Vier Stufen führen zum Papst. Er thront inmitten von sechs Kerzenleuchtern. Die Tiara drückt seinen Kopf nach unten. Zu seinen Füßen kniet ein Mönch in braunem Habit. Es ist kein Bild, vor dem ich stehe, sondern eine Szene, die sich direkt vor meinen Augen abzuspielen scheint - die Figuren lebensgroß, in der Situation eingefroren. Der Mönch ist Franz von Assisi, der von Papst Innozenz III. seine Ordensregel bestätigt bekommt. Ich stehe am Fenster der kleinen Kapelle und staune: Es ist ein Fenster in die Vergangenheit. Die dargestellte Audienzhalle wirkt so echt! Kardinäle und Bischöfe säumen den Gang, Schweizergardisten stehen parat. Ich kann den Blick nicht abwenden. So nah kam mir die Geschichte aus dem 13. Jahrhundert noch nie. Dabei ist dies nur eine von 20 Szenen aus Franziskus' Leben, die man auf einem Rundweg in Italien entdecken kann. Am Ende des Weges gelangt man in eine Kirche. Die Einheimischen haben diesem Ort den Namen "Sacro Monte di Orta" gegeben - der Heilige Berg von Orta. 2003 hat die Unesco ihn zum Weltkulturerbe ernannt, er liegt oberhalb des Ortasees in Norditalien. Für die Figuren hier standen Menschen aus der Region großen Künstlern Modell. Das wirkt bis heute. Die Charaktere erstarrten für die Ewigkeit. Wie so ein Figurenpark wohl aussähe, wenn er heute entworfen werden würde?
Ein wenig schaudert mich bei diesem Gedanken. Ich muss an moderne Kirchen denken. Wenn sie nicht leer sind, findet sich dort oft das typische Ensemble von brachialen Altären aus Stein, einem Tabernakel, der oft nur durch das ewige Licht als solcher erkennbar wird, und einem Kreuzweg aus Metall, der so abstrakt ist, dass man ein Insider sein muss, um ihn zu verstehen. Ich kenne kaum jemanden in meiner Altersgruppe, der das schön findet. Und wenn man ehrlich ist, ist das oft allenfalls gut gemeinte Kleinkunst, die den Menschen nicht mehr zum Staunen bringt. Und gerade das gehört für mich untrennbar zum Glauben dazu. Schon länger begleitet mich ein Satz aus einem Roman von Pascal Mercier: "Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt." So geht es mir auch! Orte wie der Heilige Berg in Norditalien öffnen meinen Blick für die Herrlichkeit Gottes. Sie bringen die Ungeheuerlichkeit der christlichen Botschaft auf eine Weise nahe, wie sie kein Wort ausdrücken kann.
Doch warum finde ich dieses Staunen fast ausschließlich in Gebäuden und Kunstwerken der Vergangenheit? Ein paar Ausnahmen beeindruckender moderner Kirchen kenne ich, aber ich habe das Gefühl, moderne Kunst ist handwerklich und intellektuell anspruchsvoller. Oder bin ich ein Banause? Während meines Studiums in Rom habe ich mit einem Professor mehrere Ausstellungen besucht, der mir die Schlichtheit moderner Kunst näherbringen wollte. Gerade in der Negation bilde sich viel mehr ab als in der bildhaften Darstellung, sagte er. In philosophischer Hinsicht mag das stimmen, andächtig macht mich das nicht.
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