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Die kleine Terrora: "Revolutionäre Vornamen" in der UdSSR

Ninel ruft sich so manche russische Babuschka bis heute. Der Vorname ist gerade unter älteren Rusinnen durchaus verbreitet. Als Ableitung von Nina wird er fälschlicherweise oft bezeichnet. Dabei verweist der Name auf eine der größten historischen Figuren der russischen Geschichte. Denn Ninel ist ein Anagramm für Lenin.

Sowjetischer Namenskult trägt kuriose Blüten

Der Mädchenname im Gedenken an den Vater der Oktoberrevolution ist einer von Tausenden Namensneuschöpfungen, die es zu Beginn der Sowjetunion gab. Alleine von Lenin ließen sich im vergangenen Jahrhundert stolze 548 abgeleitete Namen im Rusisschen nachweisen, schreibt der Historiker Herwig Kraus in seinem Buch "Sowjetrussische Vornamen: Ein Lexikon".

Dabei wirken viele der Namensneuschöpfungen vor allem kurios. So gibt es mit dem Kommunismus assoziierte Wörter, die einfach als Namen genutzt wurden, die "Abstrakta": Dazu zählen zum Beispiel Anarchija, Utopija und Elektrifikacija. Hinzu kommen wilde Kombinationen von Namen wichtiger sowjetischer Persönlichkeiten: etwa Markenglena (Marx/Engels/Lenin) oder Lenstaber (Lenin/Stalin/Berija).

Staatlich verordnete Kreativität

2000 solcher "revolutionären Vornamen" sind alleine in den 1920er und 30er Jahren in der Sowjetunion entstanden. Laut offizieller Propaganda waren es "spontane Reaktion des Volkes" und "individuelle revolutionäre Namensschöpfung" der Eltern. Dabei waren sie Teil einer staatlich verordneten Revolution der althergebrachter Namensgebung.

Bis 1917 basierte die zum Großteil auf biblisch überlieferten Namen und denen orthodoxer Heiliger. Doch mit dem "Dekret über die Gewissensfreiheit und die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften" brachen die Sowjets im Februar 1918 mit dieser Tradition. Fortan durfte jeder Sowjetbürger seinem Kind jedes beliebige Wort als Vornamen geben - so die offizielle Regelung.

Partei bestimmt Vornamen gegen den Elternwillen

Denn in der Realität oblag die neue Wahlfreiheit über die Vornamen vor allem Parteifunktionären. Die traditionellen Taufen wurden von Partei-Feiern in Betrieben, Institutionen und Armee ersetzt. Dort wurden für die Neugeborenen vielfach Namen von der Partei "vorgeschlagen". Viele Eltern nahmen die Entscheidungen stillschweigend hin, um ihre Loyalität zu zeigen.

Selbst für Russen sind die Buchstabenkombinationen und Abkürzungen nicht immer sofort zu dechiffrieren. Doch nicht alle Neuschöpungen waren so schwer zu verstehen. So zeigten einige nicht nur die politischen Ziele der neuen Führung, sondern auch ihre Mittel zur Durchsetzung: So hießen einige Neubürger fortan Rasstrel (Erschießung), Granata oder schlicht Terrora.

Namensboom mit kurzer Halbwertzeit

Doch lange hielt der Namensboom nicht an. Mehrfach mussten die Namensregister "gereinigt" werden, weil Namenspaten wie Trotzki und später auch Stalin von der Partei geächtet wurden. Zudem blieb es ein Stadtphäomen, auf dem Land überwogen weiterhin christliche Vornamen. Insgesamt gerade einmal fünf Prozent der Kinder erhielten revolutionäre Vornamen. Überdurchschnittlich viele davon stammten aus Familien, die der Führungsschicht des neuen Regimes angehörten.

Moderne Überbleibsel der neuen Namenskultur

Komplette Namensneuschöpfungen sind heute zwar äußert selten, aber laut Gesetz immer noch möglich. Und so lebt heute irgendwo in Russland nachweisbar ein Teenager, der Vlapunal heißt. In der Langform steht das für "Wladimir Putin - nasch lider". Auf deutsch: "Wladimir Putin - unser Anführer"

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