Man kann nicht laut über Gräber gehen. Der Friedhof ist ein Ort, der mich zur Stille zwingt. Wenn ich zwischen den Namen mir fremder Menschen entlanggehe, bleibe ich manchmal unvermittelt stehen und denke: Wie er wohl gelebt, wen sie wohl geliebt hat? Der alte Stadtfriedhof in Tübingen hat mich besonders fasziniert und auch etwas gelehrt. Eigentlich wollte ich beim ersten Besuch nur zum wohl berühmtesten Grab - zu Hölderlin natürlich. Am Ende habe ich mich auf dem hügeligen Grünfleck inmitten der Stadt verloren. "Memento mori" - der Barock holte mich ein, und seine Melancholie hielt mich fest.
Wenn ich daran zurückdenke, spüre ich noch das weiche Moos, das dort jeden Schritt federt, höre die Äste knacken und sehe die Eichhörnchen springen. Es ist ein schlichter Friedhof mit ganz wenigen Figuren, keinem Kitsch. Die Gräber reichen bis ins 19. Jahrhundert und sind teils zerfallen oder völlig eingewachsen. Ein Gärtner zieht im Frühling einen langen Schlauch durch das Grün, um die Blumen wieder zum Leben zu erwecken. Der Tod liegt friedlich mitten in der pulsierenden Studentenstadt und macht keinen Unterschied: Bahnsteigschaffner, Pfarrerswitwe, Oberförster und Studienrat liegen Grab an Grab.
Mitten im Friedhof steht eine Kapelle. Doch sie ist eigentlich immer verschlossen. Warum sind die evangelischen Kirchen nur immer zu? Doch man braucht den Kirchenraum nicht. Obwohl der Friedhof auch ein Ort des Schmerzes ist, ist für mich Gott und sein Trost dort in so vielen Inschriften und Zeichen präsent. Allein die vielen Kreuze - bei den Gräbern ist so viel Hoffnung! Der Ort des Todes ist auch ein Ort des Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Er ist ein Zeugnis dieses Vertrauens. Der Friedhof hilft mir, mich nach dem Besuch auf das Wesentliche zu besinnen - und getrost in die Zukunft zu schauen. Doch manch einer sieht das wohl anders. In einem vergangenen Sommer habe ich Maria Plain, einen Wallfahrtsort vor den Toren Salzburgs, besucht. In traumhafter Bergkulisse spazierte ich an der prächtigen Basilika vorbei auf einer leichten Anhöhe mit Blick auf Stadt und Natur. Nach wenigen Metern kam ich an ein eingezäuntes Gelände mit lauter kleinen Bäumen. Allein ein Schild verriet, worum es sich handelte: "Paxnatura - Naturbestattung". Es war ein Friedwald. Direkt hinter der Kirche. Ich war verwundert über die vielen namenlosen, unsichtbaren Toten. Scheinbar wollen das immer mehr Menschen für sich. Ich könnte mir nie vorstellen, so begraben zu werden. Ich glaube und hoffe, dass mit dem Tod das Personsein nicht endet, dass die Seele weiterlebt. Vielleicht sogar, dass ich geliebte Menschen wiedersehe.
Diese christliche Hoffnung vom Leben nach dem Tod schenken uns die Toten mit ihren Gräbern. Dafür braucht es nicht gleich prächtige Marmorstatuen des Auferstandenen wie auf den großen Friedhöfen in Mailand oder Rom (die dennoch in jedem Fall einen Besuch wert sind!), es reicht auch ein kleines, unscheinbares Gräberfeld wie in Tübingen. Das ging mir vor allem bei einem Besuch auf, bei dem ich auf einem der ganz alten Kreuze erst bei genauem Hinsehen erkannte, dass etwas in zittrigen alten Buchstaben eingeritzt war: "Joh 11,23". Sonst nichts. Ich schlug die Bibelstelle nach und eine warme Zuversicht erfüllte mich. Dort stand: "Jesus sagte zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen." Es ist die Auferweckung des Lazarus. Am Zaun zum Friedwald habe ich dieses Gefühl vermisst.