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Zwischen Euro-Islam und Radikalisierung

Zu einer Podiumsdiskussion in das Bonner Universitätsforum lud die Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP). Anlass der Debatte war der Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo. Dass sowohl Frankreich als auch Deutschland unter der Radikalisierung junger Muslime leiden, ist unbestritten. Die besondere Vielfältigkeit der Ursachen und Lösungen in beiden Ländern wurde an diesem Abend jedoch deutlich. Ein Bericht von Adrian Arab.

Im Namen des Institut Français leitet Prof. Dr. Francoise Rétif den Abend ein. Ein Beitrag der Einrichtung sei die Förderung interkultureller Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Rétif bemängelt gleich zu Beginn den fehlenden Mut bei wichtigen Debatten in beiden Gesellschaften. So entstünden „blinde Flecken der Verständigung". Nicht nur Vorurteile befeuerten demzufolge Konflikte. Auch die Kraft des Wortes werde heute zu selten zur Konfliktlösung eingesetzt. Der Anschlag auf Charlie Hebdo ist für Rétif das Ergebnis einer zunehmenden Entfremdung zwischen einer muslimischen Minderheit und europäischen Werten. Diese Gefahr einzudämmen sieht sie als gesamtgesellschaftlichen Auftrag.

Auch Bodo Hombach, Präsident der Akademie, sieht die Gefahr einer Radikalisierung wachsen. Während das „eigene Versagen" Einzelner und der damit einhergehende Frust nur ein Faktor dafür sei, bezeichnet auch Hombach die Radikalisierung als gesamtgesellschaftliches Problem. Doch betreffe dies nicht nur muslimische Minderheiten. Auch Extremisten rechter Gruppierungen nutzten „orientierungslose Menschen als Projektionsfläche" für ihr radikales Gedankengut.

Mehr als nur Muslima

Die anschließende Debatte moderiert Alexander Marguier, stellvertretender Chefredakteur des Polit-Magazins Cicero. Schon zu Beginn trifft der Autor und Journalist einen wunden Punkt bei Serap Güler, CDU-Abgeordnete des nordrhein-westfälischen Landtags. Gülers islamische Konfession nennt er in einem Atemzug mit ihren politischen Funktionen. In der anschließenden Antwort wehrt sich die Politikerin vehement dagegen, stets über die eigene Religion definiert zu werden.

Konservativ sein heißt nicht: bekehren

Serap Güler stammt aus einem konservativen Elternhaus. Als Tochter türkischer Einwanderer wuchs sie im Ruhrgebiet auf. Für sie sind konservative Werte im Hinblick auf den islamischen Glauben kein Grund für Verbote. Während ihre Eltern auch heute noch ein strenggläubiges Leben führen, erlebte sie selbst eine Kindheit „frei von Bekehrungen". Dennoch: Gewisse Einschränkungen im Hinblick auf ihren Glauben streitet sie nicht ab, dem Vorwurf der Verbotsreligion setzt sie jedoch relativierend entgegen: „Auch meine polnischen Freunde durften nicht unbegrenzt bis in die Nacht feiern gehen". Damit macht Güler klar, dass Verbote nicht stets religiös motiviert seien , sondern manchmal einfach nur dem „natürlichen Schutzbedürfnis entsprechen". Die Christdemokratin selbst lebt einen „Euro-Islam". So lehnt sie den Verzehr von Schweinefleisch ab, trinkt aber Alkohol. Den Islam mit dem Terrorismus gleichzusetzen sieht Güler kritisch - auch wenn die Religion derzeit unter einem „Imageproblem" leide.

Problematisch betrachtet Güler die mangelnde Organisationsstruktur des Islam in Deutschland. Sogenannte Moscheevereine, oft Träger religiöser Einrichtungen, haben sich in Deutschland in Form von Verbänden zusammengeschlossen. Dennoch gibt es bis heute keinen allumfassenden Dachverband, von dem sich eine Mehrzahl der Muslime vertreten sieht. Sowohl kulturelle, als auch religiöse und geografische Unterschiede führen in Deutschland zu einer Fragmentierung der einzelnen Verbände. Bis heute sind nur knapp fünfzehn Prozent der Muslime in einem solchen Verband organisiert. Während sich christliche Einrichtungen etwa über die Kirchensteuer finanzieren, werden Moscheevereine durch Spenden versorgt. Große Spendenanteile kommen etwa vom türkischen Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Das kritisiert auch Güler, die eine „unabhängige Finanzierung" fordert, die eine Einflussnahme etwa durch die türkische Regierung verhindere. Christian Wulffs kontroverse Einschätzung „der Islam gehört zu Deutschland", teilt die Unionspolitikerin. Dies zu akzeptieren, habe aber „nicht nur für die deutsche Bevölkerung Konsequenzen". Besonders für die Muslime selbst stelle dies eine besondere Verantwortung dar. So fordert Güler etwa eine Imamausbildung und stellt klar, dass der Staat dem Islam die Selbstorganisation „nicht abnehmen kann".

Bildung als Schlüssel zum Erfolg

Dass sich die Radikalisierung in Frankreich zunehmend verschärft, stellt Dr. Sascha Lehnartz fest. Der langjährige Frankreich-Korrespondent der WELT-Gruppe sieht dies nicht als rein politisches Problem. Schon der Städtebau in Frankreich fördere eine Isolation der Muslime vom „gesellschaftlichen Zentrum". Dabei bezieht sich Lehnartz auf die Banlieues genannten Vororte von Paris, Toulouse, Marseille und anderen französischen Großstädten. Diese oft heruntergekommenen Wohnsiedlungen an den Randbereichen der Stadt sind heute nicht selten soziale Brennpunkte. Ungewollte Aufmerksamkeit erlangte etwa der Pariser Vorort Clichy-sous-Bois als Ausgangspunkt gewalttätiger Unruhen. Im Jahr 2005 war dies die sehr heftige Antwort auf den Tod zweier muslimischer Jugendliche, ausgelöst durch eine polizeiliche Verfolgungsjagd.

Als weiteren Schwachpunkt konstatiert Lehnartz die Bildungsprobleme, die besonders bei Ausländern konsequent ignoriert würden. Noch heute sind spürbar mehr Inländer mit Migrationshintergrund von Arbeitslosigkeit in Frankreich betroffen, verglichen zu Einwohnern ohne Migrationshintergrund. Ähnlich verhält es sich mit Bildungsabschlüssen: Während 18 Prozent der Nachkommen von Einwanderern in zweiter Generation keinen Bildungsabschluss haben, sind es bei Franzosen ohne Migrationshintergrund elf Prozent. Besonders Türken und Algerier stechen in der Statistik hervor. Für Lehnartz führen diesen Faktoren letztlich zu einer „explosiven Mischung", die Akzeptanz für die Theorien einzelner Hassprediger schaffe. Als Teillösung der Probleme benennt Lehnartz klar die Reform der Bildungseinrichtungen. Während Schulen den Auftrag hätten, „Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen", sei dieses Ideal in Frankreich jedoch lange verfehlt worden. Daran schließe auch das schlecht funktionierende Ausbildungssystem an, das in Deutschland fortschrittlicher sei.

Frankreich befindet sich am „Scheideweg"

Noch verschärfter stellt die Situation Prof. Dr. Claire de Galembert die Situation dar. Folgt man der Französin und Soziologin am Pariser Forschungszentrum CNRS, so sei Frankreich an einem „Scheideweg" angelangt. Dabei bereitet ihr besonders der „tiefe Riss" zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischen Minderheiten große Sorge. Muslimische Extremisten werden auch in Frankreich oft in Moscheen rekrutiert. So auch der spätere Charlie-Hebdo-Attentäter Chérif Kouachi. Er lernte seinen späteren Mentor Farid Benyettou in der Pariser Moschee Adaa'Wa kennen. Heute weiß die Polizei: Benyettou war es, der Chérif für den Dschihad begeisterte.

Für de Galembert sind all dies keine plötzlichen Ereignisse. Im Gegenteil sieht sie die aktuelle Problematik als Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Entfremdung, der seinen Ursprung in den 1990'er Jahren habe. Auch die in der m französischen System Gesellschaft tief verankerte Laizität sei keine Präventivmaßnahme für religiöse Konflikte. Während der erste Artikel im deutschen Grundgesetz die Unanantastbarkeit der Menschenwürde proklamiert, beginnt die französische Verfassung mit der Trennung von Kirche und Staat. So verbietet der Laizismus jeglichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, auch eine zu Deutschland vergleichbare Kirchensteuer gibt es nicht. Der aktuelle Laizismus forciere, so de Galembert, mangelnde Toleranz und biete zu wenig Freiraum für die „religiöse Individualität". So fordert die Soziologin eine Laizität, die nicht als „Zwangsmaßnahme" aufgefasst werde, sondern „Freiraum für alle" lasse.

Der Unterschied zwischen Wunsch und Realität

Auch bemängelt de Galembert den eklatanten Unterschied zwischen einer Wunschvorstellung und praktisch umgesetztem Republikanismus in Frankreich. Das Prinzip des Republikanismus sieht stärker als der Liberalismus ein Gemeinwohl für alle vor. So soll sich auch die Politik am Gesamtinteresse der Gesellschaft orientieren und einzelne Privatinteressen ignorieren. Diese „Chancengerechtigkeit" vermisst de Galembert in Frankreich. So öffne besonders das Bildungssystem nicht allen jungen Menschen dieselben Möglichkeiten. Ergebnis, so die Soziologin, sei der wachsende Frust über den „Verrat" an der jungen Generation. Einen klaren Beweis dafür nennt sie die Gewalt gegen die Obrigkeit, die sich in Frankreich immer wieder in besonderem Maße gegen Schulen richte.

Dass der Journalismus den ganz besonderen Auftrag habe, den in sich „für uns unverständlichen" Islam in seinem jeweiligen Kontext zu erklären, sieht Dr. Willi Steul. Als Intendant des Deutschlandradios war die Radiosendung „Islam erklärt" für ihn ein Schritt, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Steul macht klar, dass besonders Muslime selbst aufgrund ständiger medialer Kritik am Islam einem hohen Leidensdruck ausgesetzt seien. Einen gravierenden Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland macht Steul indessen im in Bezug auf den Begriff „Ausländer" fest. Große Teile der heute über vier Millionen in Deutschland lebenden Muslime verließen ihre Heimat ursprünglich als Gastarbeiter. Heute leben die Nachkommen in zweiter und dritter Generation großteils größtenteils integriert in der Republik, wobei viele von ihnen keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Anders verhält es sich in Frankreich. Der Islam hat dort seinen Ursprung in den Maghreb genannten Nordafrikanischen nordafrikanischen Staaten. Während Obwohl durch die Kolonialisierung eingebürgerte Muslime - etwa aus Algerien - offiziell als Franzosen anerkannt wurden, kommt es auch heute immer noch zu Diskriminierungen. Eine Identifikation mit Frankreich ist für viele Muslime daher unmöglich, sie fühlen sich heute noch als Ausländer. Die so entstehende - „unrechte" - Klassengesellschaft führe laut Steul zu tiefem Frust.

Dass Religion selbst in Deutschland zu oberflächlich thematisiert werde, sieht Steul als weiteres Problem. Besonders in Schulen würde kein breites Wissen über die verschiedenen Religionen vermittelt, was nicht nur zu fehlendem Verständnis führe. Auch die „religiöse Kraft", die ihre Wirkung besonders im Bezug bei auf radikalisierten Jugendlichen unter Beweis stelle, werde maßlos unterschätzt. Letztlich befürwortet auch Steul einen Laizismus. Dieser müsse allerdings „Freiraum für unterschiedliche kulturelle Prägungen", also Toleranz, zulassen.

Lehrreicher Abend - mit offenen Fragen

Das kontroverse Thema „Jugend und Islam" im Hinblick auf französische und deutsche Probleme in Frankreich und Deutschland wurde an dem Abend interessant und detailreich im Bonner Universitätsforum beleuchtet. Besonders die verschiedenen Hintergründe der Gäste ließen Großes erwarten - und enttäuschten in Sachen Kompetenz nicht. Dennoch war der Abend mehr ein Meinungsaustausch. Eine wirkliche Diskussion entstand nicht, große Meinungsverschiedenheiten etwa im Hinblick auf konkrete Handlungsmöglichkeiten gab es nicht. Nur vereinzelt drangen konträre Positionen an die Oberfläche. Die Probleme in Deutschland und Frankreich wurden umfassend, aber dennoch isoliert voneinander besprochen. Daher blieb die zentrale Fragestellung leider unbeantwortet und wurde überhaupt erst durch das Publikum in der anschließenden Fragerunde reanimiert: „Was können Frankreich und Deutschland gemeinsam tun?"

Das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg hat uns dabei geholfen, diesen Artikel zu finanzieren. Werft gerne einen Blick auf ihre Homepage: http://institut-walberberg.de/
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