Wir haben mit Dr. Susanne Pechler, Expertin für Medien- und Computerspielsucht am Isar-Amper-Klinikum in Fürstenfeldbruck, über das Thema Online-Spielsucht gesprochen.
Ist die Einstufung der "Online-Spielsucht" als Krankheit aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Susanne Pechler: Es fehlt die Forschung, der Unterbau, die Evidenz, wo diese "Sucht" herkommt. Noch ist sie ja nicht als eigenständige Krankheit eingetragen. Die "Online-Spielsucht" wird beachtet. Aber wir wissen nicht, ob es eine Sucht oder eine psychiatrische Erkrankung ist.
Aber sie soll ja nun im neuesten Entwurf des ICD 11 (International Classification of Diseases) als Krankheit gelistet werden.
Sie soll wieder im neuesten ICD stehen, ja. Aber es ist noch nicht gesagt wo im ICD das hinkommt. Sie steht ja bereits drinnen, aber noch nicht da, wo die ganz normalen Diagnosen stehen. Das DSM5 (Diagnostischer statistischer Leitfaden psychischer Störungen) führt es zum Beispiel im Anhang. Auch die haben es nicht nach vorne aufgenommen. Es ist also nach wie vor nicht geklärt. Und es ist auch ganz ok, dass es noch nicht geklärt ist.
Das heißt, bezüglich der Einstufung ist noch keine Entscheidung gefallen?
Das ist richtig. Man kann es zurzeit wirklich noch nicht sagen. Es wird immer als Spiel-"Sucht" bezeichnet. Aber da muss man ja schon unterscheiden. Spielsucht ist nicht gleich Spielsucht. Es gibt ja die der klassischen Verhaltenssucht. Das einzige, das da anerkannt ist, ist Glücksspielsucht. Aber wo das mit dem PC und Internet hingeht, wird noch spannend werden. Es gibt viele Störungen, die darauf hinweisen, dass es auch eine psychische Krankheit sein kann, und keine klassische Suchterkrankung.
Wie ist denn Ihre Einschätzung diesbezüglich?
Es gibt für beides, Computerspiele und das Internet, Konzepte. Es ist also gerade ein Mix. Ein Teil ist sich sicher, dass psychische Störungen bestehen. Auf der anderen Seite sind auch neue Kriterien anzuwenden, denn manche Patienten können den Gebrauch des Internets schon nicht mehr kontrollieren. Bei einer stoffgebundenen Abhängigkeit ist ja das Kriterium immer das "nicht mehr kontrollieren können." Bei einer Alkoholsucht zum Beispiel. Das trifft also zu, wenn ich andere Dinge vernachlässige. Und das ist ganz bestimmt bei Onlinspielern auch so. Wobei man auch hier wieder differenzieren muss: Es gibt ja viele Online-Spieler. Spieler, die online gamen/surfen/chatten und auch ihre Hypersexualität über das Internet ausleben. Das ist in sich keine kongruente Gruppe. Wie eben bei anderen Diagnosen auch nicht. Depression ist ja auch nicht gleich Depression.
Gibt es denn für die "Online-Spielsucht" überhaupt Diagnosekriterien?
Wir haben da ganz grob etwas verfasst: Wenn man mehr als 30 oder 35 Stunden pro Woche Onlineaktivität hat, die nichts mit Universität/Arbeit/Schule zu tun hat, und wenn jemand körperliche/soziale/psychische Konsequenzen spürt. Wir prüfen auch, ob das Internet als Regulationsmechanismus dient. Also ob es benutzt wird, um aus schlechten Gefühlen raus zu kommen. Dieser Regulationsmechanismus funktioniert dann folgendermaßen: Ein Betroffener denkt sich "Ich halte es in der echten Welt nicht mehr aus, daher flüchte ich mich ins Spiel." Und Spiele haben als einziges Medium das vollkommene Abtauchen, das es bei stoffgebundenen Süchten nicht gibt. Es gibt bei den Patienten zwei Bereiche. Den realen und virtuellen. Und wenn sie im realen immer weniger Belohnungen bekommen, durch Mobbing, schlechte Noten oder Streit mit den Eltern, dann wenden sie sich der Welt zu, in der dieses Verhalten in Ordnung ist. Daher sind Spiele auch so beliebt. Sie sind einfach zu erlernen und belohnen unglaublich effizient.
Ist die ganze "Mediensucht"-Diskussion also vielleicht nur ein Zeitgeistproblem?
Ich glaube, wenn es das Internet nicht gegeben hätte, dann wäre etwas anderes gekommen. Aber das Internet macht eben so vieles möglich. Fast jeder neigt zum Prokrastinieren (Aufschieben). Und das Internet ist eine einzige Aufschiebemaschinerie. Man geht von Wikipedia auf Youtube und findet immer noch einen Link. Das Ganze nimmt kein Ende. Es ist nicht wie eine Zeitung. Die lese ich, und bin irgendwann damit fertig. Aber das Internet nimmt kein Ende. Dabei spielt auch die Belohnung eine wichtige Rolle. Spiele arbeiten ja mit der sogenannten "intermittierenden Verstärkung". In der Psychotherapie würde man das gerne so gut können, wie es diese Spiele beherrschen. Das geht in der Realität gar nicht so gut. Das eine ist der Zeitgeist, das andere schwer kranke Menschen. Die können dann nur noch das Spiel spielen, aber nicht mal mehr zum Bäcker gehen. Selbstverständlich darf man nicht pathologisieren (schlechtreden). Ich für meinen Teil finde das Internet ganz toll und Spiele finde ich auch gut. Aber hier muss man einfach unterscheiden.
Ist das "Craving" (der Zwang) beim Spielen nicht dasselbe wie beim Bergsteigen? Der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt hat durch diese anstehende, vermutliche Einstufung der Spielsucht als Krankheit Sorge vor einer weitreichenden Pathologisierung.
Da gehe ich eigentlich ganz konform. Ich finde auch, dass man nicht alles pathologisieren sollte. Ich würde allerdings auch den Begriff "Craving" vermeiden. Man findet "Craving" bei den Suchtstörungen, nicht bei den Computerspielen. Es gibt zwar den starken Wunsch, in das Verhalten zurückzugehen, aber das gehört zu den Substanzstörungen. In der Psychiatrie hört man den Begriff nicht. Man will ja als "Süchtiger" den Zustand ändern. Und daher nehme ich das, was ich kenne (trinken, rauchen, vielleicht auch Computerspiele?) für einen Druckabbau. Ähnlich wie bei einem Dampfkochtopf. Das ist aber sehr vielschichtig. Natürlich darf man das Internet nicht einfach dämonisieren. Es macht ja vieles gut und schnell. Und an dieser Stelle passt ein Zitat: "The rich get richer, the poor get poorer." Wer also damit gut umgehen kann, profitiert. Die anderen fallen hinten runter.
Ist jemand süchtig, wenn er für einen abgegrenzten Zeitraum auch mal sehr exzessiv spielt? Also beispielsweise auch mal 12 bis 16 Stunden pro Tag, aber nachher, nach dem Urlaub zum Beispiel, wieder ins geregelte Alltagsleben wechselt?
Nein. Denn diese Person kann das Exzessive wieder beenden. Wenn man den Urlaub nicht schöner nutzen kann, okay. Das ist eben das Hobby der Person, und das kann man auch so akzeptieren. Problematisch wird es erst, wenn es den Alltag beeinträchtigt. Es gibt ja auch Leute, die am Wochenende eine Serie auf Netflix (Internet-Fernsehangebot) durchschauen. Das ist dann eben mal so.
Kann denn ein Spiel ursächlich für eine "Spielsucht" sein? Also löst das Spiel alleine so ein Verhalten eventuell aus?
Nein, ich glaube, das muss schon auf fruchtbaren Boden fallen. Beispielsweise Menschen, die sehr zurückgezogen sind, mit wenig Freunden und ähnlichem. Ein Spiel alleine löst das nicht aus. Zum Auslösen einer Sucht kommen einige Faktoren zusammen. Das ist wie mit Alkohol. Wenn Sie ein Glas trinken, sind sie ja auch kein Alkoholiker. Daher wäre es vermessen, den Spielen die Schuld zu geben.
Das Gespräch führte Andreas Hofbauer.