Dieser Beitrag von Adolf Stock wurde erstmals am 04.11.2016 im Deutschlandradio gesendet.
Bratislava, die slowakische Hauptstadt, die bis 1919 noch Preßburg hieß, war ein bedeutendes Zentrum des jüdischen Lebens in Osteuropa. Bis zu 15.000 jüdische Bürger lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt. Heute gibt es nur noch 500 bekennende Juden in Bratislava. Seit der Wende versucht die kleine Gemeinde einen Neuanfang. Doch man kann nicht einfach nach vorne blicken, in vielen Bereichen hat die jüdische Vergangenheit Einfluss auf das alltägliche Leben. Während einer Journalistenreise mit dem „Deutschen Kulturforum östliches Europa“ nach Bratislava konnte Adolf Stock auf Spurensuche gehen.
Sendung: Jüdisches Leben in Bratislava
Take 1: (Maroš Borský)
„Tor wird geöffnet – Herzlich willkommen. Mein Name ist Maroš Borský. Ich bin Vizevorsitzender der Jüdischen Gemeinde hier in Bratislava. Ich würde die Gelegenheit nutzen, Ihnen die Synagoge und das Jüdische Gemeindemuseum vorzustellen, danach würden wir auch das Chatam-Sofer-Denkmal besuchen.“
Sprecher:
Maroš Borský will seinen Besuchern drei Orte zeigen, die bis heute für das jüdische Leben in Bratislava von Bedeutung sind. Es sind nicht nur Orte der Erinnerung, alle drei führen auch direkt in die Gegenwart.
Im Hof vor dem Eingang der Synagoge erzählt Maroš Borský von der jüdischen Gemeinde in Bratislava. Sie hat etwa 500 Mitglieder und ist damit die größte Gemeinde in der Slowakei.
Take 2: (Maroš Borský)
„Vor dem Krieg gab es zwei jüdische Gemeinden, eine orthodoxe Gemeinde und eine Neologen-Gemeinde. Insgesamt 14.000 bis 15.000 jüdische Bürger in Bratislava.“
Sprecher:
Heute gibt es nur noch eine orthodoxe Synagoge. Sie stammt aus den frühen 20er Jahren und ist dem Neuen Bauen verpflichtet, mit expressivem Interieur, das an den Prager Kubismus erinnert.
1978 verstarb der letzte Rabbi, danach war die Stelle 15 Jahre verwaist, bis 1993 Baruch Myers als Chief Rabbi aus New Jersey in die slowakische Hauptstadt kam – für den orthodoxen Rabbiner eine völlig fremde Welt.
Take 3: (Baruch Myers)
„And being an American I was very proudly Jewish…
… no one just took me as just a plain person. This was my experience.“
„Als Amerikaner war ich stolz, Jude zu sein, und es war absolut normal. Ich musste mich dafür nie entschuldigen, ich war das einfach so gewohnt. Und hier war ich immer ein Jude, aus Sicht der Slowaken, entweder bei Slowaken, die Juden mögen, oder von Slowaken, die sie nicht mögen. Aber keiner hat mich einfach nur als normalen Menschen gesehen. So habe ich das wahrgenommen.“
Sprecher:
Die kleine Gemeinde ist bunt zusammengewürfelt. Alte Bürger aus Bratislava gehören kaum dazu. Nach dem Holocaust und den politischen Repressionen während der kommunistischen Zeit gingen die meisten von ihnen ins Exil. Seit der Wende versucht die Gemeinde einen Neuanfang.
Die Synagoge für die liberalen Juden stand neben dem Martinsdom am Rande der Altstadt. 1895 geweiht, überlebte sie zwei Weltkriege und wurde erst 1969 abgerissen, weil sie dem Neubau einer Donaubrücke im Wege stand.
Heute dient die orthodoxe Synagoge allen Gemeindemitgliedern. Aber der liberale Rabbi Mikhail Kapustin, der 2014 von der Krim nach Bratislava kam, darf in ihr nicht predigen. Doch die Synagoge ist nicht der einzige Ort, es gibt ein jüdisches Gemeindezentrum, wo man sich trifft.
Take 4: (Baruch Myers)
„My wife is an educator, and we work very closely together….
…so yeah, classic rabbinic roles”
„Meine Frau ist Erzieherin, und wir arbeiten eng zusammen. Wir wollen möglichst viele Bildungsaktivitäten für Kinder ins Leben rufen, wie zum Beispiel unseren Kindergarten, den wir 1995 gegründet haben. Wir konnten nie eine Grundschule gründen. Auch weil wir keine jüdische Schule für sowohl jüdische als auch christliche Kinder gründen wollten, darüber gab es eine Zeitlang Streit. Ich bin auch ein Schochet, also ein Schlachter nach jüdischem Ritus, das mache ich selbst. Nun ja, die klassischen Aufgaben eines Rabbiners.“
Atmo:
Treppe
Sprecher:
Maroš Borský ist auch Leiter des Jüdischen Gemeindemuseums. 2012 wurde es auf der Empore der Synagoge neu gestaltet. Eine wunderbare kleine Ausstellung mit wertvollen Exponaten. Das Museum existiert eigenständig neben dem staatlichen „Museum der jüdischen Kultur“, das im ehemaligen Judenviertel über die Geschichte der Juden in der Slowakei informiert.
Take 5: (Maroš Borský)
„Im Prinzip wurde das Museum wie im Bereich Diözesanmuseum gesehen.“
Atmo:
Zeitzeugen
Sprecher:
Auf Videos erinnern sich Zeitzeugen an den Holocaust. Doch die meisten Exponate erzählen von einer beeindruckenden Vergangenheit: Wertvolle Silberarbeiten, kostbare Gewänder und alte Bilder und Schriften werden gezeigt, auch ein altes Preßburger Steuerbuch in hebräischer Schrift, das bei Sotheby‘s in New York ersteigert wurde.
Atmo:
Straßenbahn
Sprecher:
Die Straßenbahn rattert durch den Burgbergtunnel, der zwei Stadtteile von Bratislava miteinander verbindet. 1943 war Baubeginn. Der Tunnel endete in Donaunähe, mitten auf einem alten jüdischen Friedhof, der dem Verkehrsprojekt weichen musste. Wie durch ein Wunder konnten einige Gräber erhalten werden. Übrig blieb ein kleines unterirdisches Gräberfeld über das nun die Straßenbahn fährt. Hier liegt einer der bedeutendsten Rabbiner des 19. Jahrhunderts begraben.
Take 6: (Maroš Borský)
„Der Rabbiner Chatam Sofer, mit Eigennamen Mosche Schreiber, in Frankfurt am Main 1762 geboren. Seit 1806 war er hier in Preßburg, und er hat die bekannte Preßburger Jeschiwa hier geführt. Zu seiner Zeit war das eines der wichtigsten Zentren der jüdischen Lehre in Europa.“
Sprecher:
Der unterirdische Friedhof ist für ultraorthodoxe Juden ein Heiligtum. Das Grab von Chatam Sofer gehört für sie zu den wichtigsten Pilgerstätten in ganz Europa.
Take 7: (Maroš Borský)
„Es kommen wirklich Pilger aus der ganzen Welt, jüdische Pilger, oft fliegen sie aus Amerika nach Israel oder Wien mit einem kurzen Stop over, dann fahren sie mit einem Taxi, um hier zu beten, und dann fahren sie weiter.“
Sprecher:
Maroš Borský bleibt trotz aller Schwierigkeiten optimistisch. Er glaubt fest daran, dass die jüdische Gemeinde in Bratislava eine Zukunft hat.
Take 8: (Maroš Borský)
„Bratislava ist eine Hauptstadt von einem europäischen Land. Es kommen hier und siedeln sich an auch junge jüdische Professionelle aus Deutschland, Amerika, Kanada, Israel, also auch aus anderen Ländern.“