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Wie erklärt sich unser Niedergang?

Auf den Spuren des europäischen Traums

Schwer ist es, über die zerklüftete, umkämpfte Gegenwart zu schreiben, in der die Politik noch nicht zur Geschichte geronnen ist. Der niederländische Autor Geert Mak versucht es trotzdem - und zwar mit großem Erfolg. Nach seinem vielgelesenen und mannigfach übersetzten Buch „In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhunderts" aus dem Jahr 2004 ist nun mit „Große Erwartungen. Auf den Spuren des Europäischen Traums" die Fortsetzung erschienen, über die Jahre 1999 bis 2019. Während das erste Buch zuversichtlich endete, ist das neue Werk düster, genau wie schon sein hellsichtiges USA-Buch aus dem Jahr 2012 (vgl. die Besprechung in „Blätter", 8/2013). Dieses zeigte ein Land, in dem viele glauben, ihren Kindern werde es schlechter gehen und immer mehr Politiker würden nur sich selbst verkaufen - obwohl von einem US-Präsidenten Trump damals noch nicht die Rede war. Beide, die USA wie die EU, heißt es nun im Vorwort von „Große Erwartungen", konnten betrachtet werden „als Projekte, mit denen freie Bürger den Verlauf der Geschichte selbst zu bestimmen versuchten", als Projekte, „deren Ursprünge in den Idealen der Aufklärung lagen, in der Idee der Menschenrechte, der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wie
aber, fragt Mak, „ist der Niedergang von etwas so Schönem zu erklären?“


Wieder verwebt der Altmeister bei der Suche nach der Antwort eigene Beobachtungen und Recherchen, Pressemeldungen und intellektuelle Positionen, Literatur und Geschichtsschreibung zu einem großen Panorama, das aber diesmal viele Entwicklungen skizziert, die noch nicht abgeschlossen sind. In Stendhals „Kartause von Parma“ findet Mak ein Bild für die Schwierigkeit, die Gegenwart zu verstehen: Ein idealistisch gestimmter junger
Mann irrt als Freiwilliger über ein Schlachtfeld; er weiß nicht, wo die vorderste Linie ist, geschweige denn sieht er eine Möglichkeit, seine Ideale zu realisieren. Den Überblick und das Wissen, was Ereignisse bedeuten, haben nur die Nachgeborenen: Die von Stendhal dargestellte Schlacht von Waterloo entpuppte sich als das Ende des Napoleonischen Zeitalters und als der Beginn der Restauration, die aber – wie stets in der Geschichte – etliche Errungenschaften der Revolutionsepoche nicht abschaffen konnte.
Geert Mak führt deshalb eine junge Historikerin aus dem Jahr 2069 ein – also genau 50 Jahren nach dem geplanten Buchende –, die weiß, welche Möglichkeiten der Gegenwart sich schwungvoll entwickelten und welche sich nicht realisierten – und die auch zuweilen daran erinnert wird, was zumindest etlichen von uns durchaus nicht unbekannt ist. „Eine Bemerkung speziell für Sie: Unterschätzen Sie auf keinen Fall, welch tiefe Spuren all
diese europäischen Kriege und Massenmorde in unseren Generationen hinterlassen
haben.“


Vergrabene Opfer

Das historische Mosaik ist diesmal thematisch und chronologisch strukturiert; eingestreute Monologe von Zeitzeugen wie einer Migrantin oder einem Banker beschleunigen wie Stromschnellen den episch-langsamen Erzählfluss und veranschaulichen ein Europa voller Vielfalt und in großer Bewegung. Bereits früh macht Mak Beobachtungen, die als Menetekel kommenden Unheils gedeutet werden können: „Der Jubel in Westeuropa war nur eine Seite der Medaille. Auch in Russland und Osteuropa hatte ich während meiner Reise im Jahr 1999 Optimismus gesehen, vor allem aber außergewöhnlich viel Armut.“ Für alle war die zunehmende gesellschaftliche Spaltung damals sichtbar, aber nur von wenigen ist sie erkannt worden. Es war die Saat, die aufging und deren Früchte autoritäre Führer mittlerweile ernten. Ohne die Sozialpolitik der polnischen PiS (was bekanntlich für Recht und Gerechtigkeit steht), die hierzulande bisweilen als „soziale Geschenke“ diffamiert wird, wäre
diese schon längst abgewählt. Der Geschichtensammler Geert Mak erinnert an eine Reportage von Witold Szablowski, die als brennend aktuelle Parabel auf die herrschende Demokratieschwäche speziell in Osteuropa gelesen werden kann. Im Jahre 2008 drückte die EU aus Tierschutzgründen das Verbot von Tanzbären durch. Keine Peitsche, kein Nasenring mehr; ein Leben in freier Wildbahn sollte für die Tiere beginnen. Allerdings suchten die Bären
nicht nach Nahrung, einen Winterschlaf kannten sie nicht und wenn ihnen das Leben in der freien Natur zu kompliziert wurde, suchten sie die Nähe zu Menschen, stellten sich auf die Hinterbeine und taten, was sie konnten: Sie tanzten. Für anderes waren sie für immer verloren. Die Demokratiedefizite der EU, die Geert Mak analysiert, deprimieren ihn daher immer stärker: „In meinem Kopf wohnten schon seit Jahrzehnten ein Europäer und ein Demokrat. Sie waren immer recht gut miteinander ausgekommen. Doch inzwischen
stritten sie sich ständig, und das nahm gar kein Ende mehr.“
Die Rückkehr der Geschichte, die sich mannigfach ereignete – von der Finanz- über die Euro- und EU-Krise bis zur jäh wachsenden Zahl der Flüchtlinge, von der griechischen Tragödie bis zum Krieg in der Ostukraine –, brachte vergrabene Opfer wieder ans Tageslicht. Im Namen von Toten starben und sterben die Lebenden, wie soeben in Bergkarabach, da
die Geschichte in Form von Erinnerungen und Propaganda die Gegenwart verändert. „Die Ukrainer gaben wieder den Russen die Schuld an der entsetzlichen, durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft verursachten Hungersnot der Jahre 1932 und 1933“, schreibt Mak mit Blick auf die Ost-Ukraine. „Die russische Propaganda wiederum erinnerte mehr oder weniger subtil an die Verbrechen der ukrainischen Nazis […], die polnische und ukrainische Widerstandskämpfer umgebracht, Massaker an Juden begangen
und auch als Wachleute in den Konzentrationslagern gemordet hatten.“
Die Armut, die Geert Mak in Osteuropa 1999 sah, hat längst auch die Ränder Westeuropas ergriffen. Im Jahr 2017 beobachtet er Passanten in einer wallonischen Stadt mit vielen leeren Schaufenstern und vielen nur halb fertigen Gebäuden, die als Bauruinen verwittern. Kleidung, Körperhaltungen zeugen von großer Armut und abgrundtiefer Mutlosigkeit. „Die Gesichter vieler Kinder erinnerten an Fotos aus dem 19. Jahrhundert.“ In diesen peripheren
Regionen erlitten viele Menschen Traumata, soziale, aber auch kulturelle, durch den „Verlust von Bindungen und Traditionen, die ein Gefühl der Geborgenheit gaben“. Politiker, die eine Rückkehr „nach Hause“ versprachen, waren beliebt. „Nur existierte dieses Zuhause nicht mehr.“ Bei seiner letzten Begegnung trifft Geert Mak György Konrad, der ihm schon im Vorgängerbuch in die Abgründe des 20. Jahrhunderts geführt hat. Die Stimme des großen ungarisch-jüdischen Intellektuellen ist leise und schwach, kurz danach, am 13. September 2019, stirbt er. Beide, Mak wie Konrad, glauben, dass denjenigen, die die Vergangenheit verklären, eine autoritäre Zukunft gehören könnte. Doch immerhin endet György Konrad mit
einem hellsichtigen Hoffnungsschimmer: „Ich bin kein Nationalist, ich bin Urbanist. Urbanismus, das ist die Basis für das Europa des 21. Jahrhundert.“ Knapp zwei Jahre später wissen wir, dass Donald Trump vor allem in den großen Städten abgewählt wurde.


Mit Geert Maks Gesamtwerk ist eine eindrucksvolle Chronik der Globalisierung entstanden. Mit einer niederländischen Perspektive Anfang der 1990er Jahre beginnend, erweiterte sie sich immer stärker zu europäischen, ja zuweilen weltweiten Blickwinkeln im momentanen Schlussband „Großen Erwartungen“. Schon lange ist Amsterdam, von dem Maks Debüt ausging, keine Welthauptstadt der Globalisierung mehr. Und selbst Neu-Amsterdam, das sich als New York mit seinen Wolkenkratzern zum Zentrum der Welt entwickelte, ist heute nur noch eine Metropole neben anderen. Allerdings dürfte die planetarische Epoche der Menschheit anhalten. Also bleibt Geert Mak sein Stoff erhalten. Die deutsche Übersetzung des 2019 in den Niederlandenerschienenen Werks endet mit einem Brief, gerichtet an die Historikerin im Jahr 2069 – ein Epilog, der in Maks Heimat als eigene Schrift erschienen
ist. Auf den Antwortbrief der Historikerin aus dem Jahr 2069 kann man gespannt sein, aber bis dahin tappen wir genau wie der Altmeister im „Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Ernst Bloch).


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