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Ausdauer, Vertrauen und sehr viel Geld: Der lange Kampf gegen Kinderlähmung

Polio könnte die zweite Krankheit sein, die vom Erdboden verschwindet: Die WHO hat 2019 einen Meilenstein auf dem Weg zur Ausrottung des Virus verkündet - nur mitbekommen hat das kaum jemand.


Paul Alexander war sechs Jahre alt, als sich sein Leben für immer veränderte. An einem warmen Tag mitten im texanischen Sommer fühlte sich der Junge plötzlich kränklich. Die Mutter steckte ihn sofort ins Bett. „Sie hat mir ins Gesicht geschaut und wusste sofort, was los war", erinnerte sich Alexander später in einem Interview. Es war das Jahr 1952. Die USA meldeten 60 000 Infektionsfälle von Kinderlähmung. Im ganzen Land zitterten Eltern um ihre Kinder. Schulen, Schwimmbäder und Vergnügungsparks blieben geschlossen.

Mehr als 3000 der Erkrankten starben noch im selben Jahr. Tausende weitere trugen schwere Lähmungen davon. So auch Paul Alexander. „Ich war ein Kind wie jedes andere", erinnert er sich. „Und innerhalb von fünf Tagen habe ich alles verloren. Ich konnte nicht mehr laufen, ich konnte mich nicht mehr bewegen. Und schließlich, am letzten Tag, konnte ich auch nicht mehr atmen."

Polio ist nicht heilbar. Der erste wirksame Impfstoff wurde erst 1955 entdeckt. Für den weltweiten Kampf gegen die Krankheit war das ein Durchbruch. Für Paul Alexander kam er zu spät.

Seit jenem Sommer 1952, seit 67 Jahren, verbringt er jeden Tag viele Stunden in einer Metallröhre, aus der nur sein Kopf herausschaut, und die seinen gelähmten Körper durch Druckaufbau zum Atmen zwingt. Die „Eiserne Lunge" rettete viele Polio-Patienten vor dem Erstickungstod. Heute sind die Stahlkolosse Museumsstücke. Paul Alexander, der trotz seiner Erkrankung jahrzehntelang als Anwalt gearbeitet hat, ist einer von nur zwei Menschen weltweit, die sie noch nutzen.

Nicht nur die „Eiserne Lunge", auch die Krankheit Polio ist heute zumindest in Nordamerika und Europa fast vergessen. Die westlichen Länder haben sie mit großen Impfkampagnen schnell zurückgedrängt. „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam": Mit diesem Slogan warben etwa die deutschen Behörden seit den 1960er Jahren für die rettenden Tropfen - die entsprechend auf einem Stück Zucker verabreicht wurden. Der letzte bekannte Polio-Fall in Deutschland wurde 1990 gemeldet, die USA gelten schon seit 1979 als poliofrei.

Aus den Augen, aus dem Sinn? Nur so lässt sich erklären, warum es hierzulande kaum Wellen schlug, als die Weltgesundheits-Organisation WHO im Oktober dieses Jahres das Poliovirus Typ 3 offiziell für „ausgerottet" erklärte - weltweit. Die WHO nannte das eine „historische Leistung der Menschheit" - und das ist in diesem Fall keine Übertreibung der PR-Abteilung. Denn damit sind zwei von drei Polio-Erregertypen besiegt. Gelänge dasselbe auch noch mit dem dritten, dem gefährlichsten Typ des Virus, dann wäre Polio die zweite Krankheit überhaupt, die durch menschliches Zutun von der Erdoberfläche verbannt wurde. Bislang gelten nur die Pocken als ausgerottet.

Eine gute Nachricht ist der Sieg über den Polio-Virus Typ 3 letztlich für alle Menschen. Denn auch wenn Polio in vielen Staaten weltweit der Vergangenheit angehört, bleibt ein Risiko. Solange der Erreger irgendwo auf der Welt zirkuliert, besteht immer die Gefahr einer neuen Epidemie - etwa wenn Infizierte in Gegenden reisen, wo Teile der Bevölkerung nicht geimpft sind. Unrealistisch ist das selbst in Deutschland nicht: Seit einigen Jahren schleicht sich hierzulande eine gewisse Impfmüdigkeit ein. Die von der WHO empfohlene Impfquote zur „Herdenimmunisierung" von 95 Prozent erreichen die deutschen Schulanfänger nicht mehr.

Eine gute Nachricht ist der Sieg über den Polio-Virus Typ 3 aber vor allem für viele Menschen in Nigeria, dem einzig verbliebenen Staat, wo sich in den vergangenen Jahren immer wieder Kinder mit dem Erreger infiziert hatten. Der letzte Polio-Fall wurde im August 2016 gemeldet.

Polio-Ausrottung: Die Anzahl der Fälle sank, die Kosten explodierten

Allerdings: Die WHO und ihre Verbündeten im Kampf gegen Polio hinken deutlich hinter ihren selbst gesteckten Zielen zurück. Als sich 1988 die Globale Initiative zur Ausrottung von Polio (GPEI) gründete - eine Public-Private-Partnership aus internationalen Institutionen und privaten Stiftungen - setzte sie sich zum Ziel, die Krankheit bis zum Jahr 2000 zu eliminieren. Seitdem hat die Koalition mindestens vier weitere Deadlines gerissen.

Zwar hat sie zwischen 1988 und 2000 die Zahl der Polio-Erkrankungen weltweit um 99 Prozent gesenkt. Doch das verbliebene Prozent hat sich als unerwartet zäh herausgestellt - und als extrem teuer.

Der einzige Weg, Polio zu besiegen, liegt darin, für eine sehr hohe Immunisierung zu sorgen. Das bedeutet, jedes Jahr Millionen über Millionen von Kleinkindern zu impfen, und zwar nicht nur einmal, sondern mindestens dreimal hintereinander im Abstand von einigen Wochen und Monaten. Viele der Staaten, die auch nach 2000 noch nicht als polio-frei galten, gehören zu den ärmsten Ländern der Welt, es sind Kriegs- und Krisengebiete oder Staaten ohne funktionierende Infrastruktur. In solchen Staaten ist es logistisch komplexer, gefährlicher und damit eben auch deutlich teurer, umfassend zu impfen.

So wie in Afghanistan und Pakistan. Nach dem Erfolg in Nigeria sind es die beiden letzten Staaten weltweit, aus denen regelmäßig neue Infektionen mit dem gefährlichen Poliovirus Typ 1 gemeldet werden. Deswegen stehen sie im Fokus der großen „Polio Endgame Strategy 2019-2023" der GPEI.

„Endgame" - Endkampf, das klingt militärisch, das klingt nach einer Schlacht. Immer wieder werden Stimmen laut - etwa aus der NGO „Ärzte ohne Grenzen" - die der GPEI vorwerfen, sich verrannt zu haben und blind dem symbolischen Sieg der Ausrottung hinterherzujagen. Warum in Nigeria so viel Geld für die Bekämpfung von nur rund 100 Polio-Fällen ausgegeben werde, fragte 2003 auch der Emir von Kazaure, ein politischer Führer aus dem Norden des Landes. „Wie viele Kinder sterben gleichzeitig an Masern, Malaria und Durchfall?"

Vor allem seit die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung 2006 in die Initiative einstieg - und schnell zum wichtigsten Geldgeber des Anti-Polio-Kampfes aufgestiegen ist -, spotten Kritiker, Bill Gates führe einen persönlichen Feldzug gegen Polio.

Doch nach dem jüngsten Meilenstein gibt es einen Grund mehr, an den Sinn des Anti-Polio-Kampfes zu glauben. Auch in Nigeria schien er zwischenzeitlich fast aussichtslos. Wie in vielen anderen Teilen der Welt war es die sogenannte „letzte Meile", die den Anti-Polio-Kämpfern in den Glasbüros von Genf, Seattle und Abuja ebenso Kopfzerbrechen bereitete wie jenen in den Straßen von Lagos oder auf den staubigen Ebenen des Tschadbeckens. Jahrelang waren Millionen von Dollar geflossen, Zehntausende einheimische Impfhelferinnen waren von Dorf zu Dorf getingelt, hatten an unzählige Türen geklopft und sich dabei auch in gefährliche Gegenden gewagt.

Trotzdem gab es Anfang der 2000er Jahre noch immer viel zu viele Kinder, die noch nie einen Tropfen Impfstoff geschluckt hatten. Immer wieder kam es zu lokalen Ausbrüchen - und infizierte nigerianische Reisende trugen den Virus in Länder, die eigentlich längst als poliofrei galten.

Die GPEI war in einer Sackgasse angekommen - und unterzog die gesamte Kampagne in Nigeria einer kritischen Revision. Es stellte sich heraus, dass man große Probleme bei der Koordinierung des Impfpersonals übersehen hatte. Während einige Dörfer doppelten Besuch von den Frauen mit den kleinen Kühlköfferchen bekamen, weil die abgesteckten Impfdistrikte sich überschnitten, gab es unzählige kleine Siedlungen, in die nie eine Impfhelferin ihren Fuß gesetzt hatte - schlichtweg, weil sie auf offiziellen Karten der Region fehlten.

Ein Team fertigte daraufhin neue Karten auf der Grundlage von Satellitenbildern an. Außerdem wurden Algorithmen eingesetzt, um die Routen der Mitarbeiterinnen optimal zu planen - so dass wirklich jedes Kind in Nigeria erreicht werden konnte. Zumindest in der Theorie.

In der Praxis standen die Impfhelferinnen regelmäßig vor verschlossenen Türen. Das größte Problem der Polio-Bekämpfung war kein technisches, sondern ein menschliches. Viele nigerianische Eltern wollten den Helfern nicht ihre Kinder anvertrauen. Insbesondere nach dem Einmarsch der USA in den Irak 2003 war das Vertrauen in westliche Organisationen unter Muslimen weltweit drastisch gesunken. Im muslimisch geprägten Norden Nigerias machte im selben Jahr das Gerücht die Runde, die Schluckimpfung mache Mädchen unfruchtbar, sei Teil einer vom Westen und von der Regierung in Lagos gesteuerten Kampagne, um Muslime zu sterilisieren. Fünf Bundesstaaten in Nordnigeria boykottierten die Impfkampagne komplett.

Zwischen 2002 und 2006 versechsfachte sich die Zahl der dokumentierten Poliofälle im Land. Und auch nachdem die Bundesstaaten den offiziellen Boykott aufgegeben hatten, hielt sich das Misstrauen vor den Tropfen aus dem Westen in vielen Teilen des Landes - auch, weil es in seltenen Fällen zu Infektionen durch den Impfstoff selbst kam.

Und auch sonst bekamen die Ängste immer wieder neues Futter. Im Jahr 2010 etwa verspielte die CIA das Vertrauen von Menschen weltweit, als sie eine falsche Impfkampagne als Deckmantel nutzte, um heimlich DNA von Zivilisten für die Jagd auf Osama bin Laden zu sammeln.

In Nigeria begann etwa zur selben Zeit der Aufstieg von Boko Haram. Jahrelang herrschten im Norden des Landes bürgerkriegsähnliche Zustände. Ganze Landstriche waren für das Impfpersonal unzugänglich. Der größte Rückschlag kam 2013, als Islamisten neun Impfhelferinnen im Bundesstaat Kano ermordeten.

Dass Nigeria trotz aller Widrigkeiten Polio besiegt hat, wäre wohl nie möglich gewesen, wenn die GPEI nicht eine wichtige Lektion gelernt hätte: Ohne Rückhalt in der lokalen Bevölkerung geht es nicht. Statt in ländlichen Communities unangekündigt mit auswärtigem Personal aufzutauchen, suchte man zunächst das Gespräch mit lokalen religiösen Führern, versuchte sie zu überzeugen - zum Teil, in dem Helfer selbst die Tropfen schluckten. Aber auch Polio-Überlebende beteiligten sich an der Überzeugungsarbeit - mit Erfolg: Viele einflussreiche Führer im Norden überwanden ihre Skepsis, einige wurden sogar zu glühenden Verfechtern des Anti-Polio-Kampfes.

Der streng hierarchisch organisierten GPEI steht in Nigeria heute eine breit aufgestellte Basisbewegung gegenüber. Und im Gegensatz zu einem Großteil der internationalen Gelder werden die lokalen Kräfte und ihr Know-how nach dem Ende von Polio nicht aus dem Land verschwinden.

Kampf gegen Polio: Das Know-how lässt sich auch gegen Ebola einsetzen

Die nigerianische Medizinerin Ngozi Nwosu kennt sich mit der lokalen Anti-Polio-Infrastruktur aus wie niemand sonst. Sie ist von der Regierung damit beauftragt, sie so umzubauen, dass das Gesundheitssystem als Ganzes profitiert. Polio habe die Kräfte lange genug gebunden, sagte sie im August in einem Interview mit „Foreign Policy". Jetzt kämen andere Krankheiten dran: „Wir müssen dringend Masern und Gelbfieber eindämmen", so Ngozi Nwosu.

Das Gute: Das Know-how und die Infrastruktur aus dem Anti-Polio-Kampf sind auch für die Bekämpfung anderer Krankheiten einsetzbar. Dass das funktioniert, zeigte sich zuletzt bei einem Ebola-Ausbruch im Jahr 2014. Nachdem ein mit Ebola infizierter Mann aus Liberia nach Lagos reiste, steckten sich dort in kürzester Zeit 19 weitere Menschen mit dem tödlichen Virus an. Doch mehr wurden es nicht - den nigerianischen Gesundheitsbehörden gelang es, den Ausbruch in kürzester Zeit zu stoppen. „Ich bin sicher, dass wir alle überrascht haben", triumphierte Nwosu. „Kaum jemand hat damals erwartet, dass Nigeria in so kurzer Zeit mit Ebola fertig wird."

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