Der Liedermacher ist jetzt 70. Leise ist er nicht. Ein Sonntagsgespräch mit Konstantin Wecker über Wut und Zärtlichkeit, Poesie und Widerstand und die weltverändernde Kraft von Worten.
So!: Herr Wecker, Sie mussten aus den mehr als 600 Liedern, die Sie geschrieben haben, für das Geburtstagsalbum "Poesie und Widerstand" dreißig Lieblinge aussuchen. Wie schwer ist Ihnen diese Wahl gefallen?
Konstantin Wecker: Eigentlich nicht so schwer, denn die, die ich ausgesucht habe, sind auch die, die wir aktuell im Programm haben. Ziel war ja, die alten Lieder dadurch zu beleben, dass wir sie mit dem jetzigen Bewusstsein, mit dem jetzigen musikalischen Hintergrund neu einspielen. Aber: Ein paar fehlen mir in dieser Auswahl schon.
So!: Ich würde gerne anhand der Songtitel auf dieser CD meine Fragen stellen.
Wecker: Klingt ungewöhnlich. Aber: Bitte sehr.
So!: Das erste Lied ist "Den Parolen keine Chance" --- Sie singen gegen die Menschenfänger, denen die alten Parolen "wieder aus den Mäulern sprudeln". Ist das jetzt notwendiger denn je?
Wecker: Ja! Natürlich! Ich hätte nicht geglaubt, dass so etwas wirklich wieder nötig sein würde. Das Lied "Sage nein" habe ich 1990 geschrieben, als die ersten Asylantenheime brannten. Damals dachten wir, nach diesem kurzen Aufwallen ist der Spuk wieder vorbei. Doch wahrscheinlich gärte das im Untergrund weiter, es ist überhaupt nicht vorbei. Europa droht faschistisch zu werden. Natürlich wird es ein neuer Faschismus sein, nicht mehr der altbekannte Hitler-Faschismus. Man muss das ganz klar politisch sehen: Das Finanzkapital wehrt sich, es will sich um jeden Preis erhalten. Der Kapitalismus weiß, dass er am Ende ist, aber er schlägt noch einmal ganz wild um sich. Halten lässt sich diese ungerechte Welt aber nicht mehr. Die Menschen sind verunsichert. Nehmen wir das Phänomen Leiharbeit: Es wird doch kaum jemand mehr fest angestellt. Wo es möglich ist, versucht man, die Leute zur Zeitarbeit zu zwingen. Wie kann es Solidarität unter Leiharbeitern geben? Unmöglich! Früher war man noch stolz darauf, Arbeiter zu sein und im Schulterschluss mit anderen Arbeitern die Gewerkschaften unterstützen. Aber wenn du Zeitarbeiter bist oder Leiharbeiter, dann hast du doch die Konkurrenz direkt neben dir sitzen. Jeder kann dir deinen Job wegnehmen. Das verunsichert die Leute. Und die weniger Bewussten werden sehr anfällig für Parolen aller Art.
So!: "Ich singe, weil ich ein Lied hab'" --- Ist es das, was Sie auch mit 70 noch auf die Bühne treibt?
Wecker: Ja. Es ist doch erstaunlich, dass ich vor gut einem halben Jahrhundert eines meiner ersten Lieder geschrieben habe, mit einem Satz, der mich seitdem begleitet. Er hat mein ganzes künstlerisches Leben wie ein Motto vorausgesagt. Das zeigt mir wieder, dass sich meine Lieder wirklich von selber schreiben. Ich schreibe sie nicht. Irgendetwas stellt sie in mir fertig. Und dieses Irgendetwas ist eindeutig klüger als ich (lacht) .
So!: "Sage Nein" --- Sie haben oft Nein gesagt, sind nie mit der Meute mitgelaufen. Haben Sie damit anderen Mut gemacht, es Ihnen gleich zu tun?
Wecker: Was ich jetzt, nach mehr als vierzig Jahren auf der Bühne feststelle, ist: Das einzige, was Kunst vermag, ist Mut zu machen. Und das ist wichtig. Auch wenn mir immer vorgeworfen wird: "Seit vierzig Jahren versuchst du, die Welt gerechter zu machen. Jetzt schau sie dir mal an. Du hast ja gar nichts erreicht." Man müsste mal - wie mein Freund Hannes Wader - die umgekehrte Frage stellen: Wie sähe die Welt aus, wenn es diese vielen Mosaiksteinchen nicht gäbe? Die kommen nicht nur von Künstlern, auch von Journalisten, auch von vielen ganz unbekannten Leuten aus der Zivilgesellschaft. Wenn es die nicht gäbe, wäre es noch viel schlimmer. Ich bekomme viele Rückmeldungen von Menschen, die sagen, ich hätte ihr politisches Bewusstsein vor dreißig, vierzig Jahren erweitert und geprägt. Eben dadurch, dass ich ihnen Mut gemacht hätte, ihren eigenen Weg zu gehen. Ihren Weg, nicht meinen, der ist nicht so wichtig. Das ist also etwas, was Kunst kann. Das ist der Gegensatz zu Kommerz. Im Kommerz versucht man, das Publikum so zu erziehen, dass es sich am besten die gleiche Kleidung kauft wie der Künstler, sich genauso stylt. In der Kunst ist das anders. Dostojewski gibt mir nie das Gefühl, ich solle so werden wie Dostojewski. Nein, ich soll so sein, wie ich bin. Ich kann mich selbst weiterentwickeln. Für mich war das sehr wichtig. Mein Leben haben ein paar Dichter und Dichterinnen ganz entscheidend geprägt. Ich wäre nicht der, der ich bin ohne Oscar Maria Graf, ohne Henry Miller, ohne Dostojewski, ohne - natürlich - die Lyriker wie Rilke oder Kaléko. Mascha Kaléko hat mir als erste gezeigt, wie das Innere einer Frau aussieht. Als junger Mann weiß man das ja nicht so genau. Kaléko war so unheimlich offen, so ehrlich. Und dann Hannah Arendt. Ich habe drei Heldinnen: die Kaléko, die Arendt und die Rosa Luxemburg. Neulich habe ich in einem Post geschrieben, dass ich bei der nächsten Wahl Rosa Luxemburg wählen werde. Da kamen natürlich saudumme Kommentare wie: "Die ist doch schon tot." (lacht). Rosa Luxemburg hat einmal gesagt: "Die Revolution ist wichtig, aber wenn auf dem Weg zur Revolution ein Wurm zertreten wird, dann ist das nicht richtig." Das waren noch Sozialisten! Mit einem großen Herzen, mit Mitgefühl. Eine tolle Frau!
So!: "Der alte Kaiser" --- Bei diesem Lied haben linke Gruppen Sie früher ausgepfiffen. Waren Sie da enttäuscht?
Wecker: Interessanterweise habe ich mich früher gar nicht so als politischer Sänger gesehen. Ich wurde zu einem durch den "Willy". Eigentlich wollte ich Liebeslieder schreiben und vor allem meiner eigenen Musik frönen. Aber diese Kritik damals war ja nicht nur inhaltlich. Mir wurde zum Beispiel vorgeworfen, dass ich ein Cello auf der Bühne habe, weil ein Cello ja ein bourgeoises Instrument sei. Als Bayer war ich ja auch noch ein Sonderfall: einer, der vom Genuss schreibt. Das war in jener Zeit alles ein wenig verdächtig. Da musste die klare politische Aussage im Vordergrund stehen. Da ich mich immer gegen starre Ideologien gewehrt habe, war ich für viele schon ein Feindbild.
So!: "Endlich wieder unten" --- Haben Sie sich Ihre Drogen-Exzesse in den Achtziger- und Neunzigerjahren selbst verziehen?
Wecker: Verzeihen muss man sich in jedem Fall, glaube ich. Aber ich muss sagen: Ich bereue schon vieles. Nicht unbedingt, dass ich es ausprobiert habe. Das gehört zum Leben dazu. Ich war immer ein Herdplatten-Anfasser. Ich musste alle Erfahrungen immer selbst machen. Ich bin in die Drogen nicht aus Verzweiflung hineingeraten, sondern immer nur aus Genug-ist-nicht-genug-Gründen. Ich wollte noch mehr erfahren. Was mir aber wirklich leid tut, ist die Zeit, die ich vergeudet habe, etwa, wenn es um die Beschaffung ging für etwas, das bei jedem weiteren Aufguss nie mehr so wird wie beim ersten Mal. Wer weiß, wo ich heute mit meinem Bewusstsein stünde, wenn ich mir diese Jahre erspart hätte. Auf der anderen Seite: Wenn man bewusst damit umgeht und sich selbst ganz allein in die Verantwortung nimmt, dann kann man wenigstens daraus lernen.
So!: "Was passierte in den Jahren" --- Haben Sie das Gefühl, in Ihrem Leben Zeit vergeudet zu haben?
Wecker: Wie schon gesagt: durch diese Drogengeschichten sicherlich. Gestern Abend, als ich angesagt wurde, hat man aufgezählt, wie viele Lieder und Filmmusiken ich geschrieben habe. Als ich das so hörte, dachte ich: Wann habe ich das eigentlich alles gemacht? (lacht). Es ist mir ein Rätsel, denn ich habe ja auch sehr gut gelebt dabei. Ich scheine wohl immer sehr intensiv gearbeitet zu haben, war ständig auf der Bühne. Nur die letzten zwei, drei Jahre in der Drogenkrankheit, vor meiner Verhaftung, die waren eher eine Qual. Für mich und für das Publikum. Ich habe immer versucht, sehr intensiv zu leben. Dadurch habe ich auch viel Blödsinn gemacht. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, auf seine eigenen Fehler zurückzublicken. Man kann sich - und das halte ich eher für unreflektiert und eitel - permant geißeln und "Mea Culpa" schreien. Das bringt nicht viel. Wichtig ist die Auseinandersetzung damit und der Versuch, zu begreifen, wo man dadurch jetzt steht. Ich hatte immer schon die Chance, sehr im Augenblick zu leben durch mein Musizieren und durch die Kreativität, die mir passiert ist. Ich kann ich ja nichts dafür, das ist ja reine Glückssache. So zu leben ist eine große Gnade. Viele Leute leben oft in der Sorge um die Zukunft und im Ärger über die Vergangenheit. Das sind die Momente, in denen nicht wir denken, sondern, wo es uns denkt. Dagegen hilft nur, den Augenblick wirklich anzunehmen. Es gibt einen guten Trick: Immer, wenn es uns denkt, sollte man sich fragen: Was in mir denkt das eigentlich? Wer ist der, der hinter diesem Denken steckt? Es gibt tief in uns ein Selbst, das man - gerade auch in Momenten des Leids - entdecken kann. Es gibt einen wunderschönen Satz aus einem Rilke-Gedicht: "Ach, in meinem wilden Herzen wohnt obdachlos die Unvergänglichkeit." Schöner kann man es nicht sagen. Man kann sowieso vieles nicht schöner sagen als Rilke. Ich habe dieses Gedicht, obwohl ich so viel von ihm kenne, erst kürzlich entdeckt. Es hat mich umgehauen. Das ist es: "In meinem wilden Herzen wohnt obdachlos die Unvergänglichkeit." Ab und zu spürt man sie.
So!: "Weltenbrand" --- Wo wird zurzeit am gefährlichsten gezündelt?
Wecker: Mein Lied "Weltenbrand" hat mit diesem aktuellen Weltenbrand gar nicht viel zu tun. Da geht es um einen anderen, um den Ur-Brand. Gezündelt wird am meisten im Moment dort, wo Atomwaffen perfektioniert und neu aufgerüstet werden. Wie verrückt muss die Menschheit sein, so etwas zu machen? Das ist doch nur noch Wahnsinn. Hat man sich denn nie beschäftigt mit all den Schriften aus dem Ersten Weltkrieg von Leuten, die begeistert in diesen Krieg gezogen sind und dann entsetzt waren über dieses Hinschlachten von anderen und das Sich-selbst-abschlachten-Lassen für irgendeine nationalistische Wahn-Idee. Jetzt führt man Kriege fürs Geld, nichts anderes ist der Hintergrund. Es geht nur um Kohle. Ich weiß gar nicht, ob wir da irgendetwas dagegenhalten können. Ich versuch's. Aber es ist furchtbar: Wir haben ein Atom-Arsenal, mit dem sich die Menschheit fünfzigfach vernichten kann. Und dann muss man diese Waffen noch aufrüsten und präzisieren, damit man eine Atombombe gezielt in einen Stadtteil lenken kann? Das ist doch völlig irre.
So!: "Niemals Applaus" --- Ein Lied für Ihren Vater. Wie hat er Sie geprägt?
Wecker: Es war ein Wunder und ein Glück, in dieses Elternhaus hineingeboren werden zu dürfen. Wenn ich mir vorstelle, wo man überall anders hätte hingeboren werden können. Was hatte ich für ein Glück! Mein Vater und meine Mutter waren Antifaschisten. Der Papa, 1914 geboren, war ein antiautoritärer Mensch. In einer Zeit, in der es fast nur autoritäre Militaristen gab. So durfte ich groß werden. Mein Vater hat mich durch seine Haltung geprägt, durch seine Güte und Weisheit. Und natürlich auch durch seine Musik. Er war ja Opernsänger. Und dann war da noch die Liebe der Mutter zur Literatur. Beides spielt eine ganz große Rolle. Von der Mama habe ich die Liebe zu Gedichten, zur Poesie, vom Papa die Liebe zur Musik. Ohne diese beiden hätte ich nicht annähernd diese Chance haben können, einen Beruf ergreifen zu dürfen, der mir Spaß macht. Je älter ich werde, desto dankbarer werde ich. Es ist alles nur Glück. Ich habe nur Glück gehabt. Wenn man das erkennt, dann verpflichtet das schon auch dazu, etwas zurückzugeben. Früher habe ich das immer abgelehnt, habe gesagt, ich sei nicht verantwortlich. Da hatte ich Angst, mein unmoralisch-freies Leben nicht weiter führen zu können. Heute sehe ich das ein bisschen anders. Immer noch glaube ich aber, dass ich nicht verantwortlich bin für das, was ich mit meinen Texten auslöse.
So!: "Liebesdank" --- Sollte man seine Gefühle viel öfter offenbaren?
Wecker: Das ist doch die einzige Möglichkeit für ein menschliches Wesen: seine Gefühle zu zeigen und sich nicht hinter einer Maske zu verstecken. Denn: Was ist diese Maske? Das ist doch auch nur ein Bild, das wir uns von uns machen, meistens geprägt durch die Umwelt. Man will gefallen, man will bei anderen ankommen. Bestes Beispiel ist Facebook: Da ändern sich gerade die jungen Leute, wenn sie Persönliches posten, mit dem, was die anderen schreiben. Ich rate denen immer: Schreibt wieder Tagebuch. Denn: Das Tagebuch darf keiner lesen, da kann man sich selbst schreibend näher kommen. Das ist doch eine große Chance: sich schreibend zu entdecken. Weil in jeder Formulierung schon wieder eine neue Erkenntnis steckt. Klar, wir müssen uns dauernd selbst auf die Schliche kommen. Das schaffen wir auch nicht, wenn wir unsere Gefühle verstecken. Denn: Wenn wir sie vor anderen verstecken, verstecken wir sie auch vor uns selbst. Dabei geht es ja nicht um Sentimentalitäten. Aber etwa echte Trauer: Natürlich soll man die zeigen und nicht verstecken. Und vor allem auch die Freude. Ich weiß, dass es gerade junge Menschen schwer haben, wenn sie ihre Gefühle zeigen. Weil sie dann ja nicht mehr cool sind. Trotzdem birgt es die große Chance, ein Mensch sein zu können. Es gibt ja viele Menschen, die sagen: "Jetzt bin ich da reingeboren. Was soll der Schmarrn? Irgendwann geht es auch wieder vorbei." Aber da man nun schon mal da ist, sollte man sich doch überlegen, dass es vielleicht eine einmalige Chance ist. Die wir mit diesem grässlichen Materialismus, den wir zur Zeit anbieten, garantiert versäumen.
So!: "Stirb ma ned weg" --- Haben Sie Angst vor Verlust? Vor dem eigenen Tod?
Wecker: "Stirb ma ned weg" war gezielt das Lied - ursprünglich habe ich es ja mit Lucio Dalla gesungen - für die Zeit, als Aids bekannt wurde. Und als die ersten Schuldzusprechungen den Homosexuellen gegenüber da waren. Es war auch ein Liebesbekenntnis zu einer Gesellschaft, die wir jetzt, Gott sei Dank, schon zum großen Teil haben. Eine Gesellschaft, die Homosexualität nicht verdammt, sondern als völlig normal ansieht. In dem Lied geht es um den Tod eines Aids-Kranken, und der Freund bedauert diesen Tod. Das hatte sicher, wie vieles, das man schreibt, auch mit einer eigenen Situation zu tun. Nicht konkret dieser Fall, aber in der Zeit ging es mir nicht gut. Natürlich war mir in meinen Drogenzeiten der Tod auch sehr nah. Nicht aus Angst, sondern aus Verzweiflung. Weil ich in diesem unbewältigten Leid, in dieser Verfassung nicht sterben möchte. Eigentlich wäre es mein Ziel, klar zu sterben. Es ist schon interessant zu sehen, dass Menschen, die eine Reise in ein unbekanntes Land planen, sich Reiseführer kaufen und vor der Reise mit Menschen sprechen, die dort schon einmal waren. Aber die letzte große Reise, die wir antreten, auf die bereiten wir uns nicht vor. Dabei gäbe es genügend Literatur. Man kann darüber vieles nachlesen, man kann sich damit beschäftigen. Aber: Es wird verdrängt. Oder: Verlacht. Das ist auch ein Wesen des Materialismus, der sagt: Da ist sowieso Schluss und es gibt nur das, was unsere Ratio uns vormachen kann. Wobei ich mir sage: Wenn nur der Hauch einer Chance besteht, dass es noch etwas anderes gibt, dann sollte man diesen Hauch doch ernst nehmen. Ich habe einen Sterbebegleiter zum Freund, einen Theologen. Der sagt: Am leichtesten sterben die Agnostiker. Die sind offen, die lassen es einfach auf sich zukommen. Am schwersten, sagt er, sterben katholische Priester. Weil sie sich am Ende fragen: War es vielleicht doch nicht ganz richtig? All das, was ich so für mich in meinem festen Gebäude gesehen habe? Ich glaube, dass alle, die einer starren Weltsicht erliegen, größere Probleme haben.
So!: "Was immer mir der Wind erzählt" --- Fliegen Ihnen Ihre Lieder einfach zu? Oder ist das Songschreiben schwere Arbeit?
Wecker: Nein, nein: Das Schwere daran ist, zu warten, bis einem endlich wieder etwas zufliegt (lacht). Ich habe es vorhin schon erwähnt: Ich habe - und das sage ich jetzt auch als Lyrik-Liebhaber - wirklich ein paar sehr geglückte Sachen geschrieben. Und ich war immer sehr erstaunt, wenn ich es vor mir hatte. Ich hatte nie das Gefühl, dass man darauf stolz sein könnte. Weil: Ich kann ja nichts dafür. Das ist mir zugeflogen. Die einzige Vorbedingung: Man muss etwas lesen, damit man auch etwas schreiben kann. Anders geht es einfach nicht. So wie man, wenn man eine Melodie umsetzen will, wenigstens ein Instrument ein bisschen bedienen können sollte. Mei, ich habe so viel geschrieben. Und wenn mir jetzt ein paar Jahre nichts mehr einfällt, dann fällt mir eben nichts mehr ein. Andere Sachen gehen ja, Prosa, ohne Probleme. Da kann ich ja weiter schreiben. Und Filmmusiken kann ich auch weiter machen. Das ist interessant: Der Melodienfluss ist ungebrochen. Der funktioniert immer. Ich kann mich jeden Tag hinsetzen und das Telefonbuch vertonen. Ob das dann großartig wird, weiß ich nicht, aber es fällt mir immer was ein. Bei der Poesie ist es anders. Das ist ja auch verständlich. Die Musik ist eine nonrationale Sprache, die Sprache wiederum ist rational. Diese Rationalität im Gedicht zu überwinden, ist natürlich ein größeres Problem. Weil, immer, wenn du schreibst, die Ratio im Hinterkopf ist. Dabei sind Worte - ähnlich wie Töne - zuerst einmal eigentlich nur Symbole. Das vergessen wir immer. Die Buddhisten sagen: Der Finger, der auf den Mond deutet, ist nicht der Mond. Und so ist auch das Wort "Mond" nicht der Mond, sondern ein Symbol. Etwas, das du völlig anders siehst als ich - und ein Wissenschaftler noch mal anders. Oder ein Mondsüchtiger.
So!: "Inwendig warm" --- Wo fühlen Sie sich richtig geborgen?
Wecker: Auf der Bühne im Zusammenspiel mit den anderen Musikern. Und manchmal in der Toskana, meditierend unter einem Maulbeerbaum. Zu dem ich übrigens ein immer stärkeres Verhältnis habe. Der ist 200 Jahre älter als ich, der weiß noch viel mehr. Aber die Musik ist schon eine Möglichkeit, der Geborgenheit. Da kann man einfach nur sein, ohne darüber nachzudenken, was man ist, sondern nur sein. Wie Wittgenstein so schön sagt: "Es gibt das Unaussprechliche. Darüber muss man schweigen." Es gibt Sachen, die sind nur im Schweigen zu erkennen.
So!: "Wut und Zärtlichkeit" --- Zwischen diesen beiden Extremen, beschreibt das Ihr Leben?
Wecker: Auch. Es gibt mehrere Extreme, die mein Leben beschreiben. "Poesie und Widerstand" ist auch so eines. Wobei ja Poesie eigentlich in der heutigen Zeit schon Widerstand ist. Aber der Text zu "Wut und Zärtlichkeit" hat mir gezeigt, dass man beides nebeneinander bestehen lassen kann. Ich habe auch - wohl wie die meisten - gedacht, man müsse sich als Älterwerdender zu einem Liebenden entwickeln. Es ist ja auch wichtig, Liebe immer mehr zu lernen. Weil sie das Schönste und das Wichtigste auf der ganzen Welt ist. Ich meine jetzt nicht nur die Liebe zwischen Partnern. Die alten Griechen haben da ein viel weiteres Spektrum mit verschiedenen Worten für verschiedene Arten der Liebe. Liebenlernen ist natürlich schon ein Ziel. Aber: Dann kommt einem die Wut immer dazwischen. Mir hat das Lied gezeigt, dass man einfach beides bestehen lassen kann. Noch eine interessante Geschichte: Ich bin befreundet mit dem New Yorker Zen-Meister Bernie Glassman. Ein jüdischer Zen-Meister. Ein ganz spannender, toller Mann. Er kam gerade aus Auschwitz, wo er sein alljährliches Schweige-Retreat geleitet hatte für die Nachkommen der Täter und der Opfer. Eine ganz wunderbare Sache. Er kam vollgefüllt voller Liebe zurück. Und ich sagte zu ihm: Aber, wir brauchen doch die Wut. Und er antwortete: Nein, alles muss aus Liebe geschehen. Aber, entgegnete ich, ohne Wut hättest du doch gar nicht angefangen, dich in deinen sozialen Projekten für deine Obdachlosen einzusetzen. Man muss doch zuerst einmal erkennen, welche Ungerechtigkeiten es gibt. Und er lächelte mich an mit seinem unvergleichlichen Lächeln und sagte: Stimmt, die Wut ist wichtig. Aber: Handeln sollten wir aus Liebe.
So!: "Empört euch" --- Ist es noch nicht zu spät, um sich zu empören, sich zu beschweren und zu wehren?
Wecker: Ich hoffe nicht. Das ist ja eine Hommage an Stéphane Hessel und sein Buch "Empört euch". Dieser große alte Mann, der jetzt leider verstorben ist, war in der Résistance dabei, hat die Uno mitbegründet. Er hat mit über neunzig dieses kleine Büchlein geschrieben über unsere so unglaublich ungerechte Welt und die Zerstörung der Natur. Das ist ihm erst in den letzten Jahren so aufgefallen. Er war der Meinung, die Empörung sei ganz wichtig. Er hat geschrieben: "In der Résistance war es einfacher, Widerstand zu leisten. Da hat man eben ein Gleis in die Luft gesprengt und daraufhin ist der Zug der Nazis entgleist. Jetzt sind die Machtverhältnisse viel undeutlicher und nicht so offensichtlich." Und trotzdem richtet er seinen Aufruf an die Jugend: Empörung ist wichtig! Widerstand ist wichtig!
So!: "Was keiner wagt" --- Wie wichtig ist der Mut zur Anarchie für unsere Gesellschaft?
Wecker: Wenn ich das Wort Anarchie sage und bekenne, dass ich Anarchist bin - oder lieber: Anarcho, denn ich mag diese ganzen -ismen nicht - dann ist das nichts anderes als die Utopie einer gewaltfreien, herrschaftsfreien Gesellschaft. Diese Utopie muss, glaube ich, in jedem liebenden Menschen sein. Warum gibt es das Recht, dass Menschen über andere Menschen herrschen? Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Arno Gruen, mein wunderbarer Freund, der leider auch schon verstorben ist, hat sein letztes Büchlein "Wider den Gehorsam" genannt. Mit dem Gehorsam ist das auch so eine Sache: Woher nimmt man überhaupt das Recht, Gehorsam zu fordern? Am besten noch blinden Gehorsam. Woher? Es ist ganz wichtig, die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft weiterzutragen. Man muss dabei aber immer wieder versuchen, aufzuklären, was das Wort Anarchie bedeutet. Es heißt eben nicht: Ich sprenge jetzt den nächsten Telefonmasten in die Luft.
So!: "Leben im Leben" --- Trotz allem Elend in der Welt: Wie kann man dennoch zufrieden leben?
Wecker: Es gibt ein tolles Buch, das ich im Moment mit Begeisterung lese. Von Desmond Tutu und dem Dalai Lama über das Glück. Die Kernfrage dieses Buches ist: Ist es möglich in einer Welt voller Leid trotzdem Freude zu empfinden, glücklich zu sein? Es ist so schön, das zu lesen, weil diese beiden wunderbaren alten Männer in ihrer Weisheit so einfach sind. Es ist so unprätenziös geschrieben. Nichts ist da geschwurbelt, es sind ganz klare, einfache Sätze. Der Dalai Lama sagt sinngemäß, die Freude sei deswegen so wichtig, weil sie ja ein Wesenskern von uns sei, den wir entdecken. Durch diese Freude seien wir auch in der Lage, wieder Mitgefühl zu empfinden. Auch dadurch, dass wir erkennen, dass die Freude eben ab und zu nicht da ist. Man sollte ja Freude vermitteln - und nicht Leid. Auch das Mitgefühl ist, finde ich, immer ganz wichtig, um sich selbst wieder einzunorden. In Momenten, in denen es mir sehr schlecht geht, denke ich darüber nach, welch unglaubliches Glück ich gehabt habe. Ich könnte jetzt auch mitten in Syrien sitzen im Bombenhagel. Das nimmt schon mal was weg von deinem Schmerz und Kummer. Dadurch empfindest du aber auch wieder für den anderen mit. Es ist schon wichtig, sich zu besinnen, dass das Recht des Menschen eigentlich ein Recht auf ein Leben voller Freude ist.
So!: "Die weiße Rose" --- Sind Sophie und Hans Scholl und die anderen Widerstandskämpfer für Sie ein Vorbild?
Wecker: Ja, natürlich. Vor allem Sophie Scholl. Aber es gab ja auch ganz viele, das wird immer vergessen, aus dem kommunistischen Lager, die dann nach dem Krieg ganz bewusst nicht mehr erwähnt wurden. Auch die haben einen tollen, ganz wichtigen Widerstand geleistet. Wieso sage ich das jetzt? Eigentlich könnte man sagen: Die haben ja nichts bewirkt. Der Zweite Weltkrieg wurde nicht verhindert, Hitler wurde nicht gestürzt - trotzdem haben sie etwas bewirkt. Sie haben ein Zeichen gesetzt. Für die nächsten Jahrhunderte wird Sophie Scholl ein Zeichen sein für einen aufrechten Gang. Ihr letztes Vernehmungsprotokolls hat die DDR unter Verschluss gehalten. Erst nach der Wende wurde es wiederentdeckt. Der Grund: Scholl war nicht so links, wie man sie in der DDR gerne gehabt hätte. Sie war eine christliche Widerstandskämpferin. Im Hörbuch zu diesem Protokoll lese ich den Polizeibeamten, der sie verhört. Das ist unglaublich: Der wollte sie davonkommen lassen. Aber die Frau hat mit einer Offenheit von sich erzählt. Dinge, von denen heute jeder sagen würde: völlig logisch, völlig richtig. Doch damals war jeder einzelne Satz natürlich schon ein Todesurteil. Ein tolles Mädchen. 21 Jahre war die erst. Ich habe ein Foto von ihr zu Hause hängen, auf dem sie - nur ein paar Stunden vor ihrer Hinrichtung - zusammen mit ihrem Bruder noch eine Zigarette raucht und sie sich gegenseitig anlachen. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Einfach, weil sie sich sicher waren, das Richtige zu tun. Die sind schon Vorbilder.
So!: "Novalis" --- Ein Poet, der Sie beeinflusst hat?
Wecker: Ja. Natürlich. Mich haben die Frühromantiker und auch die Spätromantiker sehr beeinflusst, vor allem Eichendorff. Bei Novalis hat man immer dieses revolutionäre Potenzial gespürt. Das habe ich geliebt, als junger Mann. Novalis habe ich erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt. Aber ich habe mich natürlich an jedes Wort genau erinnert. Obwohl man es dann wieder anders liest. Das meinte ich ja auch vorhin mit den Symbolen. Darum ist es auch so blödsinnig, Gedichte zu interpretieren. Weil man sie als Siebzehnjähriger anders liest als als Siebzigjähriger. Es sind die gleichen Worte, aber sie füllen sich mit anderem Leben an, mit anderem Inhalt. Eigentlich ein großartiges Erlebnis.
So!: "Alles das und mehr" --- Was wünschen Sie sich noch?
Wecker: (lacht) Dass ich bei meinem nächsten Versuch - in dem Lied heißt es ja: "Willst du das ganze Abenteuer noch mal wagen?" - nicht zu sehr zur Verantwortung gezogen werde für den vielen Blödsinn, den ich gemacht habe in meinem Leben. Sonst müsste man Angst haben, als Kakerlake oder sowas wieder auf die Welt zu kommen (lacht) . Na ja, ganz so schlimm sehe ich es nicht. Die Frage ist: Was kann man wiedergutmachen? Das geht meist nur, wenn die Menschen noch leben, denen man wehgetan hat. Aber das erkennt man oft erst viel später. Man tut immer Leuten weh, das geht nicht anders. Vielleicht ist es auch nur schlimm, wenn man etwas bewusst macht. Aber ich weiß, dass ich oft früher im Streit sehr zornig sein konnte, sehr selbstherrlich und vor allem rechthaberisch. Ich habe da ein interessantes Erlebnis gehabt im Knast. Darum bin ich dem ja auch so dankbar. Es war eine tolle Zeit. Leidvoll, aber toll. Da hatte ich ein paar Stunden in meiner Zelle, in denen ich Teile meines Lebens ganz klar vor Augen hatte. Allerdings mit vertauschten Rollen: Ich stand mir selbst gegenüber. Ich war zum Beispiel im Streit der andere. Da merkte ich plötzlich, was ich Angst vor mir haben kann. Einfach, weil ich laut bin, weil ich auch verletzend sein konnte. Plötzlich hatte ich vor mir selbst Angst. Erst lange danach habe ich von einem befreundeten Psychologen erfahren, dass das eigentlich die Endphase einer Jung'schen Therapie wäre: sich so aus sich herauszunehmen, dass man sich von außen erleben kann. Nicht nur sehen, sondern erleben. Ich habe das wirklich vom Gefühl her erlebt. Es war nicht schön, was ich da an mir gesehen habe. Wir beschönigen uns ja immer, anders können wir überhaupt nicht existieren, glaube ich. Aber wenn man in eine Zerbrechlichkeit hineingerät, in der das wegfällt, dann ist das nicht besonders angenehm.
So!: "Dass alles so vergänglich ist" --- Hat Sie das Alter gezwungen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Wecker: Bei mir kommt seit meinem siebzehnten Lebensjahr in jedem zweiten Gedicht irgendwie der Tod vor, die Vergänglichkeit. Früher natürlich anders. Ich erinnere mich an eines meiner ersten Lieder, das hieß: "Lang mi net o, du depperter Tod". Das war also mehr eine Kampfansage. Heute würde ich das nicht mehr so wagen ( lacht ). Aber der Tod hat immer eine Rolle gespielt. Es ist ja eigentlich auch das, was uns antreibt, über uns hinauszuwachsen in unseren Gedanken, in unseren Einsichten. Ich habe mich immer damit auseinandergesetzt. Nur in den Momenten, wo ich mehr auf mich hätte aufpassen müssen komischerweise nicht (lacht). Da hat das plötzlich keine Rolle mehr gespielt.
So!: "Kleines Herbstlied" --- Wird die Frage wirklich zur Qual: "Wer weiß, ob ich noch bin beim nächsten Mal"?
Wecker: Die wird immer wieder mal zur Qual. Dabei ist es fast unsinnig. Ich glaube, es war Sokrates, der gesagt hat, über den Tod nachzudenken, sei obsolet, denn wenn es weitergeht, dann geht es weiter. Und wenn wirklich Schluss ist, dann merkt man es nicht mehr. Doch allein, dass wir immer wieder diese Ahnung vom Jenseits haben. Ich glaube nicht, wie es materialistische Philosophen sagen, dass das nur so ist, weil wir so Angst haben vor der Sterblichkeit. Es ist nicht nur die Angst, es ist auch eine Ahnung. Über die Quantenphysik wird einem klar, wie banal doch unser Denken manchmal ist, das sich ausschließlich auf Ursache und Wirkung bezieht, obwohl man weiß, dass es eigentlich eine Frage des Beobachtens ist. Ist ein Teilchen eine Welle oder ein Teilchen? Ist Materie nur gefrorenes Licht? Das lässt einen schon über all das hinausdenken, was man bis dahin als sichere Erkenntnis geglaubt hat. Die meisten großen Physiker sind auch große Mystiker gewesen. Die wurden durch ihre Erkenntnisse fast dazu getrieben.
So!: "Wenn der Sommer nicht mehr weit ist" --- Ist der Sommer immer noch Ihre Zeit?
Wecker: Ja. Das ist komisch. In meinem Lebensalter sollte ich mich vielleicht eher dem Herbst und Winter zuwenden, aber: Ich brauche meine Sonne und meinen Sommer (lacht). Es gibt ein wunderschönes Gedicht von Gottfried Benn: "Was schlimm ist". Darin heißt es am Schluss: "Nicht im Sommer sterben, wo die Erde warm ist und für Spaten weich." (lacht)
So!: "Das ganze schrecklich schöne Leben" --- Auch der Titel Ihrer Autobiografie. Würden Sie Ihr ganzes schrecklich schönes Leben noch mal so leben wollen?
Wecker: Im Lied, das ja auch Symbolcharakter hat, sage ich Ja. Es ganz genauso noch mal leben, ist vielleicht auch langweilig. Ich muss es noch einmal sagen: Es war und ist halt einfach ein schönes Leben, weil ich so unglaublich viel Glück hatte mit all dem, in das ich hineingeraten bin. Auch wenn ich gebeutelt wurde: Es war schon richtig, gebeutelt zu werden. Ich habe in meiner Autobiografie geschrieben: Nicht nur meine Lieder, auch mein Schicksal war klüger als ich.
So!: "Nur dafür lasst uns leben" --- Warum haben die Menschen so wenig Achtung vor der Schöpfung?
Wecker: Das hat zum Teil zu tun mit einem wahrscheinlich missverstandenen Wort aus der Bibel: Macht euch die Erde untertan. Wobei mittlerweile ganz klar ist, dass vieles auch an falschen Übersetzungen liegt. Außerdem: Die Bibel ist ja kein wissenschaftlicher Bericht, sondern ein poetischer Bericht, eine ganz eigene Dichtung mit einem ganz starken symbolischen Charakter. Franz Alt hat das sehr schön gemacht, indem er auf das Aramäische zurückging, gerade bei Jesus-Worten. Er hat das Vaterunser aus dem Aramäischen übersetzt, nicht - wie Luther - aus dem Griechischen. Das ist ein Riesenunterschied. Denn bei jeder Übersetzung geht viel von der Symbolkraft verloren. Es gibt ein kleines Büchlein, das heißt "Das Vaterunser auf Aramäisch". Darin hat ein Aramäisch-Kenner aus den USA die Worte in ihren verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten übersetzt. Das ist unglaublich spannend. Natürlich hat auch die Kirche viel dafür getan, um bestimmte Sachen ganz dogmatisch zu deuten. Dieser Satz "Macht euch die Erde untertan" ist sehr ausgenützt worden und wird bis heute ausgenützt von denjenigen, die sich nicht die Erde, sondern in erster Linie das Erdöl untertan machen wollen. Es ist entsetzlich, dass nichts anderes dahinter steckt als diese schreckliche Gier. Ich bin in einem Tribunal gegen Monsanto. Das hat leider nur symbolischen Charakter, richtig anzeigen kann man diese Leute nicht. Aber es sind ganz viele Anwälte und Juristen dabei. Dieses Tribunal hat stattgefunden und festgestellt, was Monsanto für verbrecherische Dinge tut mit Giften, die nicht nur die Erde, sondern auch die Menschen zerstören. Man kann ihrer nicht habhaft werden, weil es dann immer wieder eine neue wissenschaftliche Gegenstudie gibt, dass das alles ja gar nicht schädlich ist. Da hast du manchmal das Gefühl, dass da wirklich Mörder herumlaufen und die lachen uns aus. Das ist, als würdest du heute jemanden totschlagen und hernach vor Gericht kommt ein neues wissenschaftliches Gutachten, dass der gar nicht tot ist. Dann läufst du wieder frei rum. Es ist atemberaubend. Das ist einfach die Macht des Geldes, die Macht der Konzerne. Erich Fromm hat das in seinen letzten Schriften immer wieder deutlich gemacht. Er sagt: Es gibt die Biophilie, die Liebe zum Leben, die uns eigentlich alle treibt. Und dann gibt es die Nekrophilie. Sehr viele lieben das Tote mehr als das Lebendige. Fromm hat auch Hitler als Nekrophilen bezeichnet. Anders ist auch ein Selbstmord-Attentäter nicht zu erklären. Bei vielen passiert es aus großer Verzweiflung, weil sie am Lebendigen gescheitert sind. Es gibt Menschen, denen das Tote näher ist, denen die Abspaltung näher ist als das Einheitliche. Ich glaube, in diesen Konzernen sitzen ganz schön viele Nekrophile.
So!: "Ich habe einen Traum" --- Kann man mit Worten die Welt verändern?
Wecker: Womit sonst? Worte sind Symbole. In der Poesie haben sie die Möglichkeit, wirklich ins Herz zu gehen. Das ist der Unterschied zwischen Poesie und Parolen. Die Poesie will nicht ausgedeutet sein. Wir haben vorhin schon darüber gesprochen, wie anders man ein Gedicht in verschiedenen Lebensphasen, verschiedenen Situationen liest. Man kann es interpretieren, aber das wird nur einen minimalen Teil dessen ergeben, was in der Poesie drinsteckt, was in den Worten an Symbolkraft steckt. Da wir Menschen des Sprechens fähig sind, sollten wir mit Poesie die Welt verändern. Mit Fausthieben bestimmt nicht. Damit kann man die Welt auch verändern, aber nur zu etwas Schlechtem.
So!: "Schlendern" --- Wann hatten Sie zuletzt das Gefühl, über Wolken zu gehen, das absolute Glück gefunden zu haben?
Wecker: Immer wieder in den ruhigen Momenten in Italien. Das ist schon atemberaubend. Dort bin ich halt sehr mit der Natur vereint. Jeder hat wohl so einen Ort. Man kann auch in der Großstadt mit der Natur vereint sein, aber da ist es halt schwerer. Umgeben von Natur habe ich schon manchmal das Gefühl, dass man mit einem Baum sprechen kann. Und dann kann man auch über Wolken schweben. Aber das sind kurze Momente, allerdings: In dem Moment, in dem sie da sind, sind sie auch nicht kurz, weil ja jeder Augenblick ewig ist. Mit dem Wort "Glück" bin ich ein bisschen vorsichtig. Es heißt "Jetzt bin ich glücklich", meinetwegen, wenn man verliebt ist. Aber Glück ist, wie es ja auch in dem Lied heißt, "flüchtig, kaum zu fassen. Es tut gut, sich sein zu lassen." Dieses Sein-Lassen ist mir wichtig. Ich habe das Lied schon vor 16 Jahren geschrieben. Heute komme ich drauf, dass ein anderes Wort dafür besser passt: die Glückseligkeit. Ein Wort, das es in der spirituellen Tradition und bei den Mystikern auch gibt. Die Glückseligkeit ist der Zustand, der anhält. Das ist das Sein, das Dasein. Das Glück, wie gesagt, ist etwas, das flüchtig ist. Aber auch schön, wenn man es mal erwischt ( lacht ).
So!: "Tropferl im Meer" ---- Geht es Ihnen oft so, dass Sie im Durcheinander des Lebens nicht mehr weiter wissen?
Wecker: Ja, klar. Im Endeffekt sind "Tropferl im Meer" und "Schlendern" zwei Seiten einer Medaille. Wenn ich mich fühle wie ein Tropferl im Meer, dann ist es dieses Sein-Lassen, das so gut tut.
Interview: Andrea Herdegen Original