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Column

Sylt im Juni

Vor ein paar Wochen habe ich eine
Nachricht von meinem Jugendfreund P.
erhalten, in der er beiläufig erwähnte, er
habe sich mit dem Coronavirus infiziert.
Ich hatte länger nichts mehr von P. gehört,
unsere Freundschaft besteht im
Wesentlichen darin, dass wir uns einmal im
Jahr auf ein Bier verabreden und zuvor
allerhöchstens zwei Nachrichten austauschen,
in denen wir festlegen, wann und wo. Wenn wir
uns aber sehen, ist es, als wären wir wieder
zwölf, und da solche Freundschaften, so glaube
ich, ziemlich selten sind, hielt ich mit äußerster
Beständigkeit an unseren Treffen fest.

Weil ein Treffen diesmal nicht infrage kam,
erkundigte ich mich nach Ps Zustand. Er sagte,
er habe Probleme beim Atmen. Das
Allerschlimmste an der Sache aber sei,
dass er nicht zur Arbeit könne, dass die
Wirtschaft hart getroffen werde von Corona
und uns das Ganze überhaupt noch
jahrelang beschäftigen werde. P. gehört zu
jener Sorte Mensch, die sich lieber einen
Nagel durch den Zeh wuchten lassen, als sich
über das eigene Befinden zu beklagen.
Ich schrieb, er solle die Arbeit vergessen,
an seine Gesundheit denken und dass ich an
seiner Stelle umgehend ins Krankenhaus
fahren würde. Er sagte, er wolle nächsten
Montag wieder ins Büro. Als ich tags darauf
erneut schrieb, antwortete P. nicht mehr.

P. wuchs fünf Häuser die Straße hinunter
von mir entfernt in einem Haus mit angrenzender
Schreinerei auf. Entlang der Häuser,
die zwischen uns lagen, zog sich ein Bolzplatz,
und dieser Umstand hatte dazu geführt,
dass wir uns beinahe täglich nach der Schule
auf ein paar Stunden dort trafen, um an
unseren Ballfertigkeiten zu arbeiten.
Ich habe P. immer bewundert, denn ich
kenne bis heute niemanden, der den Ball
so dermaßen elegant ins Kreuzeck
bugsieren konnte, wie er das tat. Noch
beeindruckender war nur der ausbleibende
Jubel danach. Bei P. sah das aus,
als ob er so etwas im Schlaf erledigen würde.

Ein paar Jahre später übernahm P. die Firma
seines Vaters mit großem Erfolg, was,
so vermute ich, hauptsächlich daran lag,
dass er seine fußballerische Raffinesse
problemlos ins Holzgeschäft überführen
konnte. Ich hingegen zog fort.

Wegen des Coronavirus habe ich in den
vergangenen Wochen beinahe täglich die
Infektionszahlen verfolgt. Ich las alle
Berichte. Ich schaute jede Pressekonferenz
der Regierung im Fernsehen von meinem
irre gut aussehenden lila Velourssofa aus
und war erleichtert, als die Maßnahmen
Wirkung zeigten. Dann schüttelte ich noch
den Kopf über die Verschwörungstheoretiker,
die auf den Hygienedemonstrationen wild
umherirrten. Dass mein Handy tagelang
stillstand, jagte mir eine Scheißangst ein.

Kürzlich erreichte mich wieder eine Nachricht
von P. Er beschied, er befände sich gerade
auf Sylt, das Wetter sei so lala, die Luft dafür
ausgezeichnet für seine Lunge, wie ihm
die Ärzte versicherten. Er fühle sich schon
etwas besser, seine Ärzte aber, so schrieb P.?
befürchten, dass es mindestens ein Jahr
dauern werde, bis sich seine Lunge vollständig
erholt hat. Entgegen der unausgesprochenen
Vereinbarung, uns höchstens zwei Nachrichten
pro Jahr zu schreiben, beschloss ich,
mich von nun an jede Woche bei P. zu melden.
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Wäre unser Redakteur Fußballer geworden,
zwängte ihn seine schlechte Kondition ins Tor.
a.scheuerer@infranken.de

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