Jamba sass in ihrem Wohnzimmer, als sich ihr Leben schlagartig änderte. Es war ein Januartag im Jahr 2000. Sie schaltete den Fernseher ein, Gambia TV. In den 18-Uhr-Nachrichten erfuhr sie: Ihr Ehemann, Soldat in der Staatsgarde, war tot. Almamo Manneh war von anderen Soldaten erschossen worden. "Ich werde nie wieder dieselbe sein wie vor diesem Tag", sagt sie heute. Und dieser Tag war erst der Anfang der Schrecken, die Jamba durchlebt hat.

Auch der Journalist Musa Saidykhan sagt: "Wer einmal Folter durchleben musste, ist danach ein anderer Mensch." Im März 2006 nahm ihn die gambische Polizei fest, nachdem er über einen Putsch­versuch berichtet hatte, und brachte ihn ins Haupt­quartier des Geheim­dienstes. Doch Saidykhan weigerte sich, Informationen zu seinen Quellen preiszugeben - auch dann noch, als er bereits tagelang gefoltert worden war.

Nokoi Njie sei eine Kämpferin gewesen, erzählt ihre Tochter Isatou Ceesay. Während vieler Jahre war ihre Mutter Mitglied der wichtigsten Oppositions­partei Gambias. Als sie sich 2016 in der Nähe einer Demonstration gegen die Regierung aufhielt, wurde sie festgenommen. Im Gefängnis hätten ihr die Schergen des gambischen Langzeit­diktators Yahya Jammeh gedroht: Man werde sie erhängen und an die Krokodile verfüttern. Njie starb im September 2023. Bis zum Schluss hatte sie für Gerechtigkeit gekämpft. Ihre Tochter führt den Kampf weiter.

Drei traumatische Geschichten. Und ein Mann, der in jeder davon eine Hauptrolle spielt: Ousman Sonko, von 2006 bis 2016 Innen­minister Gambias in der Regierung Jammehs. Sonko soll für die Gewalt­taten an Binta Jamba, Musa Saidykhan und Nokoi Njie zumindest mitverantwortlich sein.

Ab dem kommenden Montag steht er in Bellinzona vor dem Bundes­strafgericht. Allein die Anzahl der angesetzten Verhandlungs­tage liefert einen Hinweis auf das Gewicht des Falls: 17 volle Prozess­tage sind im Januar für den Prozess veranschlagt, im März sind weitere 5 Reserve­daten blockiert.

Die Bundesanwaltschaft wirft Sonko zahlreiche Gewalt­verbrechen vor - und zwar derart schwere, dass sie nach Ansicht der Staats­anwälte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind. Diese können überall auf der Welt zur Anklage gebracht werden - unabhängig von der Nationalität von Täter und Opfer, unabhängig vom Tatort. Das sogenannte "Weltrechts­prinzip" macht dies möglich, weil diese Verbrechen so schwerwiegend sind, "dass sie eine Rechts­verletzung gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft darstellen", wie Völkerrechts­professorin Anna Petrig im Interview mit der Republik erklärt.

Die Schweiz hat die strafrechtliche Grundlage für die Verfolgung dieser Verbrechen im Jahr 2011 ins Straf­gesetzbuch geschrieben. Nach dem Prozess gegen den liberianischen Ex-Kommandanten Alieu Kosiah, der im Juni 2023 durch die Berufungs­kammer des Bundes­strafgerichts zu 20 Jahren Freiheits­strafe verurteilt wurde, ist das Sonko-Verfahren erst das zweite, das in der Schweiz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt wird. Es ist zudem das erste Mal in Europa, dass ein so hoher Amtsträger sich aufgrund des Weltrechts­prinzips vor Gericht verantworten muss.

Das Bundes­strafgericht in Bellinzona wird daher nicht nur grundsätzliche Fragen zum Schweizer Umgang mit Verstössen gegen das Völker­recht klären müssen. Es wird auch einen Präzedenz­fall schaffen, der über die Landes­grenzen hinaus Wirkung haben wird. Insbesondere die Menschen, die Sonkos Gewalt und die des Regimes selbst erfahren mussten, werden aufmerksam verfolgen, wie die Schweiz diesen Fall verhandelt.

Inwieweit tragen hohe Politiker die Verantwortung für die Gewalt eines repressiven Regimes? Wann gelten Verbrechen als "systematischer Angriff gegen die Zivil­bevölkerung" und damit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Und darf ein Schweizer Gericht überhaupt über Verbrechen urteilen, die begangen wurden, bevor dieser Tatbestand ins Schweizer Strafgesetz aufgenommen wurde?

Diese Fragen werden im Zentrum der Verhandlung stehen.


Ganzer Text: Republik.ch Original