Schutzsuchende waren und sind sichtbar gewordene Globalisierung, sie sind „Boten des Unglücks" (Brecht) in einer aus den Fugen geratenen Welt. Bereits vor dreißig Jahren, als es zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen oder zum Brandanschlag in Mölln kam und gleichzeitig die Bundesregierung das Asylrecht einschränkte, sang Steffen Mensching im Clownduo mit Hans-Eckardt Wenzel, das sie einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte: „Sie werden kommen, der Tag ist nicht fern / Aus den verwahrlosten Städten". Mit seinem neuen Buch „Hausers Ausflug" begibt sich Mensching nun wieder auf eine Hauptstraße seines literarischen Kosmos. Auf dieser kann man besichtigen, wie Migration, Vertreibung und Flucht die Menschen und die Welt prägen.
So viel änderte sich seit 1992, so viel blieb aber auch gleich: In ab- und zunehmenden Wellen stieg die Anzahl der Schutzsuchenden, doch das Mittelmeer ist immer noch die gefährlichste Grenze der Welt. Zudem entstand in Europa ein erschreckendes System zur Abschottung, Abschreckung und Auslagerung mit immer ausgefeilteren technischen Möglichkeiten, von Drohnen bis zu Bewegungssensoren. Und während es seit 2004 mit Frontex eine üppig finanzierte EU-Grenzagentur gibt, ist die Seenotrettung auf private Spenden angewiesen und wird immer wieder kriminalisiert.
So entstand eine Welt, die sich als spiegelverkehrt zu jener erweist, die Steffen Mensching in seinen großen historischen Romanen wie „Jakobs Leiter“ und vor allem „Schermanns Augen“ beschreibt. Diese zeigen facettenreich ein Europa im Katastrophenzeitalter zwischen Nazidiktatur und Stalinismus.
Zentraleuropa war seinerzeit eine Region, aus der viele flohen oder vertrieben wurden. Damals avancierte das marokkanische Casablanca zum Hoffnungsort für Flüchtlinge aus dem von den Nazis besetzten Europa, heute versuchen in umgekehrter Richtung viele aus Nordafrika nach Westeuropa zu gelangen. Nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch an jenen der USA zeigen sich dabei zahlreiche Parodoxien: Man will bleiben, muss aber weg, so benennt Judith Kohlenberger ein zentrales Fluchtparadox gestern und heute. Weitere sind für die Migrationsforscherin: Man sucht Sicherheit, muss dafür aber ein hohes Risiko eingehen. Man muss Recht brechen, nämlich „illegal“ Grenzen passieren, um zu seinem Recht auf Asyl zu kommen. Ein weiteres Paradox für die EU oder Nordamerika könnte heißen: Man muss Menschen vertreiben, aber den Anschein von Menschlichkeit wah-
Etappen mit unterschiedlichen Personen abläuft, sodass jede(r) ein Rädchen im Getriebe ist und sich in Unschuld wähnen soll. Dazu kommt eine Omertà in den Behörden. Nicht zufällig heißt es in vielen Reportagen, „Namen und Orte sind verändert worden“. Diese Ausgangssituation erzwingt geradezu den Gang in die Fiktion. Erstaunlich, wie wenig das in der deutschen Literatur vorkommt.
Steffen Mensching rekonstruiert nicht wie in seinem bisherigen Hauptwerk „Schermanns Augen“ eine Vergangenheit, sondern konstruiert eine nahe Zukunft. Vordergründig hat Hauser, die Titelgestalt des neuen Romans, eine anscheinend humane Lösung für Abschiebungen entwickelt. In einem unbemannten Fluggerät, medikamentös ruhiggestellt, werden die wieder Ausgestoßenen durch Hausers Firma in Krisen- und Kriegsgebieten abgesetzt, die zuvor als sicher erklärt worden sind. Verständlich, dass Hauser bei dieser
Dienstleistung mit Exklusivvertrag wohlhabend geworden ist.
Die Handlung setzt ein, als Hauser gegen seinen Willen in eins seiner Fluggeräte geraten ist. Ein böser Scherz? Eine Entführung oder ein anderes Verbrechen? Wer aber sind der oder die Täter? Neider, Konkurrenten oder Aktivisten, die gegen das Asylregime mit tödlichen Grenzen und Abschiebungen protestieren? Ohne Antwort wird Hauser in einer unwirtlichen
Gegend abgesetzt, die er nicht kennt. Es ist eine Welt am Rande Europas, für die sich auch Eric Ambler interessierte, mehr sei nicht verraten. In der Form eines Spannungsromans, wie man sie von diesem Ausnahmeautor kennt, unternimmt Mensching einen weiteren Versuch, jene extreme Gewalt zu verhandeln, die unsere Weltordnung hervorbringt und die wir nur ausschnittsweise über Medien und in Form von Flüchtlingen und Migranten in unseren Straßen wahrnehmen. Das Kunststück liegt darin, wie es Steffen Mensching gelingt, Mitgefühl mit dem im ersten Moment unsympathischen Protagonisten zu erzeugen. Eine Geschichte einer ostdeutschen Familienach 1989 enthüllt sich in den Erinnerungen von Hauser, die bis in die nahe Zukunft der Jahre 2029/30 reicht. So taucht im Roman auch der zehnte Jahrestag des Terroranschlags in Hanau auf.
In einer Schlüsselszene erfindet sich Hauser eine Familie, von dieser träumt er später. Kann man, frage ich im Gespräch mit dem Autor, „Hausers Ausflug“ auch als Traum lesen wie das Titelgedicht seines bislang letzten Gedichtbandes „In der Brandung des Traums“? Es endet damit, dass das ertrinkende lyrische Ich im Schlauchboot auf der Flucht sich als eigenes Ich
erweist: „um schreiend zu erwachen und nach dem Wesen zu / tasten, das neben Dir liegt“. Menschings Antwort: „In der Tat, ich habe eine gewisse Zeit darüber nachgedacht, Hauser am Ende erwachen zu lassen. Das Ganze erinnert nicht von ungefähr an einen Alptraum.“ Es ist allerdings im Roman ein Alptraum, aus dem man nicht einfach erwachen kann. Geschildert wird vielmehr die Extremsituation, wenn einer „von uns“ auf die andere Seite der
Grenze gerät. Ein Bürger, der an unsere Art des Lebens glaubt und fragt: „Wieso will man ein System verändern, das funktioniert?“ Und Hauser erhält die knappe Antwort: „Für Dich funktioniert es, für andere nicht.“
Die Grundidee dieses Romans könnte nicht aktueller sein: Kurz vor Erscheinen des Buches bekannten sich die potenziellen Nachfolger des britischen Premierministers Boris Johnson ausdrücklich zu dessen Vorhaben, Asylsuchende nach Ruanda ausfliegen zu lassen. Dort sollten auch die Asylverfahren stattfinden, und selbst bei positivem Bescheid hätten die Schutzsuchenden in diesem afrikanischen Land bleiben müssen, das im Gegenzug
Geld aus Großbritannien erhalten hätte. Dieser Plan erschien den konservativen Kandidaten populär. Zuvor hatte schon die dänische Regierung versucht, für einen ähnlichen Plan Gefängnisse im Kosovo anzumieten. Beide Vorhaben sind einstweilen von Gerichten gestoppt worden, aber sie geben einen Fingerzeig, wohin die Reise geht: Probleme – was hier bedeutet: Menschen – sollen zunehmend ausgelagert werden.
„Ein Mensch, ein Problem, kein Mensch, kein Problem“, dieser häufig Stalin zugeschriebene Satz passt auch für diese Situation. Allerdings legte Anatoli Rybakow in seinem Roman „Die Kinder vom Arbat“, dem ersten Teil seines vierbändigen Epochenpanoramas, diesen Satz Stalin in den Mund. Als Nachgeborener schuf Steffen Mensching mit „Schermanns Augen“ ein Pendant zu Rybakows bekanntem Werk. Auf den ersten Blick verbindet Menschings neues Werk wenig mit diesem Roman, bei genauerem Hinsehen sieht man aber, dass beide Werke Kammerspiele mit Panoramaausblicken auf die jeweilige Epoche sind. Im Zentrum stehen jeweils zwei Menschen in Extremsituationen, beide Bücher sind welthaltig mit Humor wie in einem Stück von Heiner Müller. Sprachlich und dramaturgisch liegt „Hausers Ausflug“
weit über dem Durchschnitt. Bei aller Ambivalenz der Romanform stellt er ein Misstrauensvotum dar. Dabei bleibt Steffen Mensching als Enkel von Karl Marx und Karl Valentin ironisch-utopisch wie im Gedichtband „In der Brandung des Traums“, in dem es heißt: „...die jüngste / Vergangenheit hat in diesem Land / zum gegenwärtigen Zeitpunkt / nicht die Spur einer Zukunft.“
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