Wer grosse Geldmengen ergaunern will, muss gut organisiert sein. Am besten sind mehrere Menschen beteiligt, die arbeitsteilig vorgehen. Doch jede Mitwisserin ist auch ein Risiko.
Es ist daher ein bewährtes Mittel unter Kriminellen, nicht nur ihre Opfer, sondern auch ihre Handlanger zu belügen.
Wenn eine Handlangerin vom Täter als Werkzeug benutzt wird, um eine Straftat zu begehen, ohne dass sie eingeweiht ist, dann spricht man von einer Tatmittlerin. Eine solche wird in der Regel freigesprochen. Im Gegensatz zu den Tatgehilfen: Wer " zu einem Verbrechen vorsätzlich Hilfe leistet ", wird laut Strafgesetzbuch lediglich milder bestraft.
Aber: Ein Gericht kann nicht in den Kopf eines Menschen hineinsehen. Wie soll es feststellen, was jemand gewusst hat und was nicht? Und ab wann kann es einer Beschuldigten vorwerfen, zumindest "billigend in Kauf" genommen zu haben, dass sie gegen das Gesetz verstossen könnte?
Um diese Fragen geht es in einem Basler Straffall.
Ort: Strafgericht Basel-Stadt Zeit: 21. Juli 2023, 9 Uhr Fall-Nr.: VT.2023.888 Thema: Gewerbsmässiger Betrug
Maja Nowak, die in Wirklichkeit anders heisst, lebte im Westen Polens, nahe der deutschen Grenze. Im Winter 2022 ging sie durch eine schwierige Lebensphase. Die damals 21-Jährige litt unter einer Depression, die sie medikamentös behandelte. Obendrauf hatte sie während des Corona-Lockdowns ihr Studium abgebrochen, und dann hatte sie einen Unfall, der sie während mehrerer Monate erwerbsunfähig machte.
In dieser Zeit entdeckte Nowak eine Jobausschreibung auf einem polnischen Onlineportal. Gesucht wurde eine Kurierin mit eigenem Auto, die auch Einsätze im Ausland wahrnehmen würde. Nowak war angetan. Nicht nur, weil sie einen Job brauchte, sondern auch, weil sie Abstand von ihrem Leben in Polen gewinnen wollte. Sie bewarb sich und wurde eingestellt.
Noch konnte sie nicht wissen, dass es sich um keine gewöhnliche Stelle handelte.
Lämpchen, die aufleuchten solltenIm Dezember 2022 fuhr Nowak in einen polnischen Grenzort, um einen Mann zu treffen, der zu ihr ins Auto stieg. An Ort und Stelle unterzeichnete sie ihren Arbeitsvertrag. Der Mann händigte ihr ein paar Geldscheine für die Spesen und ein Arbeitshandy aus.
"Hier haben bei Ihnen doch bereits die Lämpchen geleuchtet", kommentiert Staatsanwalt Karl Aschmann diesen Moment später im Strafgericht Basel-Stadt. Es ist mitten im Sommer, morgens um 9 Uhr. Rund ein halbes Jahr nach der Vertragsunterzeichnung damals in Polen.
Nowak sitzt dem Dreiergericht mit gesenktem Kopf gegenüber. Die junge Frau trägt eine grosse runde Brille und lose zusammengestecktes, lockiges Haar. Ihre Füsse sind mit Fussfesseln zusammengebunden. Sechs Monate Untersuchungs- und Sicherheitshaft liegen hinter ihr, in einem Land, zu dem sie keinerlei Bezug hat. Die Verhandlung findet auf Deutsch statt. Eine Übersetzerin sitzt neben dem Richtertrio und wiederholt jeden deutschen Satz auf Polnisch und umgekehrt.
Eine solch zwielichtige Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags wie dort im Auto sei doch ein eindeutiges Indiz, dass hier etwas nicht stimme, wettert der Staatsanwalt. Und das sei auch der Beschuldigten nicht entgangen. Sie habe sich trotzdem auf die Arbeit eingelassen. Und dadurch mindestens "billigend in Kauf" genommen, sich damit an einer Straftat zu beteiligen. Somit würde ein Eventualvorsatz vorliegen.
Die Beschuldigte streitet das ab, sie habe gedacht, dass es sich um einen normalen Job handle. Auch der Arbeitsvertrag habe keinerlei Hinweise auf eine Beschäftigung im Betrugssegment enthalten.
Staatsanwalt Aschmann rümpft ungläubig die Nase.
In den ersten Wochen als Kurierin verlor Nowak ihr ungeborenes Kind, woraufhin die Beziehung zu ihrem Freund in die Brüche ging. Eine Zeit also, in der sie, laut ihrem Verteidiger Stefan Ledergerber, nicht in der Lage gewesen sei, rational zu denken, sondern nur funktioniert habe. Diese Ausnahmesituation, so argumentiert der Anwalt, habe dazu geführt, dass seine Mandantin einige Warnhinweise nicht erkannt habe.
Deshalb sei sie unvermutet in kriminelle Machenschaften verwickelt worden.
In den Wochen nach der Vertragsunterzeichnung fuhr Nowak als Kurierin kreuz und quer durch Europa, mehrere Male auch in die Schweiz. Ihr Gehalt war gut, 150 Euro am Tag, viel besser als bei ihrer vorherigen Stelle beim Versandhändler Amazon.
Sie hatte klar geregelte Arbeitszeiten, von 8 Uhr bis 17 Uhr sollte sie erreichbar sein. Auch die Stunden, in denen sie auf Abruf war, wurden bezahlt. So wie es sich für eine normale Stelle gehört. Oft musste sie tagelang auf einen Anruf von ihrem Chef, einem gewissen "Robert", warten, der ihr dann die Einzelheiten ihres nächsten Einsatzes durchgab.
Ein Moment, zwei PerspektivenEinen solchen Auftrag erhielt sie auch am 22. Dezember 2022, als "Robert" sie nach Freiburg im Breisgau schickte. Sie müsse dort ein Paket entgegennehmen und nach Strassburg transportieren. Der Person, die ihr das Paket übergeben werde, solle sie sich als Frau Bach vorstellen.
Mit dem Telefon am Ohr und dem Chef in der Leitung ging sie an diesem Dezembertag zum Treffpunkt in der Stadt im Schwarzwald, wo sie eine ältere Frau traf. Ihr stellte sie sich, wie vom Chef angeleitet, vor und nahm das Paket entgegen. Es entstand kein weiteres Gespräch, schliesslich spricht Nowak kein Deutsch und hatte zudem "Robert" am Hörer, der ihr ununterbrochen im Ohr lag. Das Paket brachte sie nach Strassburg.
Auftrag erledigt, Paket zugestellt.
So oder so ähnlich lief es auch in mindestens zwei weiteren Fällen in der Schweiz ab.
Doch aus Sicht der Nebenklägerin, die in Basel lebt und während der Verhandlung ebenfalls im Gerichtssaal sitzt, war es an diesem Tag im Dezember 2022 ganz anders. Die 76-Jährige erhielt laut Anklageschrift am Nachmittag des 22. Dezember einen Anruf von einem gewissen Herrn Krause. Er rufe vom Amtsgericht Freiburg im Breisgau an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Sohn ein Rotlicht missachtet, eine schwangere Frau angefahren und Fahrerflucht begangen habe.
Er sei festgenommen worden.
Sie habe nun die Möglichkeit, so "Krause" weiter, ihren Sohn freizukaufen - mit einer Summe von 275'000 Franken. Der Anrufer wollte zudem wissen, ob sie wertvollen Schmuck besitze, woraufhin die Frau ihm eine Liste von Armbanduhren samt Markennamen durchgab. Er wies sie an, alles zum Amtsgericht nach Freiburg zu bringen. Im Schockzustand befolgte sie die Anweisung.
In der Nähe des Amtsgerichts traf sie diese Frau Bach an, der sie eine Box mit Geld, Schmuck und Uhren übergab, in der Annahme, damit ihren Sohn freizukaufen. Der Inhalt der Box hatte einen Wert von 1'123'372 Franken.
So standen sie sich damals gegenüber. Zwei Getäuschte. Mehr als fünfzig Jahre Altersunterschied. Und zwischen ihnen mehr als eine Million Franken, die am Ende keine von beiden mehr haben würde, sondern ein unbekannter Dritter. Beide spielten ihren Part in seinem Plan. Ein doppeltes Lügengebäude, geschickt erbaut von einem Abwesenden - zumindest, wenn man der Beschuldigten glaubt.
Beide Frauen standen während der Begegnung in telefonischem Kontakt mit der Betrügerbande. Die ältere wurde angewiesen, zu warten, während das Amtsgericht angeblich die Kaution prüfe. Die jüngere wurde angehalten, keine Zeit zu verlieren und sich mit dem Paket auf den Weg nach Strassburg zu machen.
Kurz vor der Übergabe und vor den Augen von Maja Nowak streifte sich die Rentnerin ihre Armbanduhr und mehrere Fingerringe ab und warf sie in die Box - in der Hoffnung, damit die Chance auf eine Freilassung ihres Sohnes zu erhöhen.
Diesen Moment streicht Staatsanwalt Aschmann während der Verhandlung besonders hervor. "Das ist doch kein normaler Kurierjob, bei dem man sich mit falschem Namen vorstellen muss!" Abermals verweist er auf die "Lämpchen", die da hätten aufleuchten sollen, als metaphorisches Warnsignal. Spätestens als die verängstigte Frau ihren eigenen Schmuck und ihre persönliche Armbanduhr abstreifte und in ein Paket legte, da hätte der Beschuldigten doch klar sein müssen, dass sie das nicht aus freien Stücken tat.
Doch auf Fragen zu den merkwürdigen Umständen der Lieferungen hatte Chef "Robert" laut der Beschuldigten stets eine Antwort parat.
Warum sollte sie sich bei jedem Einsatz mit anderem Namen vorstellen? Sie sei Springerin und vertrete andere Kurierinnen, die krank seien. Um keine Verwirrung zu stiften, solle sie sich als diese ausgeben, so der Chef.
Die Lämpchen der Geschädigten hätten ob eines derartigen "Schockanrufs" und der absurden Anweisungen der Betrüger ebenfalls leuchten können. Doch Verteidiger Ledergeber will den Opfern keine Mitverantwortung aufbürden: "Sie wurden unter einen solch immensen emotionalen Druck gesetzt und mit hinterhältigen Tricks an weiteren Abklärungen gehindert, dass ihnen keine Mitverantwortung angelastet werden kann."
In seinem Plädoyer fordert Stefan Ledergerber eine Gleichbehandlung: "Die ausgeklügelten betrügerischen Machenschaften, welche die Täter gegenüber ihren Opfern anwenden, wenden sie auch gegenüber ihren ‹Helferlingen› an. Auch ihnen ist eine Überprüfung der wahren Umstände in aller Regel unmöglich."
Nowak hatte ohnehin nur wenig Zeit, auf die Lämpchen zu reagieren, denn schon nach knapp einem Monat im Job, am 13. Januar 2023, wurde sie in Basel während eines weiteren Einsatzes verhaftet und in Untersuchungshaft gesetzt.
Der Verteidiger weist darauf hin, dass der Anklageschrift nicht zu entnehmen sei, ob die Staatsanwaltschaft von einer Mittäterschaft, einer Gehilfenschaft oder einer Tatmittelschaft ausgehe.
So oder so sei Nowak freizusprechen: "Die bis heute unbekannt gebliebenen Hintermänner übten kraft überlegenen Wissens bestimmten Einfluss auf die Beschuldigte aus, sodass es schliesslich zur Vollendung der Taten gekommen ist. Nur die Hintermänner kannten den Tatplan und den wahren Sachverhalt. Meine Mandantin liessen sie im Glauben, sie sei eine normale Kurierin, welche Gegenstände zwischen Personen transportiere."
Zudem habe Maja Nowak kein Gewinninteresse verfolgt, sondern lediglich einen Lohn erhalten, der gemessen an der erbeuteten Geldsumme verschwindend klein sei.
Die Kurierin trägt den ganzen SchadenDas Gericht kauft der Frau auf der Anklagebank das Unwissen nicht ab und verurteilt sie zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 28 Monaten, davon 6 Monate unbedingt. Es hält Nowak zugute, dass sie Reue zeige, Ersttäterin sei, auch ihre "Jugend und Naivität" werden berücksichtigt. Die Richterinnen gehen zwar davon aus, dass sie die Tat nicht direkt vorsätzlich beging, aber entgegen besserem Wissen billigend in Kauf nahm, dass sie sich an einer Straftat beteiligte.
Den Schaden von insgesamt drei Privatklägern lastet ihr das Gericht ebenfalls an: über 900'000 Franken, inklusive Genugtuung für den erlittenen Schock.
"Frau Nowak, haben Sie das Urteil verstanden?", fragt der vorsitzende Richter René Ernst nach der Urteilseröffnung.
"Ja, ich habe alles verstanden", entgegnet die Beschuldigte und fügt an: "Was ich nicht verstehe, ist, wie ich dieses Geld bezahlen soll."
"Das kann ich Ihnen auch nicht sagen", sagt Ernst und wirft die Hände schulterzuckend in die Luft. So ist das Gesetz: Jeder einzelne Beschuldigte haftet für den gesamten Schadensbetrag.
Rechtsanwalt Gian Ruppanner, der den Fall von Maja Nowak als Verteidiger führte, sich am Prozesstag jedoch vom Kollegen Ledergerber vertreten lässt, sagt auf Anfrage der Republik, er werde das Verdikt nicht akzeptieren und habe bereits Berufung angemeldet.
Denn wenige Wochen vor der Verhandlung wurde laut einem deutschen Onlinemedium der Kopf einer Betrügerbande in London festgenommen. Der polnische Mann dirigierte siebzig Bandenmitglieder in ganz Europa. Ihre Masche: Schockanrufe bei älteren Menschen. Sie rekrutierten Handlanger über ein polnisches Jobportal und schickten diese auf Kurierfahrten nach Spanien, Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. Sie erbeuteten so gemäss dem Medienartikel mindestens 5 Millionen Euro.
Während der Verhandlung verweist die Staats anwaltschaft auf jenen Text, später bestätigt sie allerdings nicht, ob es sich um die Bande rund um "Robert" handelt.
Maja Nowak kann die Untersuchungshaft verlassen, denn die sechs Monate unbedingte Freiheitsstrafe hat sie bereits abgesessen. Doch sie wird gleichentags in Auslieferungshaft gesetzt und anschliessend nach Deutschland gebracht. Dort läuft ein weiteres Verfahren gegen sie.
Illustration: Till Lauer