Thomas Piketty hat mit seinem „Kapital im 21. Jahrhundert" die Debatte über soziale Ungleichheit in der Wissenschaft angefacht- nun hat Oxfam diese mit einer eindringlichen, und deshalb ungleich wirkungsvolleren Botschaft in aller Munde gebracht: 62 Individuen besitzen so viel Vermögen wie die ärmsten 50% der Weltbevölkerung- oder noch drastischer- wie 3,6 Milliarden Menschen. Dass die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich stetig weiter auseinander driftet ist schon lange kein Geheimnis mehr, wurde dennoch zu oft als unausweichliche Entwicklung dieser Gesellschaft hoffnungslos abgetan und verdrängt. Nur ist dies nach der klaren Botschaft von Oxfam, die sich in ihrem Bericht auf eine Studie der Schweizer Credit Suisse beziehen, nicht mehr so einfach der öffentlichen Debatte zu entziehen. Zu viele Fragen bleiben unbeantwortet- und stellen die Gesellschaft vor eine neue Grundsatzdiskussion.
Wie konnte es dazu kommen, dass die unteren 50% der Weltbevölkerung nur einen Anteil von einem Prozent von dem globalen Vermögenswachstum erhalten haben, wohingegen die Superreichen 50% einstreichen konnten seit der Jahrtausendwende? Der Wunschtraum und sogleich das Totschlagargument aller wachstumsgläubigen Ökonomen dieser Welt entgegen ihrer Kritiker war der sogenannte „Trickling-down" Effekt, den das kapitalistische Wirtschaftssystem zwangsläufig mit sich bringen sollte. Die Vermögensungleichheit würde demzufolge in der Gesellschaft zwar tendenziell größer, jedoch würden auch die unteren Bevölkerungsschichten von einem permanenten Wirtschaftswachstum profitieren und zukünftig nicht mehr in Armut leben müssen. Das Vermögen würde schon von allein von oben nach unten durchsickern, so die feste Überzeugung.
Unvergessen ist ein bildliches Gleichnis der Neoklassiker: Dem ärmsten Mitglied einer modernen, kapitalistischen Gesellschaft würde es noch immer besser ergehen, als der Oberschicht einer egalitären Gesellschaft. Dass Armut stets relativ am Lebensstandard der eigenen Gesellschaft gemessen werden sollte, gerät mit dieser Betrachtungsweise bedenkenlos in Vergessenheit. Selbst wenn der Trickling-down Effekt theoretisch einleuchtend erscheint- ein empirischer Nachweis bleibt bislang aus. Entgegen der Annahme, dass sich der Wohlstand der unteren Bevölkerungsschichten nach und nach verbessert, ist das Vermögen der ärmsten 50% der Weltbevölkerung in den letzten 5 Jahren um eine Billion US-Dollar gesunken.
Auch große Teile der Entwicklungsökonomie, die nach Möglichkeiten forscht, die Entwicklungsländer an den Lebensstandard der Industrieländer heranzuführen, hat sich bis dato stets für eine Öffnung der Wirtschaft und damit für den Eintritt der Entwicklungsländer in den internationalen Wettbewerb ausgesprochen. Die Ergebnisse dieser Strategie sind jedoch ernüchternd: bei den ärmsten 10% dieser Welt ist das Jahreseinkommen um weniger als 3 Dollar pro Jahr gestiegen. Von den globalen Vermögenszuwächsen kommt bei den wirklich Bedürftigen offenbar kaum etwas an.
Vielmehr belegt der Bericht von Oxfam, dass das globale Wirtschaftssystem auf die Vorteile und das Wohlergehen der Superreichen ausgerichtet ist und eine ansatzweise gerechte Verteilung von Vermögen unmöglich macht. Das Vermögen des reichsten Prozent dieser Gesellschaft hat sich in den letzten 12 Jahren- mit kurzer Unterbrechung durch die globale Finanzkrise 2007/2008- kontinuierlich vermehrt. Dieser Trend legt die Vermutung nahe, dass einzig und allein Systemkrisen die Kraft aufbringen können, das weitere Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich aufhalten zu können. In Anbetracht der unzähligen Steuervermeidungstricks von multinationalen Unternehmen und den Steueroasen als sicheren Anlagehäfen für Privatvermögen werden die Sozialstaaten nicht nur in die Knie gezwungen, sondern existenziell bedroht: Die Besteuerungsmöglichkeiten der Staaten und damit ihre Fähigkeit, durch Umverteilung für eine gerechtere Gesellschaft zu sorgen, sind massiv eingeschränkt worden.
Der internationale Steuerwettbewerb um Unternehmen und Kapital befindet sich in einer Abwärtsspirale des viel zitierten „Race-to-the-bottom" und hat in seinem Resultat zu einer Verschiebung der Steuerlast von Kapital und hohen Einkommen hin zu mittleren und geringen Einkommen bzw. einer höheren Besteuerung von Konsum geführt. Regierungsparteien, gleich welcher Coleur, verzichten auf eine höhere Besteuerung der Eliten. Diese Entwicklung ist Ausdruck der Handlungsunfähigkeit der Staatengemeinschaft: Lieber eine geringe Besteuerung von Unternehmen und Kapital, als eine Abwanderung in Steueroasen in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig manifestiert diese Entwicklung die globale Vermögensungleichheit und schafft ein System der Ungerechtigkeit, das auch zukünftig dafür sorgt, dass der reichste Prozent dieser Gesellschaft soviel Vermögen besitzt wie der Rest der Welt. Nach einer Schätzung von G. Zucman befinden sich derzeit 7,6 Milliarden Dollar Privatvermögen- so viel wie die Bruttoinlandsprodukte von Deutschland und Großbritannien zusammen gerechnet- offshore in Steueroasen und somit fern von jeglichem Zugriff der Staatengemeinschaft und dem Rest der Gesellschaft.
Während ein Großteil der Bevölkerung aus einer komfortablen Lage über diese offenbaren Missstände disputieren kann, trifft es andere Teile dieser Welt wesentlich verheerender. Jean Ziegler, langjähriger UN- Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, bringt es auf den Punkt: „Noch immer verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren- in einer Welt, die irrwitzigen Überfluss produziert, ist das Massenmord." Knapp 1/3 des afrikanischen Vermögens liegt offshore in Steueroasen geparkt- den afrikanischen Staaten entgehen jährlich 14 Milliarden Dollar Steuergeld. Eine Summe, mit der die massenhafte Armut schlagartig beendet werden könnte. Es hat sich offenbar nicht nur ein von Gier getriebener elitärer Kreis der Macht und des Reichtums über den Rest der Gesellschaft erhoben, sondern er verhindert offen die Fortentwicklung eines großen Teils dieser Gesellschaft.
In Anbetracht dessen lässt sich ein Lösungsansatz zur Bekämpfung der Verteilungsungleichheit nur global denken, und sollte nach Auffassung von Oxfam auf der Agenda der Vereinten Nationen ganz oben stehen. Nur so könne ein effizientes Vorgehen gegen die Steueroasen dieser Welt organisiert werden und die Superreichen in die Pflicht nehmen, ihren Anteil an gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu leisten. Konkret können auch die einzelnen Staaten den politischen Einfluss der Eliten beschränken, durch verpflichtende Lobby- Register und Karenzzeiten für Politiker, die ihnen einen direkten Wechsel von der Politik in die freie Wirtschaft verwehren. Darüber hinaus sollte die gängige Parteienfinanzierung kritisch hinterfragt werden.
Knapp 150 Jahre, nachdem das „Kapital" von Karl Marx erschienen ist, scheint der neue Bericht von Oxfam den Begriff des Klassenkampfes so greifbar wie lange nicht mehr zu machen- wenngleich in abgeänderter Form eines Klassenkampfes 2.0 mit einer globalen Vision: Dem Ende des Verteilungskampfes von wenigen Superreichen gegen den Rest der Welt.