Berlin im November 1938. Otto Silbermann wartet im Bahnhofscafé ungeduldig auf den Kellner. Gerade hat er seinen Geschäftspartner zum Zug gebracht, muss zurück ins Büro. Untröstlich taucht der Kellner schließlich auf: Ein Gast habe sich beschwert, weil er glaubte, einem Juden gegenüber zu sitzen. Zwar gibt er Entwarnung, es sei nur ein Südamerikaner gewesen. Aber dennoch: „Das Beste wäre schon, wenn die Juden gelbe Streifen um den Arm tragen müssten. Dann kämen wenigstens keine Verwechslungen vor."
Otto Silbermann, der Protagonist in Ulrich Alexander Boschwitz' Roman „Der Reisende" entspricht nicht dem Bild, das sich sein Umfeld von einem Juden macht. „Sie sehen so arisch aus", bekommt er wohlwollend von Bekannten zu hören. Und sein Geschäftspartner Becker, mit dem er Seite an Seite im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, dröhnt anerkennend: „Für mich bist du ein Mann - ein deutscher Mann, kein Jude."
Otto Silbermann hat immer nach den Regeln des Systems gespielt, ein ehrbarer Kaufmann, gesetzestreu, verheiratet zudem mit einer Nicht-Jüdin. Auch im November 1938 kann er noch nicht recht glauben, dass dieses sein Deutschland ihm den Krieg erklärt hat - selbst als die Häscher vor seiner eigenen Tür auftauchen, und ihm im letzten Moment die Flucht gelingt.
„Sicherlich war das alles heute morgen nur eine wilde Aktion, und vielleicht wird schon morgen die Regierung erklären, dass sie von gar nichts gewusst hat", sagt er sich, während er ängstlich durch seine Heimatstadt hetzt. „Wenn sie sich auch aus Judenfeinden zusammensetzt, so ist sie doch immerhin die Regierung, und das, das kann sie nicht zulassen."
Der Autor selbst teilte den Optimismus seines Protagonisten nicht - obwohl auch er beim Schreiben des Romans noch nicht wusste, dass die Novemberpogrome keineswegs Ausdruck des Volkszorns waren, wie es offiziell hieß, sondern dass ebenjene nationalsozialistische Regierung, in die Silbermann seine Hoffnungen setzt, das Attentat eines Juden auf einen deutschen Diplomaten zum Anlass genommen hatte, um SA- und SS-Männer im ganzen Land anzuweisen, als Privatleute verkleidet Synagogen anzuzünden und systematisch Jagd auf Juden zu machen.
Boschwitz verfolgte 1938 die niederschmetternden Nachrichten über das Geschehen in Deutschland aus dem Exil. Der Sohn eines jüdischen Vaters war schon drei Jahre zuvor aus Deutschland emigriert, zunächst nach Schweden, wo ein erster Roman erschien. Zum Studium ging er nach Paris, genau wie im Roman der Sohn der Silbermanns. Während längerer Aufenthalte in Belgien und Luxemburg schrieb Boschwitz „Der Reisende".
Die persönliche Betroffenheit, die Erregung, sie scheint ihm in die Finger gefahren zu sein: In wenigen Wochen, so erzählt der Herausgeber Peter Graf in einer editorischen Notiz, schrieb Boschwitz die Geschichte von der Flucht Otto Silbermanns nieder. Graf ist es zu verdanken, dass der Roman, der 1939 zuerst in England veröffentlicht wurde, fast 80 Jahre später endlich auch auf Deutsch erschienen ist. Jahrzehntelang hatte das Originalmanuskript in New Yorker Archiven gelegen, später gelangte es über Umwege in die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt.
Doch obwohl sich 1963 sogar Heinrich Böll für seine Veröffentlichung eingesetzt haben soll, fand es in Deutschland keinen Verlag und geriet in Vergessenheit, bis eine Nichte von Boschwitz Graf kontaktierte, der schon viele vergessene Texte wieder ans Tageslicht befördert hatte. Er lektorierte das Manuskript mit Zustimmung der Angehörigen und brachte es bei Klett-Cotta unter.
Das ist ein großes Glück. Denn auch wenn in der Zwischenzeit kunstvollere Texte über die Zeit der Novemberpogrome geschrieben worden sein mögen, so zieht „Der Reisende" eine große Kraft aus seiner Unmittelbarkeit und der Authentizität als Zeitdokument; hier wird Geschichte erzählt von einem, der mitten in ihr steckt. Die atemlose Flucht von Hotel zu Hotel, von Stadt zu Stadt und schließlich vor allem von Zug zu Zug, in Richtung der belgischen Grenze: Sie überträgt sich fast physisch auf die Leser. Die Übelkeit nach einer Nacht ohne Schlaf. Der rasende Puls, wenn ein Abteilnachbar im Zug merkwürdige Fragen stellt oder die Aktentasche mit dem verbliebenen Barvermögen verschwunden scheint. Die Scham, unrasiert und zerknittert unter den Fahrgästen zu sitzen.
Wie sich Silbermann an die Reste seiner bürgerlichen Existenz klammert, ist manchmal schwer zu ertragen, auch für ihn selbst. Doch wehren kann er sich dagegen ebenso wenig wie gegen die später bitter bereuten schwachen Momente, in denen er seinen Hass gegen die Leidensgenossen richtet: „Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet. Dabei haben wir eigentlich gar nichts miteinander zu tun“, denkt er, als er im Zug mehrere Juden zu erkennen meint.
Die Flucht nach Belgien, sie misslingt. Der letzte Rettungsanker ist dahin, doch Otto Silbermann fährt weiter Zug, egal wohin. Nur immer weiter. „Ich bin nicht mehr in Deutschland. Ich bin in Zügen, die durch Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied“, denkt er, während er ohne Ziel zwischen Dortmund und Aachen unterwegs ist. „Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt ein Reisender, ein immer weiter Reisender.“ Und langsam, ganz langsam klopft der Wahnsinn an die Tür.
Auch für Boschwitz gab es letztlich keinen sicheren Hafen. Nach Kriegsausbruch wird er in Großbritannien zusammen mit seiner Mutter als „feindlicher Ausländer“ verhaftet und zusammen mit deutschen Kriegsgefangenen nach Australien deportiert. Drei Jahre später ist Boschwitz auf den Weg zurück nach Europa – er hat sich gemeldet, um für die Briten gegen Deutschland zu kämpfen. Doch 700 Seemeilen nordwestlich der Azoren trifft der Torpedo eines deutschen U-Boots sein Schiff, die M.V. Abosso. Ulrich Alexander Boschwitz ertrinkt mit 27 Jahren im Atlantik, und mit ihm geht das Manuskript eines weiteren Romans unter.
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