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Fünf Jahre nach Merkels „Wir schaffen das": Wer ist „Wir"?

Flüchtlinge in Deutschland: Wer Bilanz ziehen will, sollte nicht nur auf wirtschaftliche Kennzahlen blicken. Der Leitartikel.


Das Fünfjahresjubiläum von Merkels Satz „Wir schaffen das" hat eine wahre Statistiken-Flut mit sich gebracht: Wieviele Flüchtlinge sind in Arbeit? Welche Bildungserfolge können sie vorweisen? Wie viele haben eine eigene Wohnung? Und: Was hat das alles „den deutschen Steuerzahler" gekostet? Merkels Versprechen wird an den immergleichen Maßstäben gemessen.

Es ist bemerkenswert, wie einig man sich zu sein scheint, was „Schaffen" in dem Zusammenhang bedeutet. Denn all diese Kennzahlen sind zwar ohne Zweifel wichtig - und zum Teil sehr ermutigend.

Doch zugleich hat dieses leistungsorientierte Verständnis vom „Schaffen", dieses Aufzählen von Arbeitsmarktzahlen und Kosten einen merkwürdigen Beigeschmack - wenn man es im Lichte der politischen Entwicklung betrachtet. Das wichtigste Ziel kann nicht darin bestehen, die Menschen, die da nach Deutschland gekommen sind, so geräuschlos wie möglich in die großen Masse namens deutsche Gesellschaft zu integrieren - und dabei zu ignorieren, wohin diese Masse als Ganzes steuert.

Noch keine sinnvolle Asylpolitik in Aussicht

Seit 2017 sitzt eine in Teilen rechtsextreme Partei im Bundestag, ist in mehreren Landtagen die zweitstärkste Kraft, und hat es über weite Strecken geschafft, die öffentliche Debatte vor sich herzutreiben. Seit 2015 gab es in Deutschland weit über 10 000 Übergriffe auf Geflüchtete und Flüchtlingsunterkünfte, und mindestens 21 Menschen sind dem rechtem Terror zum Opfer gefallen. Und sowohl die deutsche als auch die gesamte EU-Politik hat sich in einer so angsterfüllten Abwehrhaltung verrannt, dass auch fünf Jahre nach 2015 keine sinnvolle Asylpolitik in Aussicht ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, haben wir es nicht geschafft, noch lange nicht.

Selbstverständlich hat die Zäsur 2015 viel Positives hervorgebracht: Millionen Menschen halfen ehrenamtlich, Kommunalpolitiker wuchsen über sich hinaus, Firmen gingen aktiv auf die Neuankömmlinge zu. Viele Geflüchtete konnten sich durch die Kraftanstrengung ein selbstbestimmtes Leben aufbauen.

Doch auch die Solidarität und das Engagement kommen in den Bilanzen zu kurz. Wer damals half, gilt heute oft als „Gutmensch", auf die Phase der Willkommenskultur blicken viele in der Politik, als sei sie ein peinlicher Ausrutscher gewesen, dem glücklicherweise eine Rückkehr zur Rationalität folgte. Zur Rationalität und zu den Statistiken.

Deutschland zählt schon lange als Einwanderungsland

Doch wirtschaftliche Kennzahlen als wichtigsten Maßstab für das Schaffen oder Nicht-Schaffen heranzuziehen, können sich nur jene leisten, die sich von dem offenen Rassismus und Rechtsextremismus in Teilen des Landes nicht bedroht fühlen, ihn als quasi-normales Nebenprodukt der Zuwanderung abtun können.

Das führt zu einem weiteren Punkt. Der interessanteste - wenn auch meist übergangene - Teil von Merkels berühmtem Satz ist aus einem Abstand von fünf Jahren betrachtet nicht das „Schaffen", sondern das „Wir".

Wen schließt dieses „Wir" alles ein? Es ist eine - vielleicht die - zentrale Frage in den Einwanderungsländern dieser Welt, zu denen Deutschland schon viel, viel länger gehört als 2015. Auch wenn das viele nicht wahrhaben wollten. Jahrzehntelang haben Millionen sogenannter Gastarbeiter, Balkanflüchtlinge oder Spätaussiedler aus der Sowjetunion in Deutschland gelebt - doch die Unvereinbarkeit zwischen dem „Wir" und dem „Die" blieb oft bestehen. Zum „Wir" gehörten Paul, Lisa und Wolfgang, aber nicht Melek, Bilal und Ljubica.

Ein Viertel aller Menschen haben Migrationsgeschichte

An den Schaltstellen der Gesellschaft sitzen kaum Personen mit Migrationsgeschichte - obwohl mehr als ein Viertel aller Menschen in Deutschland eine haben. Das bedeutet auch, dass ihre spezifischen Bedürfnisse - etwa der Schutz vor rassistischen Übergriffen - in den Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen wie in den Parlamenten unterrepräsentiert sind. Und Deutschland droht, mit den vielen Menschen, die seit 2015 gekommen sind, den gleichen Fehler wieder zu machen.

Die gute Nachricht: Die Kinder und Enkel früherer Zuwanderergenerationen fordern ihren Platz in der Gesellschaft ein. Sie tun das in vielen Fällen nicht, indem sie sich geräuschlos eingliedern, sondern lautstark, unbequem und oft auch wütend.

Sie haben die Gesellschaft verändert und tun dies weiter. Deutschland könnte kaum etwas Besseres passieren. Nicht, weil Menschen, die selbst Ausgrenzungserfahrungen machen, automatisch weltoffener und moralisch überlegener sind. Sondern weil wir alle uns dadurch mit der Frage auseinandersetzen müssen, was eine Gesellschaft zusammenhält, wenn die Mythen der gemeinsamen Abstammung, der „Leitkultur" oder des einen Gottes nicht mehr tragen.

Wir werden wohl nie sagen können: „Jetzt haben wir es geschafft - ein für alle Mal und hundertprozentig." Aber das ist auch nicht nötig. Wir tasten uns ran, gemeinsam. Und wenn wir dabei unsere Maßstäbe auch mal in Frage stellen: Umso besser.

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