Drei Jahre ist es her, dass der Bürgerrechtler Raif Badawi in Saudi-Arabien zum ersten Mal öffentlich ausgepeitscht wurde - wegen „Gotteslästerung". Er sitzt immer noch im Gefängnis. Seine Frau Ensaf Haidar und die gemeinsamen Kinder kämpfen im kanadischen Exil für Raifs Freilassung. Unermüdlich. EMMA-Redakteurin Alexandra Eul hat sie in Sherbrooke besucht.
von Alexandra Eul
Manchmal verschanzen sich Rebellinnen an den unscheinbarsten Orten. Zum Beispiel in Sherbrooke, einer eher unspektakulären kanadischen Universitätsstadt, etwa zweieinhalb Stunden von Montreal entfernt. Hier, in einer hellen Wohnung mit Balkon und Blick auf bewaldete Hügel am Rande der Stadt, hat Ensaf Haidar ein Zuhause gefunden.
Ensaf Haidar ist eine Heldin, wie man sie heute nur noch selten findet. Seit fünf Jahren kämpft die zierliche Frau im kanadischen Exil wie eine Löwin gegen einen übermächtigen Gegner: den Gottesstaat Saudi-Arabien.
Menschen geraten schnell in Vergessenheit. Ensaf kämpft gegen das Vergessen und für Raif.Am 17. Juni 2012 haben die saudischen Sittenwächter am anderen Ende der Welt ihren Ehemann ins Gefängnis geworfen. Ensaf und ihre Kinder haben nur ganz knapp davor das Land verlassen können, erst Richtung Libanon, dann nach Kanada. Das Verbrechen, das man Raif anlastet, ist in Kanada ganz wie in Deutschland ein selbstverständliches Recht: Er hat seine Meinung ins Internet geschrieben. In ein von ihm selbst gegründetes Online-Forum mit dem Namen Freie saudische Liberale. Dort haben Menschen über einen liberalen Islam und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen diskutiert.
Der Name von Ensafs Ehemann ist inzwischen weltbekannt: Raif Badawi. Das erschütternde Urteil gegen ihn auch: 1.000 Peitschenhiebe, jeden Freitag nach dem Mittagsgebet 50. Dazu zehn Jahre Gefängnis. Plus eine Geldstrafe über eine Million Saudi-Riyal, das sind umgerechnet 250.000 Euro. Wenn er nicht bald zahlt, droht ihm Haftverlängerung.
Drei Jahre ist es her, dass ein heimlich gefilmtes Video von Raifs erster öffentlicher Auspeitschung vor der großen Moschee in Dschidda die Welt wachgerüttelt hat - nur wenige Tage nach dem Attentat auf die Satirezeitung Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar 2015.
Menschen weltweit machten den Slogan #FreeRaif zu ihrer Sache und setzten sich beim saudischen Königshaus für dessen Begnadigung ein, darunter der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Eine Petition von Amnesty International zählt über eine Million Unterschriften. Seither sind die Auspeitschungen ausgesetzt. Es ist nicht sicher, ob Raif eine weitere Tortur überleben würde.
Aber wie das so ist mit Menschen, die in fernen Kerkern verenden: Sie geraten schnell in Vergessenheit. Abgesehen von einigen tapferen MenschenrechtsaktivistInnen (wie zum Beispiel in Tübingen) ist es stiller geworden um Raif Badawi. Während das islamistische Saudi-Arabien, das ihn gefangen hält und foltert, im Gespräch ist und gleich mehrere Beförderungen in der internationalen Gemeinschaft durchlaufen hat: vom potenten Wirtschaftspartner hin zum wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat und schließlich sogar zum Mitglied der „Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen" (kein Witz). Gefolterte Oppositionelle stören da nur.
Ensaf Haidar in Sherbrooke ist nicht bereit, das hinzunehmen. Sie kämpft, jetzt erst recht. „Cinque ans, c'est trop!", sagt sie mit ihrer hellen, aber entschiedenen Stimme und schlägt bei jedem einzelnen Wort einmal mit der Handfläche auf den Esstisch in ihrem Wohnzimmer. Fünf Jahre sind genug! Fünf Jahre sind auch an der 42-jährigen Saudi-Araberin nicht spurlos vorbeigegangen. Ensaf sieht erschöpft aus. Wie es ihr geht, das könne sie gar nicht mehr so richtig in Worte fassen. Und Raif? „Sein Zustand ist kritisch, sehr kritisch! Er spricht kaum noch." Und auch die Beziehung leidet nach fünf Jahren. „Die Ungewissheit und die immer gleichen Gespräche", sagt Ensaf. Und das so dramatisch unterschiedliche Leben. (...)
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