Besondere Gäste führt Lothar Müller in einen besonderen Raum. Während er fröhlich plaudert, drückt Müller die Klinke nach unten, dann öffnet sich die Holztür. In diesem Moment verstummt der Rentner im Trainingsanzug. Den Anblick, der sich einem darbietet, will er offenbar wortlos wirken lassen: Regale vollgestopft mit Trophäen, Urkunden und Medaillen. Lothar Müller, 68, ist stolzer Präsident eines der erfolgreichsten Sportvereine in Deutschland. Bloß dass ihn kaum einer kennt: den Sportkeglerverein Rot-Weiß Zerbst 99.
Müller war sofort begeistert, als die ZEIT ihn fragte, ob man diesen Verein einmal porträtieren dürfe. Natürlich, sagte er. Sofort! Er werde einen beim Heimspiel im VIP-Raum empfangen.
16 Spielzeiten in Folge wurde der Club deutscher Meister, er gewann zehn Weltpokale und vier Champions-League-Titel. In Zerbst - eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, 22.000 Einwohner - spielen tatsächlich die besten Kegler der Welt. Sie empfangen Teams aus Ungarn, aus Österreich oder Italien. Und man fragt sich natürlich, erstens: wie das kam. Sowie zweitens: was das nun heißt, so etwas wie das Real Madrid, der erfolgreichste Club der Welt, zu sein. Im Kegeln.
Ein Samstag Anfang März: Heimspieltag im "Stadtwerke Kegelsportcenter". Sozusagen das Bernabéu-Stadion des Kegelsports. Der Eingang zum sanierten Flachbau versteckt sich zwischen verfallenen Baracken. Von außen nicht besonders meisterlich. Heute steht ein Bundesligaspiel gegen den SKC Kleeblatt an.
Lothar Müller, tiefe Lachfalten, randlose Brille, empfängt stolz und redselig. Sätze beendet der Mann oft mit "weeßte". Bevor er in Rente ging, leitete er hauptberuflich einen Handel für Dachdeckerbedarf. Sein Präsidentenamt ist ein ehrenamtliches. Von besagtem VIP-Raum kann man auf die Kegelbahn gucken. In der Mitte dieses Raumes befindet sich ein Stehtisch, den Müller von der Mannschaft geschenkt bekam. Sein Name prangt in goldener Schrift darauf, daneben ist sein Kopf in ein Foto des Papstes montiert. Ein Teambetreuer nennt Müller den "König aller Könige". Ein bisschen selbstironisch will man schon sein. Aber professionell eben auch.
Man merkt das zum Beispiel an der Glasfront, durch die man vom VIP-Raum aufs Spielgeschehen vorn gucken kann. Die ist von einer Seite verspiegelt, damit niemand reinschauen kann. "So kann man sich besser über wichtige Dinge unterhalten", sagt Müller bedeutungsschwanger. Er empfange hier Sponsoren und jene, die überlegten, es zu werden. Der exklusive Aufenthalt mit Schutz vor neugierigen Blicken gehört zum Deal, den Müller mit Unterstützern eingeht: Wer den Rot-Weiß Zerbst sponsert, darf die Heimspiele hinter der Glasscheibe verfolgen. An diesem Märztag ist aber keiner da. "Corona", erklärt der Präsident.
Und wie hoch ist das Jahresbudget eines Kegel-Spitzenreiters, Herr Müller? Etwa 140.000 Euro, sagt er. Im Vergleich zum Fußball ist das ein Witz. Allein der 1. FC Magdeburg, der kürzlich in die zweite Fußballbundesliga aufgestiegen ist, hat einen Jahresetat von geschätzten zwölf Millionen Euro. Im Kegelkosmos aber sind 140.000 Euro viel und schwer erkämpft, wenn man Müller glauben darf. 35 Sponsoren unterstützen den Verein, darunter viele lokale Unternehmen. Die örtlichen Stadtwerke sind der größte Geldgeber. Dahinter folgen die Sparkasse und der Lotto-Verband. Andere Clubs seien oft abhängig von einem einzigen Sponsor, sagt Müller. Ziehe der sich zurück, ende der Erfolg. Das soll ihm in Zerbst nicht passieren.
So patent er sich hier backstage präsentiert, so unspektakulär mutet die Atmosphäre an, die nebenan beim Heimspiel herrscht. Gerade einmal 50 Zuschauer sind gekommen. Ein Gartenzaun aus Holz trennt ihren Bereich von der Kegelbahn.
Während des dreistündigen, sportlich ziemlich einseitigen Spiels (Zerbst ist hochüberlegen und gewinnt) entsteht eine Geräuschkulisse, wie man sie von kaum einer anderen Sportart kennt: Gesang. Aber nicht etwa von den Zuschauern, sondern von den Spielern. Während zwei pro Team in beeindruckender Akkuratesse vor der Kegelbahn auf die Knie fallen und die Kugel mit ordentlich Spin nach vorne schicken, verwandeln sich die Mitspieler in einen Männerchor. "Was macht die Axt im Wald?", skandieren zum Beispiel die Gegner aus Berlin. Und dann: "Holz, Holz, Holz". Die Zerbster wiederum rufen: "Zippel, Zerbst". "Zippel", erklären sie einem später, stehe für Zwiebel, weil die früher reichlich in der Region angebaut wurde.