Die Zahl der ambulant gepflegten älteren Menschen steigt. Was bedeutet das für die Gesellschaft, und wie sieht der Arbeitsalltag eines Pflegers aus? Wir haben Reinhard Dewinklo begleitet, der seit 28 Jahren ältere Menschen betreut.
Von Agatha Mazur
Nein, Berührungsängste darf er nicht haben: Reinhard Dewinklo fasst seine Patienten an den Beinen, wenn er ihnen beim Aufstehen hilft. Er fasst sie am Nacken und stützt den Kopf, wenn er ihnen in den Rollstuhl hilft. Reinhard Dewinklo ist das, was man als "gute Seele" bezeichnen kann. Seit fast 30 Jahren arbeitet der gebürtige Mülheim-Kärlicher in der ambulanten Pflege, fährt täglich mit seinem roten Renault Clio durch die Verbandsgemeinde Weißenthurm nördlich von Koblenz. 15 bis 20 Patienten warten Tag für Tag auf ihn. Waschen, anziehen, Medikamente verabreichen. Im blau-weiß gestreiften Kittel und bequemen Sportschuhen fährt er seine Runde.
In Deutschland werden immer mehr Menschen zu Hause gepflegt. Bundesweit ist der Anteil mittlerweile auf 71 Prozent gestiegen. 1,86 Millionen von insgesamt 2,63 Millionen Pflegebedürftiger werden zu Hause betreut. Den Großteil der Pflege übernehmen allerdings Angehörige (1,25 Millionen Menschen). Vergleicht man, welche Dienste in Anspruch genommen werden, so stellt man fest: Es werden mehr Menschen in Altenheimen und anderen Einrichtungen betreut (764 000) als durch ambulante Pflegedienste (616 000). Doch die Zahl der ambulant Versorgten wächst schneller - auch in Rheinland-Pfalz ist dieser Trend zu beobachten. Wurden 2009 21 960 alte Menschen zu Hause von Pflegern betreut, waren es 2013 bereits 26 261, ein Anstieg von 20 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der teil- und vollstationär Betreuten um nur 15 Prozent.
Emil Müller* aus Mülheim-Kärlich wird zu Hause gepflegt. Allein aufstehen und sich waschen kann der 79-Jährige nicht mehr. Er liegt noch im Bett, wenn Reinhard Dewinklo gegen 10 Uhr morgens kommt. Durch die großen Fenster fällt graues Licht ins Schlafzimmer des Ehepaars Müller, die Sonne hat es heute schwer. Ein Hochzeitsfoto hängt gerahmt an der Wand, neben dem Spiegel ein Holzkreuz. Reinhard Dewinklo fängt mit der Morgentoilette an. Er wäscht seinen Patienten und hilft ihm in den Rollstuhl. Auch die Frisur muss sitzen. Dewinklo kämmt akkurat den Seitenscheitel: "Bitte schön, der Herr", sagt er, beide lachen. Seit knapp einem Jahr hat Emil Müller die Pflegestufe zwei. Früher konnte er noch mit Gehstock und Rollator gehen, jetzt ist das nicht mehr möglich. Seine Frau schafft die Pflege nicht mehr allein und ist froh über die ambulante Hilfe. Seit knapp einem Dreivierteljahr kommt Dewinklo bei den Müllers vorbei, jeden Tag zur gleichen Uhrzeit.
Viele Menschen wünschen sich, zu Hause in den eigenen vier Wänden alt zu werden, erläutert Marco Wagner, Pressesprecher des Caritasverbands Koblenz. So können sie "selbstbestimmt in der ihnen vertrauten Umgebung ihr Leben gestalten".
Soweit möglich, sollen ältere Menschen im gewohnten Umfeld bleiben, sagt auch Sebastian Rutten. Der Rechtsanwalt ist Geschäftsführer der Pflegegesellschaft Rheinland-Pfalz. Mit rund 345 ambulanten Pflegediensten vertritt die Organisation das Gros der Pflegeeinrichtungen des Landes. Ihr gehören unter anderem die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt und das Deutsche Rote Kreuz an. Rutten sagt voraus, dass in den kommenden Jahren neue Wohnformen an Bedeutung gewinnen werden, um "weichere Übergänge" von der ambulanten zur stationären Pflege zu schaffen.
Solche Zwischenlösungen werden gebraucht, denn die Zahl der ambulant Gepflegten wächst Jahr für Jahr - während gleichzeitig die Zeit, die ein Pfleger pro Patient hat, verkürzt wird. Hatte Reinhard Dewinklo früher eine Dreiviertelstunde für die Morgentoilette eines Patienten, muss er die gleiche Arbeit nun in einer halben Stunde machen. Das schlaucht. Doch noch mehr schlaucht es, jeden einzelnen Schritt im Pflegebericht schriftlich festzuhalten. "Das hat sich krankhaft entwickelt", macht sich Dewinklo Luft. "Wie ein Geschwür." Natürlich sei Dokumentation wichtig, doch seit ungefähr fünf Jahren explodiere die Dokumentationsquote förmlich. Das sehen auch Fachverbände wie die Pflegegesellschaft Rheinland-Pfalz so. Geschäftsführer Sebastian Rutten stimmt zu, dass sich die aktuellen Dokumentationsvorschriften "als nicht praxistauglich" erwiesen haben. Daher gibt es derzeit ein Modell, das die Dokumentationswut reduzieren soll, erklärt Rutten.
Pfleger Reinhard Dewinklo versucht, sich nicht stressen zu lassen. Er ist der geborene Optimist, eine Frohnatur. Trotz der Belastungen ist er glücklich, diesen Beruf ergriffen zu haben: "Ursprünglich wollte ich Vermessungstechnik studieren", erzählt der 59-Jährige. Doch die Arbeit im Büro war nichts für ihn. Schnell war klar: "Irgendetwas im sozialen Bereich" soll es werden. Der Kontakt mit Menschen lässt Dewinklo aufblühen. Doch man darf nicht den Fehler machen und einer romantischen Vorstellung aufsitzen. Nicht nur, dass Pfleger mehr Patienten zu versorgen haben. "Die emotionale Belastung ist stärker geworden", stellt der gelernte Krankenpfleger fest. Den Arbeitsalltag kann Dewinklo nach Feierabend nicht einfach hinter sich lassen. "Wir sind schließlich Menschen und kein Stück Holz", sagt er. Gerade deswegen ist eine gewisse Distanz wichtig, schon aus Selbstschutz. Dewinklo hat das Glück, mit einer Krankenschwester verheiratet zu sein. Zu Hause erzählt sich das Paar gegenseitig von den Erlebnissen. Letztendlich muss man lernen, abzuschalten. Doch auch die körperliche Belastung ist im Beruf nicht ohne: Es ist keine Seltenheit, dass Reinhard Dewinklo mit seinen knapp 70 Kilogramm Menschen heben muss, die schwerer sind als er selbst. Wie seinen nächsten Patienten.
Dewinklo ist mittlerweile in Weißenthurm angelangt. Es ist halb 12. Seit 6 Uhr ist er bereits auf den Beinen. Fritz Schneider* freut sich auf den gut gelaunten Pfleger. Wenn andere Kollegen vorbeikommen, schaltet er häufig auf stur, erzählt Schneiders Frau. Zu Dewinklo hat der 86-Jährige Vertrauen, lässt sich animieren und spricht auch häufiger. In der Erdgeschosswohnung sind die Rollläden halb heruntergelassen, die Luft im Wohnzimmer ist warm und stickig. Pflanzen begrünen die Fensterbank. Fritz Schneider sitzt im großen Bett - nicht aufrecht, das schafft der Weißenthurmer nicht mehr. Der Katheter hängt am Bettgestell, nebenan auf dem Tisch steht eine braune Wanne mit warmem Wasser. Cremes und Tuben reihen sich aneinander. Dreimal in der Woche beinhaltet die Morgentoilette eine Rasur. Reinhard Dewinklo greift sich den Rasierschaum und verstreicht ihn sanft auf den Wangen des alten Mannes: links, rechts und auf der Oberlippe. Dann fährt er mit dem Rasierer routiniert die Wangen entlang - fertig. Die unvermeidliche Dokumentation am Ende darf nicht fehlen, Dewinklo erledigt sie am Wohnzimmertisch.
Pfleger dürfen keine Langschläfer sein und müssen mit körperlichen und emotionalen Belastungen fertig werden. Und was ist mit der Wertschätzung, bleibt sie auf der Strecke? Liegt hier die Schwierigkeit, Nachwuchs zu finden? Sebastian Rutten von der Pflegegesellschaft sieht in der Gewinnung von ausreichend Fachpersonal die große Herausforderung der nächsten Jahre. Das Wort Pflegenotstand möchte er nicht in den Mund nehmen, doch "zweifelsohne" müssten die Bestrebungen, Fachkräfte zu gewinnen, verstärkt werden. Eine Profession mit so hohen Anforderungen muss mehr Wertschätzung erfahren, fordert er. Mangelnde Wertschätzung sieht Marco Wagner von der Caritas Koblenz hingegen nicht als Problem: Bei Menschen, die sich für diesen Beruf entscheiden, sei es häufig vielmehr eine Lebenseinstellung. "Pflege ist ein helfender Beruf, in dem eine persönliche Beziehung eingegangen wird. Die Dankbarkeit, die einem im Alltag entgegengebracht wird, trägt dazu bei, dass dieser Beruf zu etwas ganz Besonderem wird."
Dankbarkeit erfährt Reinhard Dewinklo: von Patienten und Angehörigen. Er ist Pfleger mit Leib und Seele, der auch nach 28 Jahren in der ambulanten Pflege noch Spaß an seinem Beruf hat: "Wir können etwas bewirken", ist sich Dewinklo sicher. "Mit dem, was wir erhalten und was wir geben." Der 59-Jährige steigt in sein rotes Auto, winkt zum Abschied. Der nächste Patient wartet bereits.
AGATHA MAZUR
* Namen der Patienten geändert