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Vernetzt auf Telegram: Wie gefährlich ist die Impfgegner-Szene in NRW?

Vernetzt auf Telegram: Wie gefährlich ist die Impfgegner-Szene in NRW?


Tötungsaufrufe, Verschwörungsmythen, Hass: Bei Telegram sammelt sich die Impfgegner-Szene. Sicherheitsbehörden sind beunruhigt. Wie tickt die Szene in NRW?


Wie setzt sich die Impfgegner-Szene in NRW zusammen?

In NRW gibt es mindestens 120 Gruppen und dutzende Kanäle, die einzelnen Regionen oder direkt dem Land zugeordnet werden können. Mindestens: Denn geheime Gruppen werden auf Telegram nicht gelistet, eine systematische Suche ist nicht möglich.

Klar ist: Einige tausend Menschen aus NRW, die gegen die Coronaschutzmaßnahmen protestieren, sind über Telegram vernetzt. Welchen Anteil Rechtsextreme an dieser Szene in NRW haben, ist schwer zu sagen.

Der NRW-Verfassungsschutz hat auf WDR-Anfrage geschrieben: "Relevant sind in Nordrhein-Westfalen etwa 300 Personen. Einige davon sind nicht nur Mitläufer, sondern als Aktivisten oder Verantwortungsträger bekannt, die wesentlich zur Organisation und zum Fortgang des Protestgeschehens beitragen." Die Szene verfolge kein gemeinsames ideologisches Weltbild, so der Verfassungsschutz. Es handele sich um eine überaus heterogene Gruppierung von Corona-Leugnern, Impfverweigerern, Verschwörungsmythikern, Esoterikern, vereinzelt bekannten rechtsextremistischen Personen bis hin zu Personen aus der bürgerlichen Mitte mit ideologisch schwer greifbaren Argumentationsmustern.

"Insgesamt ergibt sich das Bild eines zersplitterten, fragmentierten und in sich nicht geschlossenen Corona-Protestmilieus mit einer teils widersprüchlichen politischen oder gesellschaftlichen Agenda."

Wie gefährlich sind die Telegram-Netzwerke?

Telegram habe sich zur beliebtesten Plattform für Rechtsextreme und Verschwörungsideologen entwickelt, sagt Julia Smirnova, die für das Londoner Institut für strategischen Dialog zu Hass und Desinformationen im Netz forscht.

Neben Hass- und antisemitischen Botschaften finden sich bei Telegram auch Gewaltaufrufe gegen Menschen aus Politik, Wissenschaft oder Medizin. Das bestätigt eine Recherche der ARD, nach der täglich Tötungsaufrufe bei Telegram gepostet werden.

Die meisten dieser Aufrufe finden sich in Gruppen aus Ostdeutschland, aber auch in NRW kommt das vor, wie eine WDR-Recherche in mehr als 70 Telegram-Kanälen und Gruppen, die direkt NRW zugeordnet werden konnten, zeigt. Ein Beispiel dafür ist die Gruppe "Freie Nordrhein-Westfalen", deren Name eine Anlehnung an die rechtsextremistische Kleinstpartei "Freie Sachsen" ist - schreibt der Verfassungsschutz.

Zu finden sind dort Kommentare wie "auf Hochverrat gilt der Strick", bezogen auf den Bürgermeister von Bad Oeyenhausen. Oder auch: "Die Täter müssen Strafen bekommen, die auch in 200 Jahren in Geschichtsbüchern noch aufmerken lassen. Vergleichbar den Nürnberger Prozessen." In einer anderen Gruppe steht: "Am besten eine zügige Hinrichtung direkt nach der Verurteilung." Es geht um den US-Immunologen Anthony Fauci.

Forscherin Smirnova berichtet, dass seit Beginn der Pandemie rechtsextreme Akteure die Situation nutzten, um neue Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen. Viele seien auch auf etablierten Plattformen wie Facebook oder Instagram unterwegs. Dort gebe es Links zu den Telegram-Chats.


Mit welchen Strategien werden Menschen bei Telegram mobilisiert?

Es gibt verschiedene Auffälligkeiten in der Kommunikation, die als Strategie gedeutet werden können. Zum Beispiel ist ein wesentlicher Bestandteil vieler Gruppen, Demovideos zu posten. "Damit wird Menschen das Gefühl gegeben, dass sie nicht alleine sind", erklärt Smirnova. Außerdem bedienen sich viele einer emotionalen Sprache. Sie nutzen zum Beispiel Begriffe, die eine Gefahr durch den Staat suggerieren sollen: Polizeibeamte werden als "Söldner" bezeichnet, der deutsche Staat als "Diktatur". "Auf diese Weise wird in diesen Kanälen Gewalt gegen Vertreter des Staates legitimiert," sagt Smirnova.


Wieso unternimmt Telegram nichts?

In Deutschland sorgen Gesetze wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) dafür, dass soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Youtube und Instagram gegen illegale Inhalte auf der eigenen Plattform vorgehen müssen. Telegram versteht sich jedoch als Messenger - und für diese gilt das NetzDG nicht.

Trotzdem können auf Telegram Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern entstehen. "So kombiniert Telegram die Möglichkeit als Messengerdienst mit größeren Plattformen und kommt einem Massenmedium gleich", sagt Boris Holzer, Soziologe an der Universität Konstanz.


Welche Lösungsansätze gibt es?

Bislang zeigt sich Telegram wenig kooperationsbereit; das Unternehmen sitzt in Dubai und reagiert nicht auf Mahnungen aus Deutschland. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) drohte zuletzt damit, den Dienst abzuschalten. Und das Bundeskriminalamt kündigte an, Telegram mit Löschbitten zu überfluten, um den Druck für eine Zusammenarbeit zu erhöhen.

Analystin Smirnova hingegen schlägt Telegram vor, ein Meldesystem für illegale Inhalte in öffentlichen Kanälen und Chats einzurichten.

Früher oder später werde Telegram mit Behörden in Deutschland kooperieren müssen, wenn die Plattform weiter wachsen und mit Werbung in Kanälen verdienen wolle. Ob damit aber das Problem der Radikalisierung gelöst werde, bleibt offen.

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