Gedränge herrscht auf der Aussichtsplattform des Castelo de São Jorge und unter der Arco da Rua Augusta. Die angeblich besten Pastéis gibt es dort, wo man mit fremden Menschen viel Zeit in Warteschlangen verbringt, und in den populären Gassen in Alfama versuchen Männer in Kellnerschürzen, Vorbeilaufende von der überteuerten Speisekarte ihrer Fado-Restaurants zu überzeugen. Ich mache mich auf den Weg, um mir für eine Weile von einem bescheideneren Ort in Lissabon Geschichten erzählen zu lassen: dem Cemitério dos Prazeres.
Es dauert maximal drei Tage, bis ich im Stadturlaub dem touristischen Treiben wenigstens für ein paar Stunden entfliehen möchte. Dafür kann ich mir nichts Besseres vorstellen, als lokale Friedhöfe zu besuchen. Obwohl diese in Reiseführern immer häufiger als Ausflugsziele empfohlen werden und sich im Internet inzwischen tausende Fotos und Beschreibungen dazu wiederfinden, erlebe ich sie stets als wahre Oasen der Stille, die ein größerer Kontrast zu Sightseeing Quickies und Selfie-Tourismus nicht sein könnten. Einmal dort angekommen, findet man sich fast immer allein zwischen den Grabsteinen wieder, abgesehen vielleicht von Gärtnern oder Menschen, die ihre Angehörigen besuchen. Es ist eine Bereicherung, sich auf die unaufdringliche Art dieser Orte einzulassen.
Im Dezember 2014 verbringe ich meinen Urlaub in Lissabon. Angezogen von dem Namen "Friedhof der Freuden", wie der Cemitério dos Prazeres in der Übersetzung heißt, mache ich mich an einem nebeligen Morgen zu einem Ausflug auf, um ihn zu erkunden. Diese Begräbnisstätte ist zwar nicht so berühmt wie der Père Lachaise in Paris oder der Wiener Zentralfriedhof, in seiner Schönheit und Einzigartigkeit muss er sich jedoch keinesfalls hinter diesen verstecken.
Der Weg zu den Toten ist unheimlich und gefährlichGräberfelder wurden in Europa ab dem 16. Jahrhundert zunehmend dort errichtet, wo sie den Bewohnern einer Stadt auch dann nicht zu nahe kamen, wenn die Zahl der Toten durch Seuchen oder Unglücke einmal rapide anstieg. Verzichtet man wie ich auf überfüllte Busse und Bahnen, ist die Strecke zu ihnen deshalb manchmal eine beschwerliche, die durch unattraktive Randgebiete, bergauf, über Hauptverkehrsstraßen, durch Industrieareale oder reizlose Wohnsiedlungen führt.
Vom Fuße der Ponte 25 de Abril aus sind es darum anstrengende Höhen, die ich erklimmen muss, um zum Ziel zu gelangen. Ich fühle mich unwohl, als ich die Straßen hinauflaufe, die zum Haupteingang führen sollen. Einige Häuser haben keine Türen und Fensterscheiben mehr und sind deshalb mit Decken oder Kleidungsstücken verhangen, aus dem Nichts kläffen mich große Hunde an, in den Höfen sitzen Menschen auf Plastikstühlen und rauchen Zigaretten. Auf den Gehwegen stapeln sich Müllsäcke und hin und wieder kreuzt eine Ratte meinen Weg. Als mir für ein paar Minuten eine Gruppe junger Männer folgt, muss ich mir Mühe geben, nicht panisch davonzulaufen, weil mir laut und unmissverständlich vulgäre Sprüche hinterhergerufen werden.
Als ich mein Ziel erreiche, rücken diese Eindrücke jedoch sofort in den Hintergrund. Ich stehe vor einer hohen hellen Mauer und einem schweren eisernen Eingangstor, deren Totenglocken und Sanduhren mit Fledermausflügeln mich an meine begrenzte Zeit auf Erden erinnern und mich bitten, in das Reich der Toten einzutreten.
Ankunft an einem der schönsten Aussichtspunkte LissabonsBeim Betreten des Friedhofsgeländes werde ich zunächst von zahlreichen Katzen begrüßt, die den kompletten Eingangs- bereich für sich eingenommen haben. Dabei habe ich sofort den Eindruck, eine kleine, aber menschenleere Stadt zu betreten. Mausoleen, die wie kleine Häuser aussehen, reihen sich in unzähligen Alleen und kleinen Wegen eng aneinander, bis sie auf dem höchsten Punkt eines Hügels fast steil Richtung Tejo-Bucht wieder abfallen. Der hier einsetzende Blick über Statuen und Steinkreuze bis hin zum Wasser mit der an diesem sonnigen Morgen noch teilweise im Nebel liegenden Ponte 25 de Abril erscheint mir fast unwirklich. Selbst hier macht die Hauptstadt Portugals keine Ausnahme in ihrer Berühmtheit für atemberaubende Aussichtspunkte auf ihre Dächer, Straßen und die Flussmündung. "Friedhof der Freuden" - passender könnte der Name der Begräbnisstätte in diesem Moment nicht sein. Zurück geht er allerdings auf den Umstand, dass die Errichtung der Anlage im Jahre 1833 im Zuge einer Cholera-Epidemie notwenig geworden war und damit ein beliebtes Ausflugsziel der Bewohner überbaut wurde.
Als ein laut rauschender Vogelschwarm über meinen Kopf hinwegfliegt, fällt mir ein, was ich vor ein paar Wochen über den amerikanischen Autor Jonathan Franzen gelesen habe. Der Journalist Tobias Wenzel verabredete sich über einen längeren Zeitraum für seine Interviews mit Schriftstellern mit diesen ausschließlich auf Friedhöfen. Mit Franzen traf er sich auf dem Green-Wood Cemetery in New York, den der Autor regelmäßig besucht, um Vögel zu beobachten. Angefangen hatte das, als seine Mutter verstarb und er in dem Kommen und Gehen von Zugvögeln - ein Sinnbild für Werden und Vergehen - Trost fand. Ich weiß in diesem Moment zwar nicht, welche vorbeiziehenden Vögel er von dem Hügel aus, auf dem ich gerade stehe, beobachten könnte, doch da der Flughafen Lissabon sogar in aufwendigen Grafiken Werbung mit deren Routen macht, denke ich, dass es ihm zu gegebener Zeit auch hier gefallen könnte.
Aristokratische Stadtvillen in MiniaturausgabeNachdem ich eine Weile von der brusthohen Mauer im hinteren Teil der Anlage aus beobachtet habe, wie der fließende Nebel das Wasser, die Brücke, Engelsflügel und Dachspitzen verschleiert und wieder freigibt, begebe ich mich zurück auf die schattigen Wege. Wie oft schon habe ich den Ausdruck „Stadt der Toten" gehört, ohne jemals einen realen Bezug zu ihm gehabt zu haben - das ändert sich an diesem Ort für mich, als ich mir die als "Begräbnisvillen" bezeichneten Mausoleen und die Umgebung genauer ansehe. Elegante Laternen säumen die Wege, an deren Kreuzungen Blumenbeete angelegt wurden, es gibt zahlreiche Kapellen und Wasserstellen mit Sitzbänken, die zwischen den Gebäuden wie kleine Marktplätze mit Brunnen aussehen. Große und kunstvoll gestaltete Statuen, wie ich sie zum Beispiel von italienischen Friedhöfen kenne, finden sich hingegen nur vereinzelt. Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass es die Aristokraten, wohlhabenden Bürger und Künstler Lissabons waren, die dieses üppige Bild prägten. Nur ein Grabmal, auf das ich bei meinem Rundgang stoße, irritiert mich. Es ist eine sehr große und weiße Pyramide mit klassizistischem Eingangsbereich. Wäre dies wirklich eine Stadt, wäre es wohl so etwas wie ein protziger Neubau in einem alten Villenviertel. Im Internet lese ich, dass ich vor dem größten Familiengrab Europas stehe: Pedro des Sousa Holstein, im 19. Jahrhundert Graf und Herzog von Palmela, ließ es in Anlehnung an das Aussehen ägyptischer Pyramiden und den Tempel Salomons im Jahre 1849 errichten. Neben den Gebeinen von rund 200 Familienangehörigen verbirgt sich im Innern außerdem eine Kapelle.
Wohnhausatmosphäre durch Gardinen und ErdmöbelFasziniert bin ich vor allem von der eigentümlichen Wohnatmosphäre, die von den Mausoleen ausgeht. Diese haben Glas-, Holz- oder Gittertüren, Fenster und weiße Gardinen, und die links und rechts an den Wänden aufgestellten Särge wirken wie Möbel, die mit Samt in verschiedenen Farben überzogen sind oder unter schweren, mit Gold- und Silberrand verzierten Brokatdecken liegen. Oft sind Bilder der Verstorbenen und schwere Kerzenleuchter sowie Totenlichter aufgestellt. Aus einem Kindersarg aus dem frühen 20. Jahrhundert, den irgendjemand zuvor geöffnet haben muss, schaut der Teil eines weißen, spitzenbesetzten Kleides hervor. Ein anderer Sarg hinter einer Glastür, in der sich Palmen und mein erstauntes Gesicht spiegeln, sieht aus wie eine durchgeschüttelte Holzschachtel. Er ist nach vorne gerutscht und steht halboffen, so dass ein Haufen gelblicher Knochen zu sehen ist. Hiervon mache ich ein Foto, von den Särgen, aus denen halbverfallene Gesichter und Körper in Totenhemden herausschauen, jedoch nicht, das erscheint mir dann doch zu respektlos.
Ein Platz, an dem man bleiben möchteIch setze mich auf eine Bank, eine ältere Dame mit Gehstock und Blumen in der Hand lächelt mich an, während sie die Tür einer Begräbnisvilla aufschließt und im Innern verschwindet. Die Ruhe, das Licht, die rauschenden tropischen Bäume und zwitschernden Vögel lassen es nicht eine Sekunde zu, dass ich Ekel empfinde oder mir unheimlich zumute wird, so wie vor ein paar Jahren in der Körperwelten-Ausstellung Gunther von Hagens im Berliner Postbahnhof. Da wurde mir sogar übel, was vor allem an der aus meiner Sicht egozentrischen und würdelosen Zurschaustellung menschlicher Körper durch den Künstler lag. Hier jedoch, auf diesem paradiesischen Hügel, ist alles stimmig. Mit diesem Friedhof wurde ein Ort erschaffen, von dem ich mir vorstelle, dass an ihm selbst in den Wintermonaten die Stimmung eines immerwährenden Frühlings herrscht. Die Bezeichnung Lissabons als „Stadt des Lichts" bekommt hier in diesem Moment eine Bedeutung, die ein Lächeln in meinem Gesicht hervorruft. Bei mir stellt sich das Gefühl einer tiefen Erholung ein, ein Urlaubsgefühl, Leichtigkeit. Nur eines hätte ich in diesem Moment sehr gerne: Ein Glas Wein und jemanden, der Fado für mich singt, Alfredo Marceneiro zum Beispiel, der an diesem Ort seine letzte Ruhe gefunden hat. Ich mache mich nur sehr langsam auf den Weg zurück ins städtische Treiben. Wo könnte es würdevoller sein, zu vergehen, selbst wenn Andere einem dabei von Zeit zu Zeit zusehen können?
Für Neugierige:
Cemitério dos Prazeres Praça São João Bosco Google Maps) Sommer täglich 9-18h, Winter täglich 9-17h Eintritt frei