Rund sieben von zehn Kindern mit Migrationsgeschichte erleben im Alltag Rassismus. Experten kritisieren: Grundschulen und Kitas laufen bei der Prävention oft unterm Radar. Dabei würden genau in dem Alter Grundlagen für rassistische Vorurteile gelegt.
"Geh wieder in dein Land zurück." Das hat ein Mitschüler in der Grundschule zu ihr gesagt, erzählt Chanel - obwohl sie in Deutschland geboren ist. "Der hat mich meistens genervt wegen meiner Hautfarbe und hat mich anders behandelt als die anderen Mädchen", so die 11-Jährige in ihrem Kinderzimmer im Münchner Umland. Zum Glück sind ihre Freundinnen ihr zur Seite gestanden. Mit dem Bayerischen Rundfunk will Chanel über ihre Geschichte sprechen, um auf Rassismus aufmerksam zu machen: "Dass man auch weiß, dass es manche Kinder gibt, die darunter leiden."
Besonders betroffen: Kinder mit dunkler HautfarbeFast sieben von zehn Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte erleben Alltagsrassismus in Deutschland - und so gut wie alle mit dunkler Hautfarbe. Das ergibt eine repräsentative Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk (IZI). Häufig betroffen sind auch muslimische Kinder.
Zu Alltagsrassismus gehört etwa die ständige Frage nach der "wirklichen" Herkunft, Witze und stereotype Zuschreibungen oder das vermeintliche Kompliment: "Du sprichst aber gut Deutsch". Manchen mag das harmlos erscheinen. Suggeriert werde damit aber ständig: "Du bist anders als wir. Du gehörst nicht so recht dazu. Du bist was Exotisches", sagt die IZI-Mitarbeiterin Manda Mlapa. Das sei verletzend - gerade in einem jungen Alter, in dem Kinder dazugehören möchten.
Wenn sich der Sitznachbar rassistisch äußertDie Studie dokumentiert ein breites Spektrum an Alltagsrassismus: Kinder berichten von Beleidigungen wie "schwarze Pest" oder "braune Schokolade". Davon, dass Mitschüler sie nicht mitspielen lassen. Dass ihnen Menschen in die Haare fassen wollen oder ihren Hijab anstarren. Dass sie als hässlich bezeichnet werden oder sich andere über das Herkunftsland ihrer Eltern lustig machen. Manche erleben sogar tätliche Angriffe.
Beleidigungen kommen in den meisten Fällen von Gleichaltrigen. Aber auch Lehrer sind vor Rassismus nicht gefeit. Manda Mlapa berichtet von einem 12-Jährigen, der sich wegen der türkischen Herkunft seines Vaters immer wieder zur dortigen Kultur äußern soll - vor der ganzen Klasse. "Er freut sich über ehrliches Interesse, gerne in einem Gespräch unter vier Augen. Aber dieses vor der Klasse Besondert-Werden, das stört ihn ganz besonders." Viele Kinder haben Strategien gefunden, um mit Rassismus umzugehen - von schlagfertigen Antworten übers Ignorieren bis hin zur Solidarität unter Freunden. Aber: Viele fühlen sich mit Alltagsrassismus alleingelassen. Die Wissenschaftlerinnen fordern deshalb ein besseres Unterstützungssystem - und dringend mehr Aufklärung über Rassismus.
Kita- und Grundschulalter ist sensible PhaseErprobte Materialien und Unterrichtseinheiten zum Thema gebe es bislang aber vor allem für ältere Kinder, sagt die Studienleiterin Dr. Maya Götz - nicht für das Kita- und Grundschulalter. Allerdings sei genau das die pädagogisch sensible Phase. "Wissenschaftliche Studien können sehr genau zeigen, dass die Grundlagen von dem Wir-Gefühl, also: Wer sind wir? Und wer sind die anderen? Das wird in Kita und Grundschule gelegt." Antirassistische Bildung für Kinder müsse früh beginnen. Außerdem brauche es mehr und flächendeckende Fortbildungen für Erzieher und Lehrkräfte und erprobte Erklär-Materialien und Unterrichtseinheiten für die jeweilige Altersgruppe.
Jüngeren Kindern wird oft nicht zugetraut, Rassismus zu verstehenWarum stehen jüngere Kinder bei der Rassismusprävention nicht noch mehrim Zentrum? Viele denken fälschlich, Kleinere könnten nicht rassistisch sein und würden niemanden ausschließen. Oder trauen Jüngeren nicht zu, das komplexe Thema zu verstehen, erfährt der BR in Hintergrundgesprächen. Manche Lehrkräfte halten Sensibilisierung wegen eines geringen Migrationsanteils an der Schule nicht für nötig.
Eva Feldmann-Wojtachnia vom Centrum für angewandte Politikforschung der LMU München glaubt auch: "Dadurch, dass es so als politische Bildung ein bisschen abschreckend wirkt, glaube ich, liegt das Problem darin, dass Erzieherinnen oder Grundschullehrerinnen sich da einfach ein bisschen scheuen." Außerdem gebe es in der Ausbildung keinen Platz dafür. Das Interesse sei aber prinzipiell durchaus da: Nach einem von Feldmann-Wojtachnia mitentwickelten Modellprojekt für die Grundschule gebe es immer noch Nachfragen von Schulen.
Schule ohne Rassismus: Nur 26 reine Grundschulen dabeiRund 700 Schulen in Bayern sind Teil des Netzwerks "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage". Nur 26 davon sind reine Grundschulen. "Rassismus gilt vielen eher als Thema fürs Gymnasium, Realschule und Mittelschule", sagt Eva Riedl von der Landeskoordination Bayern. Für viele Grundschul-Pädagogen stünde Anderes im Vordergrund. "Vielleicht steht da auch so ein Beschützen-Wollen und Nicht-Konfrontieren der Kinder im Raum - dabei werden gerade ja auch PoC-Kinder schon früh mit Rassismus konfrontiert." PoC steht für People of Color. Für Kinder unter zehn Jahren gebe es deutlich weniger pädagogische Angebote, dabei sei frühe Aufklärung wichtig.
Sind Projekte nur Makulatur?Umstritten ist, wie viel "Schule ohne Rassismus" tatsächlich bewirkt. Denn es handelt sich nicht um eine Auszeichnung für viel Engagement, sondern um eine Selbstverpflichtung mit niedrigen Voraussetzungen. Für ein Feigenblatt hält Eva Riedl das Projekt trotzdem nicht. "Dafür ist es simpel gesprochen zu viel Arbeit. Man verpflichtet sich, einmal im Jahr ein Projekt zu machen, manche machen auch viel mehr, z.B. Aktionen zu Gesellschaftsthemen wie die US-amerikanische 'Black lives matter'-Bewegung."
Grundschule Roßtal: Anfangs Skepsis bei den LehrkräftenDie Grundschule Roßtal bei Nürnberg wurde Ende 2014 als eine der ersten reinen Grundschulen in Bayern "Schule ohne Rassismus" - auf Initiative der Kinder hin. Voraussetzung ist, dass mindestens 70 Prozent an der Schule einer Art Wertekodex zustimmen. "Von der Lehrerschaft haben anfangs nur wenige unterschrieben. Der Tenor war insgesamt: Das ist etwas für Größere", erzählt die Lehrerin Monika Lang. "Inzwischen steht das Kollegium aber sehr dahinter."
Selbst für Jüngere gebe es Materialien, findet Lang: etwa Bilderbücher. Außerdem könne man selbst aktiv werden. An der Grundschule Roßtal haben die Kinder Gedichte geschrieben, Musicals aufgeführt, Trickfilme umgesetzt, Bücher zu Toleranz gelesen. Oft auf eigene Initiative. "Viele Sachen kommen von den Kindern", sagt Lang. Wichtig sei ein kreativer und anschaulicher Zugang, etwa durch Basteln, Theaterspielen oder Essen.
Es braucht Zeit, um in die Tiefe zu gehenWichtig sei Spaß - aber auch Zeit, um Vertrauen aufzubauen, sagt Feldmann-Wojtachnia vom Centrum für angewandte Politikforschung. An einem einzelnen Projekttag könne man nicht ausreichend in die Tiefe gehen. Sie hat ein Modellprojekt für die Grundschule miterarbeitet. An insgesamt vier Tagen kamen diverse Teams an die Schulen. In den Workshops ging es anfangs viel um ein Thema, das mit Rassismus auf den ersten Blick nichts zu tun hat: das Selbstwertgefühl. Die Kinder bastelten etwa Knetfiguren zu ihren Stärken. Oder mussten ihren Mitschülern konkrete Komplimente machen.
Knetfiguren und Ich-Gefühl"Um die Kinder wirklich im Herzen zu erreichen, ist es wichtig, dass sie selber erst mal verstehen: Ich bin ganz wichtig, und ich habe Besonderheiten", so Feldmann-Wojtachnia. Das zu verinnerlichen, sei der Schlüssel, um Stereotype und Vorurteile aufzubrechen. Durch den Blick nach innen würden Kinder lernen, auch auf andere sehr persönlich zuzugehen: nicht in Schablonen zu denken, sondern andere individuell wahrzunehmen und zu verstehen: Wir sind alle anders - aber gleichwertig und gleichberechtigt.
Erst später beschäftigten sich Übungen direkt mit Ausgrenzung und Rassismus. Die Kinder bekamen Fotos vorgelegt und mussten sagen, was daran ihnen fremd ist: etwa eine Frau mit Kopftuch, geflüchtete Menschen, ein Punk, ein schwules Paar. Im Workshop wurde gefragt: Warum? Macht dir etwas Angst? Was ist denn normal? Woran macht man normal fest? So regt man die Kinder zum Denken an. Das Modellprojekt wurde aber wegen mangelnder Finanzierung nicht fortgeführt.
Ministerien zufrieden mit RassismuspräventionDas bayerische Kultus-, als auch das Familienministerium betonen in allgemein gehaltenen Stellungnahmen, dass Kinder durchaus in Kindergarten und Grundschule für Rassismus sensibilisiert werden. Für Kitakinder seien die Themen aber sehr abstrakt: "Einzelne, auf spezifische Themeninhalte fokussierte Projekte zu diesen Themenbereichen sind für diese Altersgruppe daher wenig geeignet", schreibt das Familienministerium auf BR-Nachfrage. Stattdessen sei Diskriminierungsschutz als Querschnittsthema "in allen pädagogischen Bereichen des Kita-Alltags" verankert.
Vom Kultusministerium heißt es, in der Grundschule kämen etwa Toleranz und respektvolles Verhalten im Heimat- und Sachunterricht und in Ethik und Religion verbindlich vor. Außerdem gebe es immer wieder Projekttage zum Thema, Demokratiepädagogik und Extremismusprävention kämen auch in der Lehrerbildung vor. Lehrkräfte verweist das Ministerium für praktische Anregungen auf www.wertebildung.bayern.de. Dort finden sich auch Ideen für kleinere Kinder, etwa für Theaterstücke oder Projektwochen.
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