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Leitartikel: Deutschland braucht ein repräsentativeres Parlament

Der Plenarsaal des Bundestages: 420 der 735 künftigen Bundestagsabgeordneten sind im Bereich „Unternehmensführung und -beratung“ tätig. © Christoph Soeder/dpa

Frauen sind auch nach der Wahl nicht angemessen vertreten, von anderen gesellschaftlichen Gruppen ganz zu schweigen. Zum Schaden für die Demokratie. Der Leitartikel.


Berlin - „Das Parlament soll bunter werden." „Warum der Bundestag diverser wird." „Mehr Vielfalt im Parlament." So oder ähnlich klangen Schlagzeilen in den Tagen vor und nach der Bundestagswahl 2021. Bunt, divers, vielfältig: Das klingt nach einem Parlamentssaal voller wild geschminkten Gestalten, die durch die Reihen tanzen, in Paillettenkleidern, knalligen Farben oder verrückten Kostümen. Aufregend neu, aber eben auch nicht „normal".

Und da fängt das Problem schon an. Denn was oft als bunte Besonderheit dargestellt wird, ist faktisch die Normalität. Gut jede vierte Person in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Rund die Hälfte ist weiblich. Fast zehn Prozent haben eine Schwerbehinderung. Der höchste Bildungsabschluss von fast 30 Prozent der Menschen im Land ist ein Hauptschul- oder Volksschulabschluss. Und so weiter.

Bundestagswahl 2021: Wessen Interessen werden im Bundestag vertreten?

Das ist die Realität auf den Straßen, in den Schulen und Universitäten, in Vereinen, Büros und Fabriken des Landes. Doch wer ausschließlich deutsche Parlamente, Vorstandsetagen und Redaktionsstuben von innen kennt, würde das nicht vermuten. Entscheidungen, die alle im Land betreffen, werden weiterhin von relativ homogenen Gruppen getroffen, die sich aus den immer gleichen Milieus rekrutieren.

Das gilt auch für den neu gewählten Bundestag, auch wenn der etwas jünger, etwas weiblicher und - zumindest bei einigen Parteien - etwas migrantischer ist als der scheidende. Noch immer sitzen dort zu einem weit überproportionalen Anteil männliche Vielverdiener zwischen 40 und 60 mit hohen Bildungsabschlüssen und ohne Einwanderungsgeschichte.

Das ist ein großes Problem, das an den Kern der demokratischen Idee rührt: Wessen Interessen werden im Bundestag vertreten, diesem Parlament, das „dem deutschen Volke" verpflichtet ist?

Deutschland braucht Parlament, das Lebensrealitäten besser abbildet

Konkret: Wer fühlt sich für die Arbeitsrechte von Pflegerinnen oder Paketboten verantwortlich, wenn allein 420 der 735 künftigen Bundestagsabgeordneten im Bereich „Unternehmensführung und -beratung" tätig sind? Wer vertritt in einer globalen Pandemie die Interessen der Risikogruppen, wenn im Bundestag nur wenige chronisch Kranke oder schwerbehinderte Menschen sitzen? Wer verschreibt sich dem Kampf gegen Rechtsextreme, wenn die große Mehrheit nicht mit der Angst vor nächtlichen Brandanschlägen aufgewachsen ist?

Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt: leider nicht allzu viele. Schon allein aus diesem Grund braucht Deutschland ein Parlament, das die Lebensrealitäten im Land besser abbildet.

Schon allein, weil wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass homogene Gruppen in der Regel schlechtere, weniger nachhaltige politische Entscheidungen treffen als solche, in denen viele sehr unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema einfließen. Ein Beispiel ist wieder der Umgang mit der Corona-Pandemie: Hätten mehr Eltern (vor allem Alleinerziehende ohne Haus und eigenen Garten), Angehörige von Risikogruppen, im Niedriglohnsektor beschäftigte Menschen, sehr junge und sehr alte Menschen die Krisenpolitik mitgestaltet, wären einige der größten Fehler möglicherweise vermieden worden. Weil sie schon vorher jemand aufgrund der eigenen Lebenserfahrung mitgedacht hätte.

Zugleich sollte sich niemand der Illusion hingeben, dass ein diverseres Parlament allein die vielen Gerechtigkeitslücken schließt, die überall in diesem Land klaffen . Selbst in einem nach allen demografischen Merkmalen austarierten Parlament würden nicht automatisch alle Interessen vertreten. Erst kürzlich haben Studien gezeigt, dass neue Bundestagsabgeordnete zwar anfangs oft Anfragen stellen, die spezifische Interessen ihrer gesellschaftlichen Gruppe betreffen - von sexualisierter Gewalt bis hin zu Rassismus. Dieser Fokus verschwindet aber, je länger sie dem Parlament angehören. Wohl weil „Minderheitenthemen" im aktuellen politischen System kaum Karrierechancen versprechen. Zugleich gibt es viele Beispiele von Abgeordneten, die sich für Themen einsetzen, ohne selbst betroffen zu sein.

Bundestagswahl 2021: Fast 24 Prozent Nichtwähleranteil sprechen für sich

Ein diverses Parlament würde auch nicht automatisch zu linker, grünerer Politik führen. Weder sind junge Menschen automatisch progressiv eingestellt, noch handeln Angehörige von Minderheiten immer solidarisch mit anderen Marginalisierten. Das zeigt nicht nur der hohe Anteil von AfD-Wähler:innen unter Arbeitslosen.

Ein diverseres Parlament braucht Deutschland trotzdem - egal wem die Ergebnisse am Ende passen. Es geht ums Prinzip. Demokratie lebt davon, dass alle Menschen in der Gesellschaft einen Teil von sich selbst in der Politik sehen.

Weil Themen angesprochen werden, die sie betreffen, weil dort Menschen mit ähnlichen Erfahrungen aktiv sind oder weil sie selbst sich engagieren. Es braucht Berührungspunkte. Wer das Gefühl hat, die „politische Klasse" sei Lichtjahre von ihm oder ihr entfernt, fühlt sich auch nicht verantwortlich, wendet sich ab.

Fast 24 Prozent Nichtwähleranteil sprechen für sich. Wir wissen, dass in aller Regel diejenigen Gruppen Wahlen fernbleiben, die auch in den Parlamenten kaum vertreten sind: etwa arme, migrantische und sehr junge Menschen. Selbst schuld, kann man jetzt sagen. Oder alles dafür tun, damit diese Gruppen sich von der Politik besser vertreten fühlen.

Quoten sind dabei kein Allheilmittel, vor allem, weil es im Grunde längst nicht nur Frauenquoten bräuchte, sondern auch solche für viele andere Gruppen. Quoten können ein wichtiges Instrument sein, um einem Wandel, der schon im Gange ist, von oben den Weg frei zu machen. Die eigentliche Arbeit aber muss an der Basis stattfinden. Wenn Parteien in Vierteln mit niedriger Wahlbeteiligung nicht präsent sind, weil dort vermeintlich eh nichts zu holen ist, dann wird sich nichts ändern. Wenn Parteien wichtige Themen nicht aufgreifen, weil sie vor allem Gruppen betreffen, von denen man sich an der Wahlurne nichts erwartet, dann geht der Teufelskreis weiter. In einer pluralen Gesellschaft Politik zu machen, ist anstrengend, es erfordert Geduld und die seltene Fähigkeit, den verschiedensten Menschen zuzuhören. Aber es ist die Mühe wert.

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