Die Krise trifft nicht alle Kinder gleich. In Bayern sehen die Lehrkräfte bei rund einem Drittel ihrer Schüler zu Beginn des Schuljahres "deutliche Lernrückstände". Betroffen sind oft Kinder mit Migrationshintergrund und aus ärmeren Familien.
Dirlene Schüssler hat eine Geheimwaffe: Im Lockdown betreute sie Kinder mit Migrationshintergrund online beim Sprachtraining - und setzte auf Handpuppen. Die Grundschüler saßen anfangs verschüchtert vor dem Computer und trauten sich kaum, etwas zu sagen. Kaum plapperte die Puppe aber drauflos, war das Eis gebrochen. "Die Kinder zu motivieren ist eine Herausforderung, wenn man nicht im gleichen Raum ist", sagt Schüssler, die an der Michael-Ende-Schule im oberbayerischen Unterschleißheim als Sprachförderin arbeitet.
Viele Lernlücken - etwa bei der SpracheFür diejenigen Kinder mit Migrationshintergrund, deren Eltern kein Deutsch sprechen, bedeuteten die Lockdowns: deutlich weniger Kontakt mit der deutschen Sprache. Das permanente "Sprachbad" in der Schule fiel weg, plötzlich gab es keine Begegnungen am Pausenhof oder Spielplatz mehr. "Für Kinder mit Migrationshintergrund ist es sehr wichtig, mit anderen Kindern zu spielen - sie lernen so viel", sagt Schüssler. Wegen der Sprachbarriere war es für Schulen oft schwer, Kontakt zu den Eltern zu halten. Förderunterricht fand nur eingeschränkt statt. Allgemein sei Sprache auf Distanz schwerer zu vermitteln, ging es doch meist mehr um schriftliche Aufgaben als um mündliche Interaktion.
Auch Kinder ohne Migrationshintergrund betroffenBis heute zeigen sich deshalb Lerndefizite - auch bei Schülern ohne Migrationsgeschichte. Außerdem seien alle Altersgruppen betroffen, besonders Erstklässler, sagt Rektorin Elke Fannasch. "Denen fehlt ja faktisch ein Kindergartenjahr." Vielen Schülern falle es auch schwer, sich zu konzentrieren, eine Aufgabe fertigzumachen oder der Lehrerin zuhören.
Die Schule fördert deshalb betroffene Kinder mal in Gruppen, mal 1:1, beim Wortschatz und Lesen, aber auch in Fächern wie Mathe. Im Rahmen eines Programms der bayerischen Staatsregierung habe man zwar einige Förderstunden bekommen, aber das reiche nicht aus. "Wir bräuchten einfach viel mehr Lehrerstunden", sagt Fannasch.
Schlechtes W-LAN, kein eigenes ZimmerAuch Schüler aus ärmeren oder sozial benachteiligten Familien tun sich nach fast zwei Jahren Coronakrise in der Schule oft schwer. An den Grundschulen im Landkreis Rottal-Inn beobachtet man allerdings schon vor der Pandemie: In die erste Klasse kommen immer mehr Kinder, die zum ersten Mal ein Buch in den Händen halten.
"Diese Lernlücken entstehen vor allem dort, wo Kinder in Armut aufwachsen, weil die Eltern Sozialleistungen beziehen oder im Niedriglohnsektor arbeiten, oder die Eltern selbst keinen Schul- oder Berufsabschluss haben", schreibt eine Sprecherin des Landratsamts. Durch den Distanzunterricht hätten sich Probleme auch deshalb verstärkt, weil es zuhause an stabilem W-LAN fehle, am eigenen Zimmer, an Computer oder Tablet. "Mit manchen Kindern habe ich nur per Handy gearbeitet - das war nicht so optimal", erzählt Sprachförderin Schüssler.
Lehrer: Schulschließungen haben soziale Ungleichheit verstärktIn Bayern schätzten die Lehrerkräfte im Mittel, dass 34 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler zu Beginn des Schuljahres "deutliche Lernrückstände" aufwiesen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage der Robert Bosch Stiftung vom September. Rund vier von fünf bayerischen Lehrkräften fanden, dass die Schulschließungen soziale Ungleichheit verstärkt haben. Besonders groß scheinen die Probleme an Schulen mit vielen armen Kindern zu sein. Dort, wo die Eltern mehrheitlich staatliche Leistungen beziehen, hinkt in Deutschland nach Ansicht der Lehrkräfte sogar jedes zweite Kind hinterher. Außerdem berichten viele von Verhaltensproblemen: weniger Konzentration, mehr Unruhe, mehr Aggressivität.
Ungleiche Startchancen - schon vor der PandemieAllerdings wirkte sich die soziale Herkunft schon vor Corona auf den Bildungserfolg aus. "Wir haben in Deutschland eine der höchsten Kopplungen weltweit mit dem Bildungshintergrund der Eltern und den Chancen, die ein Kind für eine Bildungslaufbahn hat", sagt Prof. Meike Munser-Kiefer vom Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Regensburg.
Nicht der Migrationshintergrund als solcher beeinflusse den Erfolg des Kindes, sondern der sozioökonomische Hintergrund und "Bausteine" einer Bildungsbiografie: Waren die Kinder in einer guten Kita? Gab es Familienausflüge ins Museum? Haben Mutter und Vater studiert? Dieses "Bildungskapital" helfe Kindern in der Schullaufbahn. Eigentlich sollten Schulen Ungleichheiten ausgleichen, sagt Munser-Kiefer - aber es greife der "Matthäus-Effekt": "Wer viel hat, dem wird viel gegeben." Gebildete Eltern könnten ihre Kinder meist besser unterstützen. Ohnehin verlasse sich das deutsche Schulsystem viel auf die Eltern - im Distanzunterricht noch mehr, weil sie dort regelrecht zu "Hilfslehrkräften" wurden.
Ministerium verweist auf FörderangeboteDas bayerische Kultusministerium verweist auf bestehende und neue Förderangebote. Schon vor Corona konnten etwa Klassen in Grund- und Mittelschulen mit einem Migrationsanteil von mehr als 50 Prozent geteilt werden, wenn es mehr als 25 Schüler pro Klasse gibt. Das Förderangebot "gemeinsam Brücken bauen" soll helfen, Nachteile durch die Pandemie auszugleichen. Der Freistaat stellt Schulen dabei zusätzliches Geld zur Verfügung, um etwa Zusatzpersonal für Fördergruppen zu engagieren. Gruppen können geteilt werden oder "Brückenkurse" angeboten werden. Außerdem gebe es Ferienkurse und Tutorenprogramme. Umgesetzt werde das Programm von den Schulleitungen vor Ort. Das Programm wird bis inklusive der Schuljahre 2022/23 fortgeführt.
"Ein wunderbares Modell - in der Praxis gar nicht so wunderbar"Das Förderprogramm klinge zwar exzellent, sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands. Doch an den Schulen könne es nur sehr unterschiedlich angeboten werden. Schulleiter hätten oft gemeinsam mit Schulämtern nach Personal gesucht - aber häufig keines gefunden. Oder Interessierte verloren, die vom Stundenlohn oder zu viel Bürokratie abgeschreckt waren. "Die haben dann das Vertragswerk gesehen und gesagt, nein danke. 32 Seiten, nicht mit mir, erweitertes Führungszeugnis, und, und, und."
Ohnehin herrsche bereits Lehrermangel. Auch Experten für Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache seien so rar, dass man mitunter auf weniger qualifizierte Kräfte zurückgreife. Dabei bräuchten betroffene Kinder gerade jetzt die besten Förderlehrer.
Professorin für Pädagogik: Gesamtkonzepte fehlenMunser-Kiefer findet: Ob Brückenangebote klappen, sei zu oft von einzelnen Schulen abhängig. "Ich frage mich: Brauchen wir nicht Gesamtkonzepte?" Sie hält es für wichtig, Angebote über Schulgrenzen hinweg auf die Beine zu stellen - etwa Hilfe bei den Hausaufgaben am Nachmittag oder ein Online-Förderangebot einer spezialisierten Lehrkraft. Man müsste Datenbanken mit hochwertigen Förderinhalten aufbauen. Das würde aber Geld kosten - und Personal.
Lernrückstände nur schwer aufzuholenWie sich Corona langfristig auf die Bildungsgerechtigkeit auswirkt, ist noch unklar. Defizite ließen sich nicht leicht aufholen, sagt Munser-Kiefer: Die Kinder könnten nicht einfach doppelt so viel lernen. An manchen Schulen ist man überzeugt: Die Lücken zu schließen werde etwa gleich lang dauern wie die Coronakrise selbst. An der Grundschule in Unterschleißheim will man keine Prognose abgeben. Aber: Gestresst so schnell wie möglich Defizite aufzuholen, sei jetzt nicht der richtige Weg, sagt Rektorin Fannasch. "Das Letzte, was die Kinder an der Stelle brauchen, ist Druck."
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